Befreiung aus dem Gefängnis des Schweigens Bibel und Bild zur Losung des 1. Dezember 2015

Meine Seele ist stille zu Gott, der mir hilft. (Psalm 62,2)

Ende Januar 1962. Ein nasskalter Wintertag in der Großstadt. Mit meinem Bruder – er ist vier Jahre älter als ich – teile ich in unserer Wohnung ein Zimmer. Am Nachmittag haben wir beide zusammen „gebüffelt“. Frank für sein Examen an einer Ingenieurschule, ich für mein Abitur. Abends holen ihn zwei Kommilitonen ab – „auf ein Bier“ in die Altstadt. Mutter ruft noch hinter ihm her: „Komm nicht so spät nachhause, Junge!“ Er winkt ihr zu, lacht nur. Und zu mir: „Tschüss, Kleiner! Bis morgen!“ Er freut sich auf den feucht-fröhlichen Abend mit den Freunden.

Unglücksnacht

In der Nacht werden wir aus dem Schlaf geklingelt. Vor der Tür stehen zwei Polizisten, sagen zu den Eltern: „Ihr Sohn Frank ist verunglückt. Im Auto gegen einen Laternenmast gefahren. Die beiden jungen Männer vorne sind nur leicht verletzt. Ihr Sohn war auf der Rückbank, wurde beim Aufprall nach draußen geschleudert, auf den Bordstein, ist am Kopf verletzt, wurde sofort operiert, liegt im Krankenhaus, intensiv, ist noch nicht bei Bewusstsein. Kommen Sie bitte mit.“ Meine große Schwester und ich bleiben zurück in der Wohnung: wie vor den Kopf geschlagen. Ratlos, hilflos, stumm, mit schlimmster Befürchtung. „Vielleicht ist es ja doch nicht so schlimm“, versuche ich zaghaft ein Gespräch. Aber meine Schwester versperrt mir die Flucht in die Hoffnung: „Wenn zwei Polizisten persönlich noch in der Nacht diese Nachricht bringen, dann ist es das Schlimmste.“

Sie spricht aus, wovor ich mich fürchte. Am frühen Morgen kommen unsere Eltern zurück. Sie haben Frank nicht mehr lebend angetroffen. Seine persönlichen Dinge und die Sachen zum Anziehen haben sie bei sich, in einer Tüte, blutverschmiert. Mein Vater wirft sie in die Mülltonne.

Mein Bruder ist nur 22 Jahre alt geworden. Unser gemeinsames Zimmer hatte ich nach seinem Tod für mich allein. Für mich kein Grund zur Freude. Ich war 18 und stand vor dem Abitur. Aber ich wusste nicht, was ich jetzt nach dem Abitur machen sollte. Ich hätte mir damals nicht vorstellen können, einmal Pfarrer zu werden. Heute, nach über einem halben Jahrhundert, weiß ich, dass ich Theologie studiert habe, um die schlimme Erfahrung vom frühen Tod meines Bruders innerlich zu verarbeiten. In meiner existenziellen Not brauchte ich dieses Studium für mich, um zu überleben. Mit der Zeit aber trug ich diese Erfahrung wie einen kostbaren Schatz in mir, und es hat lange gebraucht, bevor ich mich öffnen und mit einem Freund darüber reden konnte.

Schweigen ist etwas anderes als „stille“ sein

Natürlich wäre es für mich gut gewesen, wenn ich rechtzeitig auch eine Psychotherapie gesucht hätte. Aber das war damals nicht üblich. Schon gar nicht in einer Familie von Flüchtlingen aus dem Osten, woher wir ja kamen. Als wir miteinander hätten reden sollen, haben wir leider geschwiegen.

Beim Studium der Psalmen ist mir auch Psalm 62 begegnet, der eben so beginnt: „Meine Seele ist stille zu Gott, der mir hilft.“ Dieses Wort ist mir persönlich wie später in meinem Beruf zu einem treuen Seelsorger geworden. In Vers 9 heißt es: „Hoffet auf ihn allezeit, liebe Leute, schüttet euer Herz vor ihm aus; Gott ist unsre Zuversicht.“

Für mich ein Schatz. Wie überhaupt der ganze Psalm 62, und das in unterschiedlichen Lebenslagen. Ursprünglich – so habe ich gelernt – hat der Psalm die elende Lage von Flüchtlingen im Blick, auf der Suche nach einem Asyl.

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