Geschichte von unten Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft der Erinnerungskultur

Konstruktion und Deutung von Geschichte finden nicht nur in der Politik und in der Wissenschaft, sondern auch in der Zivilgesellschaft statt. Das Erinnern spielt dabei eine wichtige Rolle. Welche unterschiedlichen Formen es annehmen kann, zeigt Aleida Assmann an einem konkreten Beispiel.

1. Vergangenheit: Geschichte in geschichtslosem Land

Im Frühjahr 1986 veröffentlichte der Historiker Michael Stürmer in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (FAZ) einen Artikel mit dem Titel: „Geschichte im geschichtslosen Land“. Darin findet sich eine These, die ich hier zum Ausgangspunkt einer offenen Frage machen möchte: „In geschichtslosem Land“, so Stürmer, gewinnt die Zukunft, „wer die Erinnerung füllt, die Begriffe prägt und die Vergangenheit deutet.“ Stürmer ging noch selbstverständlich davon aus, dass ein Land geschichtslos sei, dessen Historiker es versäumen, dem Staat und seiner Bevölkerung ein Narrativ anzubieten. Geschichte kommt in seiner Betrachtung von oben und ist autorisiert durch die Zunft der Historiker, die für eine staatstragende Geschichtsschreibung zu sorgen haben. Diese Verantwortung hat Stürmer selbst wahrgenommen als Berater von Kanzler Helmut Kohl in den 1980er und 90er Jahren. In diesem Prozess spielt die Zivilgesellschaft keine Rolle.

Der Satz von Stürmer ist nicht nur vor der Wiedervereinigung entstanden, sondern auch vor der Entstehung des Konzepts ›Erinnerungskultur‹. Von „Orientierungslosigkeit durch Geschichtslosigkeit“ würde heute wohl niemand mehr sprechen, eher von Orientierungslosigkeit durch eine Überfrachtung mit Geschichte. Wie viele Zeitschichten sind noch nicht abgeschlossen und beschäftigen uns heute noch: Die DDR, der NS-Staat mit dem Holocaust, die Kolonialgeschichte. Die Liste wird eher länger als kürzer. Wie steht es heute um die Verantwortung für diese Geschichte?

Demokratisierung von Geschichte

Ganz offensichtlich ist neben dem Staat und der Wissenschaft noch ein dritter Player dazugekommen, von dem Michael Stürmer noch nichts wusste, und das ist die Zivilgesellschaft. Mit diesem Player hat sich das Verhältnis von Politik, Wissenschaft und Geschichte verschoben. Es ist die ›Geschichte von unten‹, die von Bürgerinnen und Bürgern ausgeht, die historische Schichten entdecken und freilegen, Spuren sichern und bearbeiten, Namen publik machen und diskutieren. Diese nicht staatstragenden, sondern selbstkritischen Suchbewegungen gingen von der Nachkriegsgeneration aus und setzten in den 1980er und 1990er Jahren ein. Mit ihnen hat sich allmählich der Terminus ›Erinnerungskultur‹ durchgesetzt, der sich inzwischen auch auf die Vermittlung dieser Geschichte in die Gesellschaft hinein und die Aneignung dieser Geschichte durch die Gesellschaft bezieht. Michael Stürmer glaubte sich noch selbst in der Verantwortung, ein nationales Narrativ für die Bevölkerung zurechtzuzimmern. Die Frage ›wem gehört die Geschichte?‹  hat sich aber inzwischen demokratisiert. Neben DDR- und NS-Geschichte treten weitere Themenkomplexe und Erfahrungslinien hervor. Dazu gehören die Kolonialgeschichte, die Migrationsgeschichte und die Geschichte des rechtsradikalen Terrors.

Stürmers Motiv war die Schaffung einer nationalen Identität durch das Angebot einer nationalen Geschichte. Neu dagegen war die Demokratisierung von Geschichte durch verantwortliche BürgerInnen, die vor Ort verdeckte Spuren der Geschichte freilegten und Archive durchforschten. Dabei kamen bevorzugt jene Themen der rezenten Geschichte zur Sprache, die dem „kommunikativen Beschweigen“ (Hermann Lübbe) der ersten vier Jahrzehnte nach Kriegsende unterlagen, allem voran die Gewaltgeschichte des NS mit der Vertreibung und Vernichtung der Juden und anderer Minderheiten. Historische Forschung vor Ort zielte nicht auf kollektiven Stolz, sondern galt einer Würdigung der vergessenen Opfer der deutschen Geschichte. In diesem Kontext kamen neue Begriffe wie ›Zeugenschaft‹ und ›Erinnerung‹  zum Tragen. Mit ihnen etablierte sich in den 1990er Jahren allmählich ein neues Feld kultureller Praxis und kulturwissenschaftlicher Forschung.

2. Gegenwart und Zukunft der Erinnerungskultur

Was mit diesen Begriffen gemeint ist, kann am besten an einem Beispiel verdeutlicht werden. Im Juli 2024 wollte sich die Landtagspräsidentin Baden-Württembergs Muhterem Aras ein genaues Bild von der (süd-)deutschen Erinnerungskultur machen. Deshalb stellte sie eine Liste mit historischen Gedenkorten in Baden-Württemberg zusammen, die sie besuchen wollte. Auf ihrer Liste stand auch der Goldbacher Stollen in Überlingen am Bodensee. Am Tag ihrer Besichtigung versammelten sich vor dem Eingang der Höhle am Ufer des Bodensees über hundert Schüler und Schülerinnen aus drei Gymnasien, die mit ihren LehrerInnen zu diesem Lokaltermin mit eingeladen waren. Es gab am Treffpunkt übrigens kein Schild und keine Tafel, die darauf aufmerksam machten, dass es sich hier um einen besonderen historischen Ort handelte. Das historische Wissen, das man an diesem Ort brauchte, war verkörpert in dem Lehrer Oswald Burger, der die Gruppe durch den Stollen führte. Er stammt aus einer Vertriebenen-Familie und wuchs nach dem Zweiten Weltkrieg am Bodensee auf. Anders als die Einheimischen hat er sich bereits als Jugendlicher für die NS-Geschichte dieses Ortes interessiert und sie zu seinem lebenslangen Forschungsthema gemacht. Diese Forschung fand aber nicht an der Universität statt, sondern im persönlichen Kontakt mit den Zwangsarbeitern als historischen Zeugen, deren Namen und Adressen er recherchierte und die er in verschiedenen Ländern Europas aufsuchte. Sie haben ihm ihre persönlichen Geschichten erzählt. Zusammen mit einem Verein von Ehrenamtlichen, den er in Überlingen gegründet hat, führt er seit Jahren regelmäßig Gruppen durch den Stollen. Dieser Zeuge der Zeugen gibt seither deren Geschichte an interessierte Besucher weiter und flicht dabei die von ihm gesammelten Namen und Einzelschicksale mit ein. Wie lange noch?

Geschichte aus unmittelbarer Nachbarschaft

Die Geschichte der ZwangsarbeiterInnen ist noch immer ein unterbelichtetes Kapitel der nationalsozialistischen Gewaltgeschichte, das es schwer hat, sich im öffentlichen Bewusstsein zu etablieren. Während es gerade noch jüdische Holocaust-Opfer gibt, die als Kinder der Vernichtung entronnen sind, ist dieses Kapitel bereits geschlossen, weil die Arbeitssklaven des NS-Regimes bei ihrem Einsatz in der Regel bereits über 17 Jahre alt waren. Ihre Frist als Zeitzeugen ist also abgelaufen. Dass wir aber überhaupt noch etwas von ihrer Geschichte aus der Innenperspektive wissen, verdanken wir Personen wie Oswald Burger, die in der Nachkriegszeit des ›Schlussstrichs‹  damit angefangen haben, ihre Erinnerungen einzusammeln. Er ist es, der heute diesen Erinnerungsschatz verkörpert und weitergibt, er ist ihr verlängertes letztes Organ.

Die Geschichte der Zwangsarbeiter ist eine west- und ost-europäische (Erinnerungs-)Geschichte.

Natürlich hat sich auch die Geschichtswissenschaft des Themas Zwangsarbeit angenommen, aber sie erzählt diese Geschichte anders; nicht in der unmittelbaren Nachbarschaft und nicht aus persönlichen Erfahrungsberichten heraus, sondern als eine Geschichte der Chronologie, der Systeme und Strukturen.

Anfang der 2000er Jahre mischte sich die jüdische Berliner Historikerin Marianne Awerbuch in die Diskussion um das anstehende Holocaust-Mahnmal in Berlin ein. Ihr Apell lautete: „Das ganze Land ist ein Mahnmal!“ Tatsächlich gab es zwischen 1936 und 1945 in Europa 24 KZ-Hauptlager und, mit diesen verbunden, über 1.000 Außenlager. Die meisten davon sind fußläufig von deutschen Städten und Dörfern zu erreichen. Ein riesiges Netz nationalsozialistischer Gewalt überzog das Land; Spuren dieser menschenverachtenden Ausbeutung für die Rüstungsproduktion sind bis heute sichtbar. Der Überlinger Stollen gehört dazu, ebenso wie sein Pendant, ein Stollen, der in der österreichischen Stadt Ebensee am Traunsee im nicht weniger idyllischen Salzkammergut in den Berg getrieben wurde. Diese west- und ost-europäische (Erinnerungs-)Geschichte hätte das Potential, innereuropäische Beziehungen zu pflegen und auf diese Weise „die Muskeln Europas zu stärken“, wie es Churchill einmal ausdrückte.

Wichtige, schmerzhafte Auseinandersetzung

Diese Geschichte wird gerade von jungen Menschen wiederentdeckt, die in ihrer Umgebung die historischen Spuren und Orte der NS-Gewaltherrschaft durch Versklavung aufspüren. Nachdem die SchülerInnen von Hersbruck erfuhren, dass unter den Tennisplätzen ihrer Stadt einst ein Appellplatz war und sich dort das größte Außenlager des KZs Flossenbürg befand, begannen sie, sich mit der Geschichte ihres Ortes zu beschäftigen. Vor zwei Monaten reiste die Klasse 10b eines Hersbrucker Gymnasiums nach Frankreich und besuchte dort SchülerInnen einer Schule, die zehn Kilometer von Oradour-Sur-Glane entfernt ist, dem Ort eines deutschen Massakers.

Ein weiteres Beispiel ist Susanne Siegert, eine junge Marketing Managerin in Dresden, die erst nach ihrer Schulzeit in Mühldorf erfuhr, dass 15 km von ihrer Schule entfernt ein Außenlager des KZs Dachau war, in dem Zwangsarbeiter für die Rüstung arbeiten mussten. Seither informiert sie Tausende von Jugendlichen in den sozialen Medien über das Leben und Leiden dieser Zwangsarbeiter. Ihr Account heißt: @keine.erinnerungskultur.

Die Landtagspräsidentin hatte bei ihrem Besuch vor allem die Schülerinnen und Schüler im Blick. In einer anschließenden Veranstaltung kamen sie zu Wort und besprachen ihr Verhältnis zu dieser deutschen Geschichte, die Teil ihrer Umgebung und doch unsichtbar geblieben ist. Sie waren sich einig: Das ist kein Wissensstoff wie jeder andere. Die Auseinandersetzung mit dieser Geschichte ist schmerzhaft und keine leichte Aufgabe. Aber sie ist unvergesslich und macht empfindlich gegen die Verachtung und Misshandlung von Menschen, die als ›Fremde‹ definiert werden.

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