Gottesdienst erinnert Ein Beitrag zur christlichen Erinnerungskultur

Christliche Gottesdienste verdanken sich einer langen Traditionsgeschichte und haben dadurch Anteil an einer komplexen Erinnerungskultur. Sie stiften und aktualisieren Erinnerung, was sich in den unterschiedlichen Schichten und Facetten des Gottesdienstes zeigt.

I. Wiederholen

Gottesdienste leben von der rituellen Wiederholung. Das gilt bereits für das je eigene Gottesdiensterleben. Wer am Gottesdienst teilnimmt, weiß in etwa, was ihn oder sie erwartet. Die einzelnen Stücke des Gottesdienstes sind nicht ganz unbekannt; auch die Reihenfolge der Texte und Lieder ist den meisten Anwesenden zumindest ansatzweise vertraut. Jeder neu erlebte Gottesdienst erinnert somit zunächst gerade aufgrund dieser rituellen Grunddimension an bisher gefeierte Gottesdienste und lässt auf diese Weise so etwas wie eine persönliche Gottesdienstgeschichte entstehen. Der in der Kindheit erlebte Kirchenraum wird zur Blaupause für das Erleben weiterer Gottesdiensträume; sowohl die Ähnlichkeit mit als auch die markante Abweichung vom bisher Erlebten prägen die je eigene, persönliche Gottesdienstgeschichte – sei es der in mancher Hinsicht ähnliche oder eben auch ganz andere Kirchenraum, das geschätzte Paul-Gerhardt-Lied oder das noch nie gehörte Lied aus dem aktuellen Kirchentagsrepertoire.

Gottesdienste sind darüber hinaus ganz grundsätzlich Teil der christlichen Erinnerungskultur. Wer Gottesdienst feiert, bedient sich der Überlieferung – biblischer Texte oder festgefügter liturgischer Stücke wie des Confiteor oder des Kyrie – sowie geistlicher Lieder aus vergangenen Jahrhunderten. Die Leihnahme von Traditionsstücken ist in vielschichtiger Weise mit Erinnerungspraxis verbunden.

Der Gottesdienst erinnert zugleich an den Glauben vergangener Epochen.

Die Verwendung tradierter Texte und Lieder erinnert zum einen an das, wovon diese handeln, etwa von der Treue Gottes zu seinem Volk oder von der Bedeutung von Leben, Tod und Auferweckung Christi. Zugleich geht die Erinnerungsfunktion solcher Texte und Lieder über diese inhaltliche Ebene hinaus. Indem im Gottesdienst Texte und Lieder vergangener Generationen gesprochen und gesungen werden, wird nicht nur an deren Gehalt erinnert, sondern auch an die religiöse Ausdruckskraft vergangener Generationen. Indem liturgische Formeln gesprochen werden, deren Ursprung in die Frühzeit der christlichen Kirche zurückreicht, und Lieder gesungen werden, deren Ausdruck etwa für das 17. Jahrhundert charakteristisch ist, erinnert der Gottesdienst zugleich an den Glauben vergangener Epochen. Durch die Anleihe am religiösen Ausdruck vergangener Generationen gewinnen Gottesdienste eine ökumenische Weite, die über die gegenwärtige Vielfalt christlicher Gemeinschaften weit hinausgeht.

II. Nachahmen

Der erinnernde Grundzug des christlichen Gottesdienstes erschöpft sich nicht im textbasierten Gedenken, sondern beinhaltet ein aktives, auf Vergegenwärtigung gerichtetes Moment. Gottesdienste laden nicht nur zum Erinnern ein, sondern fordern zum darstellenden Handeln heraus, durch das sich Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft wie Szenen überlagern. Die gottesdienstliche Feier lebt von Akten der Nachahmung, der Inszenierung heilsgeschichtlicher Erzählzusammenhänge, durch die der Blick zugleich auf den in die Zukunft gerichteten Horizont gelenkt wird.

Die Entstehung eines solchen rememorativ-mimetischen (wiedererinnernd-nachahmenden) Moments, durch das der Gottesdienst selbst als Darstellung der Heilsgeschichte verstehbar und erfahrbar wird, lässt sich insbesondere in den Liturgieerklärungen der orthodoxen Kirchen greifen. Die liturgischen Handlungssequenzen werden darin ebenso wie die einzelnen Bereiche des Kirchenraums und die Rollen der Akteure über ein komplexes Symbolsystem mit Szenen der Heilsgeschichte verknüpft.

Am Liturgiekommentar des Patriarchen Germanos aus dem 8. Jahrhundert lässt sich das veranschaulichen. Dort werden der Ablauf und die Raumsymbolik der Liturgie zu einem komplexen Symbolsystem verbunden, das auf Tod und Auferstehung Christi, aber ebenso auf die Inkarnation verweist. Wie die Antiphonen die Ankündigung der Propheten abbilden, so deutet der Einzug des Evangeliums auf die Ankunft des Gottessohnes in dieser Welt hin. Bis ins Detail hinein werden Handlungsaspekte oder verwendete Materialien symbolisch ausgelegt: Die rote Farbe der priesterlichen Gewänder verweist auf das blutgetränkte Gewand Christi; die Bänder an den Ärmelenden symbolisieren die Handfesseln Christi, das ›Epitrachelion‹, ein von orthodoxen Priestern über den Schultern getragenes breites Stoffband, versinnbildlicht die Fessel um den Hals Christi. Das komplexe Symbolsystem der Liturgie involviert die Gottesdienst Feiernden; alle haben Anteil an der Vergegenwärtigung der Heilsgeschichte. Die Liturgie wird zum heiligen Drama, mit dem sich alle in die symbolische Darstellung der Heilsgeschichte ›hineinspielen‹. Alles wird bedeutsam und lädt zur Teilhabe an der erinnernden Vergegenwärtigung ein. Dieses rememorativ-mimetische Grundmuster prägt die Göttliche Liturgie der byzantinisch-orthodoxen Kirchen bis heute.

Alle haben Anteil an der Vergegenwärtigung der Heilsgeschichte.

Im evangelischen Gottesdienst ist das Moment einer symbolischen Darstellung der Heilsgeschichte nicht in gleicher Weise leitend. Doch einzelne liturgische Sequenzen verleihen auch dem evangelischen Gottesdienst ein rememorativ-mimetisches Profil. Besonders eindrücklich kommt das in der Abendmahlsliturgie zur Geltung, vor allem in den Einsetzungsworten und den Bewegungs- und Handlungsmustern derer, die am Abendmahl teilnehmen.

Die liturgisch festgefügten Einsetzungsworte stellen die Abendmahlsfeier in den Kontext jener Tischgemeinschaft, von der die biblischen Texte als letztem Mahl Jesu mit seinen Jüngern erzählen. Charakteristisch ist dabei der Wechsel von erzählenden Sätzen („Unser Herr Jesus Christus, in der Nacht, da er verraten war, nahm er das Brot, dankte und brach’s und gab’s seinen Jüngern und sprach“) und den in direkter Rede formulierten Sätzen, bei denen im Vollzug offenbleibt, ob sie als Zitate Jesu Teil der Erzählung oder – gleichsam unmittelbar – an die konkret Anwesenden adressiert sind („Nehmt hin und esst, das ist mein Leib, der für euch gegeben wird“). Dieses zwischen Erzählung und direkter Anrede changierende Inszenierungsmoment führt zur Überlagerung und Überblendung der Szenerien. Der jeweils um den Altar gebildete Kreis der Abendmahlsgäste kann auf diese Weise durchlässig werden für die biblisch überlieferte und nun erzählend-zitierend erinnerte, performativ vergegenwärtigte Szenerie des letzten Mahls Jesu mit seinen Jüngern. Ob die Einsetzungsworte lediglich zitiert oder aber aktualisierend neu adressiert werden, bleibt dabei im Vollzug selbst schillernd. Dieses Changieren ist nicht als problematische Unschärfe, sondern als produktive Ambiguität (Mehrdeutigkeit) zu verstehen. Die Abendmahlsliturgie lädt die Anwesenden ein, sich gleichsam spielerisch auf das ›Als-ob‹ der Mahlszene um Jesus einzulassen, sich im gemeinsamen Verzehr von Brot und dem Genuss von Wein in die überlieferte Szene ›hineinzuspielen‹ – eine Szene, die sich durch die liturgischen Texte zugleich öffnet für den eschatologischen Ausblick auf die künftige, verheißene Mahlgemeinschaft. Unausgesprochen zielt die Abendmahlsliturgie auf diese im Spiel präsente, bewusst uneindeutige Identifikation mit den Jüngern (und Jüngerinnen) Jesu ab. Brot und Wein werden so zum Verbindungsglied, zu Scharnierstücken. Aufgrund ihrer Erwähnung in den biblischen Texten gelten sie als Bestandteile der erzählten Mahlszene Jesu und sind zugleich zentrale Elemente der gegenwärtigen Situation des um den Altar gebildeten Kreises von Abendmahlsgästen. Gerade in ihrer Materialität verklammern sie die Momente der Erinnerung und der Vergegenwärtigung, verbinden die imaginierte und die realisierte Szenerie der Tischgemeinschaft mit Christus.

In der Feier des Abendmahls kommt das rememorativ-anamnetische Grundmoment christlicher Gottesdienstpraxis besonders eindrücklich zur Geltung. Gerade die Verbindung von gesprochenen und gehörten Worten, von liturgischem Gesang und der körperlich-sinnlichen Beteiligung derer, die sich um den Altar versammeln, macht dies erfahrbar. Im ›heiligen‹ Spiel des Gottesdienstes konstituieren wiederholendes und nachahmendes Handeln eine Erinnerungspraxis, die weit über den Akt des Gedenkens hinausgeht.

III. Erinnern

Wer Gottesdienst feiert, ist in unterschiedliche Erinnerungspraktiken eingebunden. Im Hören, Sprechen, Singen, im Wahrnehmen von Raum und Klang, Licht und Farbe und in der Bewegung von Körpern im Raum entsteht ein komplexes Muster rememorativer Verweisungszusammenhänge. Durch diese kann die konkrete Szene vor Ort durchlässig werden; diese Überblendung von Heilsgeschichte, Überlieferungsgeschichte, Gegenwart und eschatologischer Verheißung ist Grundlage einer Erinnerungspraxis, die für die Feier des christlichen Gottesdienstes charakteristisch ist.

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