Scheitert Europa? Was jetzt zu tun ist Plädoyer für eine „europäische Souveränität“

Der „gefesselte Riese“ Europa – stürzt er über die Engstirnigkeit eines populistischen Nationalismus, oder gewinnt er neue Bewegungsfreiheit durch politische Visionäre und ein breites basis-bürgerliches Engagement? Der Blick zurück schenkt Hoffnung.

Es klingt wie eine Beschreibung der Gegenwart: Die Wirtschaft schwächelt, der europäische Markt steht in scharfem Konkurrenzkampf mit den USA und Asien, der Gemeinschaftshaushalt stößt an seine Grenzen. Der Protektionismus ist auf dem Vormarsch und Großbritannien beschreitet einen Sonderweg. All diese Faktoren beschreiben das Bild der Europäischen Gemeinschaft der frühen 1970er bis Mitte der 1980er Jahre.

Damals war nicht klar, ob das europäische Einigungswerk überleben würde. Politische Machtkämpfe lähmten die Union und wirtschaftliche Fliehkräfte zerrten an ihren Grundfesten. Dennoch wurden die 1980er Jahre die vielleicht fortschrittlichste Zeit in der Geschichte der europäischen Integration.1979 wurde zum ersten Mal das Europäische Parlament direkt gewählt. 1984 stellte der französische Wirtschafts- und Finanzminister Delors  sein Binnenmarktprogramm vor. 1981 und 1986 wurden die ehemaligen Diktaturen im Süden Teil der europäischen Familie. Und 1986 wurde die sogenannte „Einheitliche Europäische Akte“ unterzeichnet, die eine neue Dynamik entfachte, die schließlich im bisher wohl entscheidendsten europäischen Vertrag, dem Vertrag von Maastricht mündete. Das Europaparlament, allen voran Altiero Spinelli, der 1986 verstorbene italienischer Vordenker der europäischen Integration,  wagte gar die Vision einer europäischen Verfassung. Europa stieg also aus Jahren der existenzbedrohenden Krise zu neuen Höhen auf. Vielmehr lieferte die Krise eine Begründung, warum es „mehr Europa“ brauchte. Mutige Europäer hatten keine Angst, eine Zukunftsvision zu beschreiben. Dies war der Schlüssel zum Erfolg.

Europa am Scheideweg

Heute stehen wir wieder an einem ähnlichen Punkt. Wir haben Jahre der Eurokrise durchlebt, politisch kommen die Mitgliedsstaaten kaum noch auf einen gemeinsamen Nenner, und gerade der Brexit führt uns in dramatischer Form vor Augen, dass die Gefahr, Europa könnte zerfallen, real ist. Europagegner haben Hochkonjunktur, sie gewinnen stetig an Zuspruch. Mit ihrer Rhetorik hetzen sie Menschen gegeneinander auf, spalten Gesellschaften und treten die Errungenschaften der Demokratie mit Füßen. Diese Kräfte, sie sind nicht in der Mehrheit, aber sie sind laut und sie dominieren zeitweise die öffentliche und politische Debatte. Vor diesem Hintergrund erscheint es heute schwierig, an eine blühende Zukunft der EU zu glauben. Das Paradoxe ist, dass die Logik der 1980er Jahre eigentlich die Logik unserer Zeit sein müsste: Auf die Probleme, vor denen wir stehen, gibt es nur eine Antwort: Ein starkes Europa! Denn was sind die wichtigsten Fragen unserer Zeit? Es sind die großen und fundamentalen Fragen. Fragen, die selbst die größten Staaten nicht alleine bewältigen können: den Klimawandel, den Kampf gegen den Terrorismus, die Vermeidung von Steuerflucht, oder die globale Migration.

Nur ein starkes Europa wird seinen Bürgerinnen und Bürgern auf mittelfristige Sicht in einer immer schneller und unübersichtlicher werdenden Welt die Freiheit, die Sicherheit und den Schutz bieten können, den sie verdienen. Nur wie schaffen wir ein wirklich starkes Europa, angesichts der politischen Realitäten auf unserem Kontinent?

Europas Mängel

Ich habe die EU in ihrer heutigen Verfassung einmal einen „gefesselten Riesen“ genannt. Dieses Bild ist nach wie vor zutreffend. Gemeinsam stellen die EU-Staaten eine Bevölkerung von einer halben Milliarde Menschen. Wir haben die höchsten Standards im Umwelt- und Verbraucherschutz und können sie verteidigen, weil wir der größte Binnenmarkt in der Welt sind. Jedes Land will auf diesen Markt und mit uns Handel treiben. Gleichzeitig haben wir eine politische Struktur, die uns oft behäbig und gar handlungsunfähig macht.

Es gibt keinen europäischen Außenminister, der Ansprechpartner für die Trumps und Xi Jinpings dieser Welt ist. Es gibt keinen Finanzminister, der dafür sorgt, dass die gesamtwirtschaftliche Lage stabil bleibt. Es gibt kein EU-Investitionsbudget. Es gibt keine EU-Regierung, die man wählen kann. Deren Parteien man bei der nächsten Wahl belohnen oder abstrafen kann, je nachdem, wie man die Regierungsleistung bewertet. Vielmehr haben wir Strukturen, die teilweise nicht funktional sind. Besonders dramatisch ist, dass die 28 Staats- und Regierungschefs in den letzten Jahren, und besonders seit der globalen Finanzkrise 2008, die funktionierenden Institutionen umgehen. Denn die Krise führte zu einem Irrglauben, dass die wichtigsten Entscheidungen nicht mehr von den traditionellen Ko-Legislatoren, dem Europäischen Parlament und den Ministerräten, sondern alleine von der Runde der 28 Staats- und Regierungschefs, dem Europäischen Rat, getroffen werden sollten. Die Argumente dafür lauteten: mehr Schnelligkeit und Effizienz.

Mutige und weitreichende Zukunftsentwürfe sind mit den aktuellen Entscheidungsverfahren unmöglich zu erreichen.

Diese von Jürgen Habermas beschriebene „Selbstermächtigung“ führt jedoch zu enormen demokratischen Problemen. In den geheimen Sitzungen des Rates, die oft tief in der Nacht stattfinden, gibt es keine demokratische Transparenz. Jeder Regierungsvertreter hat später eine eigene Version davon, wer nun erfolgreich war, oder wer das Scheitern einer Verhandlung zu verantworten hat. Zudem hält das Argument der Effizienz nicht der Realität stand. Im Europäischen Rat wird mit Einstimmigkeit entschieden. Die Lösungen, die dieses Gremium präsentiert, sind deshalb immer und nach Definition Lösungen des kleinsten gemeinsamen Nenners. Für die nachhaltige Gestaltung Europas brauchen wir aber mutige und weitreichende Zukunftsentwürfe. Diese sind mit den aktuellen Verfahren unmöglich zu erreichen.

Ineffiziente Verfahren und kleinkarierte Bevormundung

Neben der nicht ausreichenden Befähigung, große Fragen intern in einem effizienten Verfahren – und für mich bedeutet dies immer per Mehrheitsentscheidung – zu klären und diese dann nach außen mit einer Stimme zu verteidigen, hat die EU ein zweites großes Problem. Sie „mikro-reguliert“ teilweise zu viel. Dabei gibt es oft großartige Verbesserungen: Ich verweise auf die neuen Roaming-Möglichkeiten, auf die Regulierung von Chemikalien, die unsere Gesundheit überall in Europa in gleichem Maße schützen, oder auf einfache Dinge wie die europaweite Anerkennung von Dokumenten wie dem Führerschein. Leider gibt es aber auch häufig Beispiele von Regulierung, die zu weit geht. Wir alle kennen die Beispiele der Privatisierung der Wasserversorgung oder der Regulierung von Olivenölfläschchen auf den Restaurant-Tischen in Italien.

Oft kommen aus Brüssel gut gemeinte, aber in der Realität nicht praktikable Gesetze, die gegen ihre ursprüngliche Intention zu mehr Bürokratie und weniger Effizienz führen. Das nervt die Menschen und bietet Nährboden für die Erzählung der Populisten, dass da in Brüssel realitätsfremde Menschen sitzen, die ihnen ihr Leben diktieren wollen.

Die EU ist heute also ein gefesselter Riese, der die großen Dinge kaum anzupacken vermag, der aber zu viel im Kleinen wirkt. Dieses Problem gilt es zu beheben, wenn wir wollen, dass die EU ihren Auftrag und die Erwartungen ihrer Bürgerinnen und Bürger erfüllen kann: Frieden zu sichern, nach innen und nach außen, wirtschaftlichen Wohlstand zu fördern, elementare Grundrechte zu schützen und Freiheit zu garantieren. Schaffen wir dies, können wir den nächsten Schritt in Europa gehen und die EU langfristig stärken. Gelingt diese epochale Herausforderung nicht, ist die Perspektive für Europa düster.

Was zu tun ist

Entgegen der weitläufigen Meinung gibt es Hoffnung! Wir erleben gerade, wie sich ein Aufstand der Anständigen formiert. Wie in Berlin an einem Wochenende im Oktober mehr als 250.000 Menschen auf die Straßen gehen, um für ein freies und starkes Europa zu kämpfen. Der deutsch-französische Motor der europäischen Integration ist durch die Initiativen des französischen Präsidenten Macron wieder angelaufen. Und die aktuelle deutsche Bundesregierung hat an die erste Stelle ihres Koalitionsvertrages das Kapitel „Ein neuer Aufbruch für Europa“ gesetzt – dies war auch der Grund, warum ich den Mitgliedern der SPD empfohlen habe, diesen Vertrag zu unterstützen! Bei allen Zeichen der Hoffnung geht es aber nun vor allem um eines: darum anzupacken und unsere ambitionierten Vorhaben auch in die Tat umzusetzen. Es gilt zu handeln, und zwar schnell.

Sitzungssaal des Europäischen Parlaments in Brüssel (Foto: Pixabay, CC0)

Unmittelbar und so schnell wie möglich, müssen wir die konkreten Reformen, die wir im Koalitionsvertrag verankert haben, umsetzen. Hier geht es nicht um irgendwelche gesetzgeberischen Spielereien, hier geht es um Kernprojekte für die Zukunft der EU. Drei Beispiele:

Instrumente für sozialen Fortschritt und innovative Ziele

Erstens, das Eurozonenbudget: Aktuell haben wir in Europa die Situation, dass wir eine gemeinsame Währung, aber keine gemeinsame Fiskalpolitik haben. Schlimmer noch: Gerät ein Land in die Krise, kann es weder seine Währung abwerten, noch Investitionsprogramme initiieren. Fiskalpolitik in Europa heißt heute „Sparpolitik“. Dabei leuchtet es jedem ein, dass ein Land kaum aus einer wirtschaftlichen Krise kommen wird, indem es die Renten kürzt. Vielmehr brauchen wir in solchen Phasen Investitionen: in moderne Infrastruktur, in Aus- und Weiterbildung und vor allem in Innovation. Genau zu diesem Zweck drängen wir so sehr auf ein Eurozonenbudget. Wenn die Menschen sehen, dass Europa in Zeiten der Krise hilft, und nicht als Zuchtmeister auftritt, können wir viel verspieltes Vertrauen zurückgewinnen!

Zweitens: Eine europäische Arbeitslosenversicherung, als erster Schritt hin zu einem sozialen Europa. Heute haben wir verschiedenste Sozialstandards in Europa. Die einen sind sehr generös, wenn es um soziale Absicherung geht, in anderen Ländern sind die Menschen weitgehend auf sich alleine gestellt und kaum vor den großen Lebensrisiken geschützt. Gemeinsame Standards hier vermeiden zum einen eine mögliche Ausnutzung dieser Ungleichgewichte. Zum anderen bieten sie jedem Einzelnen die Sicherheit, dass egal, wo man sich gerade aufhält, Europa dafür sorgt, dass sie oder er abgesichert ist.

Drittens: Eine europäische Finanztransaktionssteuer und eine effektive Bekämpfung von Steuerflucht würden ein zentrales Problem auflösen: die Diskrepanz zwischen den Erwartungen der Bürgerinnen und Bürger und dem, was sie alltäglich in den Zeitungen lesen. Regelmäßig wird dort berichtet, wie investigative Journalisten Steuerhinterzieher in meist tropischen Regionen aufspüren. Menschen, die Millionen verdienen, trotzdem ihre Gewinne nicht versteuern und so ihre Mitmenschen betrügen. Diese schändliche Praxis ein für alle Mal effizient zu bekämpfen, dies stünde der EU gut zu Gesicht. Sie würde als Kämpferin für Gerechtigkeit wahrgenommen!

Die Vision: Vereinigte Staaten von Europa

Dies sind nur einige Beispiele, von vielen Reformen, die heute dringend nötig, und auch möglich sind, sei es in zwischenstaatlichen Absprachen, sei es als formelle „verstärkte Zusammenarbeit“ oder sei es als gemeinschaftliche Initiative. Wenn der Wille besteht, ist alles möglich! Dies macht uns in diesen Tagen Macron mehr vor als jeder andere. Als Präsident der Nation, der nationale Souveränität historisch gesehen wichtiger war als jedem anderen Land, spricht er von der Notwendigkeit einer „europäischen Souveränität“. Er spricht von dem Riesen, der seine Fesseln abwirft und endlich sein wahres Potenzial abruft! Um diese Souveränität zu schaffen, werden wir weiter gehen müssen als je zuvor! Wir werden Konventionen brechen, über den Koalitionsvertrag hinausgehen und viel Mut beweisen müssen.

Um europäische Souveränität zu schaffen, werden wir weiter gehen müssen als je zuvor.

Deshalb spreche ich von den Vereinigten Staaten von Europa, die wir mittelfristig anstreben müssen. Nicht von heute auf morgen und nicht als übers Knie gebrochenen Vertrag. Nicht als Alternative zur EU, sondern als ihre Weiterentwicklung. Aber als Langzeitvision, als Ziel. Wir brauchen eine neue Richtung, und die kann nur heißen: Mehr Europa dort, wo wir mehr Europa brauchen. Eine neue Kompetenzordnung, wo manche Entscheidungen auch an die nationale, regionale oder lokale Ebene zurückdelegiert werden. Ein Europa, in dem wir politische Debatten nicht isoliert in Brüssel und auch nicht innerhalb der Landesgrenzen, sondern kontinentalweit führen! Mit europäischen Medien, einer europäischen Öffentlichkeit und mit starken Parlamenten.

Dieses Europa muss in einem Bündnis der Liberalität und des Mutes zum Fortschritt entstehen. Mit all den Menschen, die in diesen Tagen auf die Straßen gehen und für eine freie und offene Welt demonstrieren! Ich bin fest davon überzeugt, dass wir dies schaffen können. Wie schon in den Zeiten der Eurosklerose in den 1970er und 1980er Jahren kann auch heute die Krise neue Chancen eröffnen und positive Kräfte entfesseln, die die europäische Integration langfristig beflügeln. Tun wir unser Bestes, um positiv daran mitzuwirken.

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