Die Gabe, scheitern zu können Neue Lebensräume an unseren „toten Punkten“

Scheitern zu können, ist keine Frage individueller Souveränität, sondern erfordert kreative und kritische Überschreitungen, die eine tiefe soziale Dimension haben. Das Evangelium Jesu praktiziert diese soziale Kunst.

Am 27. Juni verlor die deutsche Fußball-Nationalmannschaft mit 2:0 gegen Südkorea und schied nach drei Spielen erstmals bereits in der Gruppenphase einer Weltmeisterschaft aus. Das frühe Ausscheiden wurde entsprechend kommentiert: „Beispielloses WM-Desaster“ (Tagesspiegel) „WM-Aus für Deutschland. Das historische Scheitern… Aus dem Aushängeschild ist eine Lachnummer geworden“ (zdf.de). Einige Spieler, z.B. Joshua Kimmich in der Süddeutschen, kommentieren das Ausscheiden später ebenso als Scheitern, das sie erst verarbeiten müssten.

Am 29.8.2018 fand dann eine DFB-Pressekonferenz des Bundestrainers und seines Teams statt. Sie diente zur Aufarbeitung. Der Bundestrainer rechnete sich in ihr die Verantwortung für das Ausscheiden selbst zu. Der wesentliche Grund für das Scheitern der Mannschaft sei seine Fehleinschätzung gewesen, mit dominantem Ballbesitzfußball erneut erfolgreich sein zu können.

1. Charakteristiken von Scheitern

In diesem Vorgang werden Charakteristiken von Scheitern sichtbar. Eine erste: Was als Scheitern gilt, steht nicht immer und überall fest. Scheitern tritt vielmehr im Rahmen von spezifischen kulturellen „Feldern“ in Erscheinung. Diese legen Erfolgserwartungen und -normen fest und schreiben den darin gegebenen Zielen soziale Bedeutung zu. Scheitern kann nun als das Andere der jeweiligen sozialen Erwartung oder Norm in Erscheinung treten und wird darin sichtbar.

Diese feldspezifische Relativität gilt nicht nur im Leistungssport mit seinen ökonomisch oder national bedeutsamen Zielen, sondern auch in Feldern wie Schule und Ausbildung, beruflicher Karriere, in der Gestaltung von Partnerschaften oder Lebensstilen insgesamt. Den bedeutsamen Zielen und Träumen tritt Scheitern immer als Verlust, Unerreichbarkeit, Ohnmacht entgegen.

Drei Momente im Prozess des Scheiterns

Eine zweite Charakteristik ist Prozessualität. Scheitern lässt sich modellhaft als ein Prozess verstehen, der drei Momente in sich enthält. Das erste Moment ist Position bzw. Ordnung. Die erwähnten kulturellen Rahmen etablieren in ihren normativen Ordnungen Positionen, in Verbindung mit den jeweiligen Zielen, die zu erreichen sind (z.B. als Trainer, Sprecher, Kapitän…). An ihnen lässt sich Erfolg bemessen (symbolisch: Siegertreppchen).

Das zweite Moment ist Negation bzw. Ordnungsverlust. Im Widerfahrnis des Scheiterns kommt es zu einer negativen Erfahrung, es geht etwas Bedeutsames, Liebens- oder Lebenswertes verloren. Mitten in einer Lebensordnung stellt sich ein Außen ein, eine Unverfügbarkeit, der nicht abgeholfen werden kann. Angestrebte Ziele können nicht erreicht, eine bedeutsame Gestalt nicht realisiert werden.

Daraus aber kann gegebenenfalls ein drittes Moment entstehen: Scheitern kann die Frage anstoßen, wie es entstand und wohin es führen kann. Unter welchen Bedingungen ist es zum Scheitern gekommen und an welchen Erfolgserwartungen wird es bemessen? Im Gegenlicht des Scheiterns treten die soziodiskursiven Ordnungen des Erfolgs hervor und die Frage kann wach werden, wie über die bisherige Lage hinausgelangt werden kann. Aus dem Ordnungsverlust entsteht so eine Suche nach Ordnungsveränderungen bzw. -umstellungen, die neu andersartige Lebensmöglichkeiten bereitstellen und von daher über das Bisherige inklusive der Verluste hinausführen.

Im Rahmen einer solchen strukturellen Analyse kommt womöglich auch die Zentralposition in den Blick. Es wird nach dem „Subjekt“ des Scheiterns und seiner Verantwortung gefragt. Womöglich wird ihm dann auch der Prozess gemacht und ihm als Schaltstelle, Knotenpunkt, Souverän des Feldes die Verantwortung zugeschrieben (vgl. Jogi Löws Bekenntnis zur eigenen Fehleinschätzung).

Individualisierung des Scheiterns

Darin zeigt sich ein drittes Charakteristikum von Scheitern, seine Individualität bzw. Individualisierung. Es kommt zu Zuschreibungen von Scheitern an Zentralpositionen, die über den Handlungsverlust Rechenschaft ablegen müssen. Dabei wird Scheitern mitunter anrüchig: Wie konnte es dazu kommen? Hätte der Protagonist es nicht besser machen können? Eventuell sind seine/ihre Kapazitäten nicht ausgeschöpft, so dass nun dem Scheitern aus eigener Kraft eine Wende zu geben ist.

Gesellschaftliche Souveränitätserwartungen lassen Scheitern zum Tabu werden.

Moderne aufklärungsgeprägte Gesellschaften unterstützen diese Individualisierung von Scheitern. Denn Menschen sind nach neuzeitlichem Verständnis Souveräne ihres eigenen Lebens, sich selbst steuernde Einheiten mit Selbstverantwortung und Selbstbestimmung. Als solche sind sie gesellschaftlich gewollt und anerkannt. ›Der Mensch‹ gilt als entsprechend vermögend: Seine Vernunft wird als „ursprünglich gesetzgebend“ angesehen und stellt ein Vermögen dar, das „keine Grenzen ihrer Entwürfe“ kennt (Immanuel Kant). Scheitern droht angesichts derartiger gesellschaftlicher Souveränitätserwartungen in den Schatten eines Tabus abzurutschen. Denn es kann zwar kulturell auftreten, aber im (anthropologischen) Prinzip ist es ausgeschlossen und muss einer ursprünglichen Handlungsfähigkeit Platz machen.

2. Entdeckungen im Scheitern

Im Scheitern stellt sich eine Auf-Gabe ein. Sie ist doppelt. Es handelt sich zum einen um eine Auf-Gabe in dem Sinne, dass etwas verloren geht, also aufgegeben werden muss. Wo etwas scheitert, ereignet sich ein unumkehrbarer Verlust, in dem das Erstrebte dauerhaft abhanden kommt; eine Todeserfahrung. Das (Lebens-)Schiff strandet nicht nur, sondern es geht unwiederbringlich ‚zu Scheiter‘ (die Erfahrung des Schiffbruchs bildet die Wurzel des Wortes „Scheitern“ im Deutschen).

Die Erfahrung des Schiffbruchs bildet die Wurzel des Wortes „Scheitern“ im Deutschen.

Dieser Verlust erzeugt eine Auf-Gabe im zweiten Sinn. Die Ohnmacht im Scheitern kann Handlungsdruck erzeugen. Es kann so nicht bleiben, auch wenn nicht gleich absehbar ist, was getan werden kann. Die Ohnmachtssituation kann eine Suche initiieren, wie anders gesprochen, gedacht, gehandelt, womöglich gelebt werden kann.

Wer ist der Träger oder die Trägerin dieser Suche und ihrer Überschreitung? Die oben skizzierte Souveränitätsanthropologie bringt die Individuen als selbststeuernde Einheiten ins Spiel. Was aber, wenn Scheitern Formen annimmt, in denen zum Unvermögen selbst nicht noch einmal ein Verhalten möglich ist; wenn Menschen an die Grenzen praktischer Vernunft geraten?

Sharing im Scheitern

Es gibt eine zweite Variante für die Wende im Scheitern. Sie läuft nicht individualisierend, sondern sozialräumlich. Sie lässt sich denken und auch an konkreten, eher marginalisierten Orten beobachten, etwa an sozialen Einrichtungen wie Bahnhofsmissionen, Orten für SeelsorgerInnen in Krisen, in gestalttherapeutischer Arbeit sowie auch kreativ in Künstlerateliers und Improvisationstheatern. Dort findet ein Sharing im Scheitern statt. Menschen tragen ihre Ohnmachtssituationen nicht nur individuell aus, sondern teilen sie. Erfahrungen des Scheiterns finden einen (fragmentarischen, nicht-kohärenten) Ausdruck, weniger in gesprochener Sprache als in Gesten, Gestaltungen, Bewegungen und allgemein im Körper.

Die Ohnmacht im Scheitern wird so geteilt. Sie lässt im Gegenlicht die herrschenden normativen Ordnungen des Erfolgs zutage treten und deckt sie wie ein Negativspiegel auf. Es ergeben sich Impulse, die Erfolgserwartungen kritisch zu sehen, und es beginnt eine Suche, sie womöglich zu überschreiten. Dabei handelt es sich nicht um einen individualisierten Prozess, sondern um ein soziales Sharing. Scheitern schreibt sich in bestehende normative Ordnungen ein und verändert sie. Sie erfahren Dis-Positionen, und es öffnet sich ein Raum, in dem Entdeckungen anders möglichen Lebens an toten Punkten des Scheiterns möglich werden und bisherige Ordnungen überschritten werden.

Scheitern können als Gabe

Im Sharing zeigt sich Wahrheit eines anders möglichen Lebens.

Diese neuartige Lebensperspektive, dieser andersartige Lebensraum ist keine Leistung von findigen Einzelnen kraft einer verbliebenen Rest-Souveränität. Es ist vielmehr etwas, das sich im Sharing des Scheiterns ergibt, entdeckt wird; die sich sozial zeigende Wahrheit eines anders möglichen Lebens. Es handelt sich um eine wechselseitige Gabe. Dem Scheitern wird in einer Struktur Raum gegeben und im Scheitern wird Raum gegeben. Es führt über eine Verlust- bzw. Ohnmachtssituation hinaus.

3. Das Evangelium Jesu als Kultur des Scheiterns

Es ist eine solche Kultur des Scheiterns, die das Evangelium Jesu favorisiert und praktiziert: das Zulassen von Ohnmacht im Scheitern und seine Wende in sozialen Raum-Gaben. Das Evangelium Jesu ist eine solche Kultur des Scheiterns.

Die biblischen Texte erzählen davon in mannigfaltigen Weisen. Individuelle Protagonisten scheitern mit bedeutsamen Anliegen (Mose, Elija, David). Ganze kollektive und politische Aktivitäten schlagen fehl (Exil). Immer wieder aber öffnen sich in diesen toten Punkten Räume, in denen bisherige soziodiskursive und soziotheologische Rahmen zur Disposition gestellt und überschritten werden. Ihre normativen Erfolgspositionen erleiden eine Negation, führen aber in kritische und kreative Entdeckungen bzw. Transgressionen.

Ein bekanntes neutestamentliches Beispiel dafür ist der Verlorene Sohn. Er landet bei den Schweinen und scheitert schändlich, sozial wie religiös. In der späteren Wiederannahme als Sohn durch den Vater wird der soziokulturell geltende Rahmen (dem gemäß er eigentlich ausgeschlossen bliebe) zur Disposition gestellt und überschritten. Der Vater erweist sich als „voll Erbarmen“ und öffnet in kritischen Dis-Positionen der Ordnung einen Raum, in dem der Sohn neu zu leben beginnen kann.

Von dort führt eine christologische Spur zu Jesus am Ostermorgen. Jesus ist am Kreuz in aller Schande gescheitert. Nun aber öffnet sich ein Lebensraum jenseits dessen, was bisher denkbar und lebbar war. Darin büßt selbst der Tod seine absolute Position ein und scheitert in seinem Zugriff auf Jesus. Die Jüngerinnen und Jünger geben diesem Unfassbaren in ihren Zeugnissen Gestalt und bezeugen darin den Gott des Lebens Jesu in den toten Punkten des Scheiterns.

Glaube an den Gott der Lebenswenden

In dieser Weise ist das Evangelium die menschliche Praxis des Glaubens an Gott, der dem Scheitern Raum gibt und der im Scheitern Raum gibt. Dieser Glaube verzahnt menschliche soziale Dis-Positionen mit dem Raum Gottes.

Es handelt sich um eine polare bzw. wechselseitige Dynamik. Auf der einen Seite steht der Glaube an Gott, der sich in Jesus als Gott des Lebens im Tod des Scheiterns ausweist. Auf der anderen Seite artikuliert sich dieser Glaube gerade dort, wo Menschen ein Sharing im Scheitern praktizieren. In sozialen Dis-Positionen entdecken sie kritisch und kreativ neue mögliche Lebensräum in und aus Scheitern. Diese Entdeckungs- und Überschreitungsvorgänge werden angeregt durch die Begegnung mit Gottes Unfassbarkeit selbst, zugleich geben sie dem Glauben an den Gott der Lebenswenden in dieser Weise Ausdruck und Gestalt. In den Raum-Gaben im Sharing des Scheiterns gewinnt der Glaube an den Gott des Lebens Jesu Gegenwart.

Gottes Gabe, scheitern zu können

Das Evangelium Jesu ist eine Kultur des Scheiterns. Es delegiert Wenden im Scheitern nicht an die Einzelnen, sondern räumt Scheitern sozial ein. Es gibt dem Scheitern Raum, damit im Scheitern neuer Lebensraum gegeben und empfangen werden kann, jenseits der bisher herrschenden normativen Erfolgsordnung. Eine Individualisierung von Scheitern und ihre Tendenz zur Tabuisierung wird darin überschritten und Impulse für eine Solidarisierung im Scheitern gegeben. Sie entfaltet gesellschaftliche Kritik, wo Lebensbrüche, Schwäche, Fragmentarität, Fehlbarkeit/Fallibilität ausgeschlossen oder marginalisiert werden.

Im Scheitern lässt sich so eine Sozialität entdecken, die voll Hoffnung ist und auf Gott als ihrer Ur-Gabe verweist. Es ist eine Gabe, scheitern zu können, d.h. es zuzulassen und zu wenden. An toten Punkten menschlichen Lebens ergibt sich ein überraschender Lebensraum Gottes.

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