Albert Schweitzer wurde in den Nachkriegsjahren der Bundesrepublik als der Urwalddoktor eine Legende. Warum wurden er und sein Tropenspital Lambarene in Zentralafrika gerade für die Deutschen so wichtig?
„Am liebsten verbleibe ich in der Nacht in seiner Nähe und halte Wache bei ihm.“ So spricht „der Pelikan des Doktors“ in Lambarene über seinen Meister Albert Schweitzer. Dieser legte dem Vogel diese Worte für eine Erzählung in den Mund, also in den Schnabel. Weiter berichtet der Pelikan: „Wer auf die Veranda will, wird durch Zischen von mir gewarnt. Kehrt er sich nicht daran, bekommt er, ob weiß oder schwarz, von oben herunter einen Schnabelhieb auf den Kopf.“
Tatsächlich sorgte eine Zeitlang ein echter Pelikan in Schweitzers Tropenspital am Äquator dafür, dass der vielgeplagte „Urwalddoktor“ nachts seine Ruhe bekam. Das Fotobuch Ein Pelikan erzählt aus seinem Leben erschien 1950 und wurde, wie damals alles, was mit Albert Schweitzer zu tun hatte, ein großer Publikumserfolg.
Lichtgestalt im ethischen Notstandsgebiet
Der Doktor mit weißem Schnauzbart und Tropenhelm in Afrika, sein Spital, in dem Tiere frei umherliefen: Dieses Szenario wurde in den Nachkriegsjahren legendär. Presseartikel, Jugendbücher, Biographien und Schulbuchtexte feierten Schweitzer millionenfach in allen Farben und Tönen, vom Vademecum bis zum Bildband, von der Radiosendung bis zur Predigt. Ubiquitär war seine Maxime der „Ehrfurcht vor dem Leben“. Im Kern ging es um die nach der NS-Zeit so basale wie notwendige Erinnerung an das fünfte Gebot.
Nahezu 200 Schulen bekamen Schweitzers Namen und fast 700 Straßen. 1952 erhielt Schweitzer den Nobelpreis für Frieden, 1955 beging er in Afrika seinen 80. Geburtstag, zu dem Tausende gratulierten, darunter zahllose Kinder.
Im westfälischen Nachrodt schrieb eine Schulklasse: „Die Jugend der Heimat grüßt ihren Urwalddoktor Albert Schweitzer zum 80. Geburtstag!“, als befinde sich der Jubilar für sein Land an der Front oder in den Kolonien. Die zehn Jahre alte Elke schrieb: „Wir haben schon viele Filme von Lambarene gesehen. Es ist gut, daß es solche schrecklichen Krankheiten wie in Afrika bei uns nicht mehr gibt. Es ist sehr schön, daß Sie nicht nur den Menschen, sondern auch den Tieren helfen.“
Vor der Kulisse von Lambarene fanden die Generationen zusammen.
Dass es „bei uns“ etwas Schreckliches gegeben hat, schimmerte in vielen Zeilen durch, ohne dass bewusst wurde, worum es ging. Die junge Republik war ethisches Notstandsgebiet. Kinder wuchsen zwischen Kriegstrümmern auf, und unter dem Boden brodelten die Schuldgefühle der Erwachsenen, ihre Strafängste, ihre Wut wegen der Niederlage und ihr Groll auf die alliierten Sieger. Das Leugnen und Verdrängen von Judenverfolgung und Schoah verbrauchte Kraft, und es fehlte die Fähigkeit, die verlorenen Illusionen von „Führer“ und „Herrenvolk“ zu betrauern, wie Margarete und Alexander Mitscherlich 1967 konstatierten.
Suche nach Entlastung
Wer oder was konnte entlasten? Äußerlich half vor allem die Betriebsamkeit im Wiederaufbau. Innere, moralische Erneuerung der Gesellschaft lag an, sie sollte allerdings möglichst ohne Bezug zum Zivilisationsbruch geschehen: Eine Aporie. Reeducation stieß oft auf Abwehr, da sie an die Ursache ihrer Notwendigkeit erinnerte. Heroen des Widerstands wie Hans und Sophie Scholl beschwerten eher das Gewissen.
Heimatfilme und alliierte Kulturimporte lieferten Entertainment. Lambarene hingegen war ideal. Im Nachkriegsdschungel konnten Erwachsene, die selbst nicht zum moralischen Vorbild taugten, den Urwalddoktor aufbieten, der weder Entertainment war noch von den Alliierten verordnet. „Wenn Mutter Schweitzer vorliest, sind wir alle bessere Menschen“, warb die Zeitschrift Revue 1954 mit dem Zitat aus einem Leserbrief.
Lambarene – eine idyllische Oase mit Vaterfigur
Das Lambarene-Narrativ enthält viele und hybride semantische Schichten. Auf den ersten Blick ist eine idyllische Oase zu sehen, ein Ort fortwährenden Heilungsgeschehens. Schwarze Leidende dürfen dort unter der Obhut und Autorität eines weißen, deutschen Patriarchen genesen. Im zeitlosen Urwald nimmt er Mensch und Tier auf und rührt nie an die jüngste Vergangenheit.

Den Kindern gefielen besonders die Tiere. Antilopen, Affen, Hunde und der berühmte, mit Fischen verwöhnte „Pelikan des Doktors“, fanden als verwaiste Tierkinder in Lambarene Obdach. Kinder sogen die Bilder auf. Zweieinhalb Millionen Väter waren im Krieg gefallen, und hier beantwortete eine Vaterfigur für Waisenkinder das Bedürfnis nach Trost, das ergreifend aus Kinderbriefen spricht, die im Schweitzer-Archiv im Elsass archiviert sind.
Der Sozialpsychologe Gerhard Wilke schildert, wie Beziehungen zwischen Eltern und Kindern nach dem Krieg gekennzeichnet waren „durch Schweigen, Fantasien von mörderischen Handlungen, fehlende Beziehungen, verheimlichte Verluste und unbenannte Furcht vor realen und vertrauensvollen Kontakten“.
Wer für Lambarene spendete, leistete wie zur Sühne eine Art Wiedergutmachung.
Vor der Kulisse von Lambarene fanden die Generationen zusammen. Hinter ihr offenbart sich ein kollektiver Wunschtraum und Fantasieraum, der nicht nur Asyl für Waisen bot. Identifizieren ließ es sich mit dem benignen kolonialen Chefarzt, ebenso aber auch mit den Patienten in ihrem schuldlosen Leid, den „schwarzen Schafen“ eines guten Hirten. All das geschah in mythischer Ferne, losgelöst vom eigenen Ort. Der Name „Lambarene“, jubelte ein Hagiograph, wirke wie „eine Zauberformel“. Wer für Lambarene spendete, leistete wie zur Sühne eine Art Wiedergutmachung – allerdings nicht an jüdischen Überlebenden, sondern aus purem Großmut an „armen Afrikanern“.
Schweitzers geistiges Erbe heute
Spätestens mit der Studentenrevolte von 1968 ebbte der Schweitzer-Boom ab. Sein materielles Erbe ist zweifellos eine heute moderne Klinik, die mit der Universität Tübingen in der Malaria-Forschung kooperiert. Als geistiges Erbe wird gern die Pionierrolle gesehen, die Schweitzer an der Seite von Albert Einstein als Mahner gegen Atomwaffen hatte (siehe das „Stichwort“ in diesem Heft). Noch mehr aber weist der Appell Schweitzers, jegliches Leben als schützenswert zu begreifen, ihn als ökologischen Avantgardisten aus. Die Hingabe ans Tierwohl, einst so oft symbolisiert durch den „Pelikan des Doktors“, hat durch die grüne Bewegung dramatische Aktualität bekommen. Folgerichtig kam es zur Gründung einer „Albert-Schweitzer-Stiftung für unsere Mitwelt“, die vegane Ernährung propagiert. Ihr Ziel ist „eine Welt, in der kein Tier mehr für die Herstellung von Lebensmitteln leidet.“ Schirmherr war bis 2013 der prominente Philosoph Peter Sloterdijk.
Weit ist der Weg vom verwaisten Pelikan, den die Jugend der 1950er Jahre liebte, zur Gegenwart, in der Schweitzers Name auf den Schulen und Straßen bleibt und er im Tierschutz noch einmal neu aufgerufen wird. Und weit entfernt war die tropische Realität von der Text- und Bilderschwemme, die damals produziert wurde. Die schlichte Klinik am Fluss Ogowe in Französisch-Äquatorialafrika, im Grunde eine Ein-Mann-NGO unter Schweitzers Leitung, lebte von Spenden und von den vielen, die fast ohne Lohn neben dem alternden Meister Dienst taten.
Die vergessenen jüdischen Exilierten in Lambarene
Was bis heute so gut wie unbekannt ist: Das Spital, dessen Legende den Deutschen auch dazu diente, Judenverfolgung und Zweiten Weltkrieg zu verdrängen, wurde während des Zweiten Weltkriegs fast ausschließlich durch jüdische Exilierte unterhalten. Einer von ihnen war der ungarische Arzt Ladislas Goldschmid, der am 18. April 1933 nach Lambarene gekommen war. Im September 1933 notierte er in seinem Tagebuch, dass „neue Tiere“ angekommen waren, darunter „zwei junge Pelikane, Parzival und Lohengrin genannt, die unheimliche Mengen von Fischen vertilgen können.“ Schweitzer, der neben Bach auch Wagner verehrte, hatte den neuen Gästen ihre Namen gegeben. Parzival sollte später sein Wächter werden.
Launig verfasst, mit dem Pelikan als Ich-Erzähler, war Schweitzers beliebtes Büchlein Ein Pelikan erzählt aus seinem Leben auch mit 48 Vogel-Fotos illustriert. Auf dem Buchumschlag wird die Fotografin genannt: Anna Wildikann. Sie kam aus einer jüdischen Familie in Lettland, hatte in Heidelberg Medizin studiert und praktizierte mit wenigen Pausen von 1933 an in Lambarene, bis sie 1946 nach Israel auswanderte. Schweitzer beteiligte sie für ihren Neuanfang an den Tantiemen des Pelikan-Buchs.
Auch Schweitzers Frau Ehefrau Helene, die aus einer jüdischen Familie kam, und protestantisch getauft worden war, musste aus Europa flüchten und arbeitete ab 1941 in Lambarene. Nach dem Krieg wirkte der Arzt Richard Friedmann, der Auschwitz überlebt hatte, von 1956 bis 1962 im Spital. Zwei Ärzte, die nach ihrer Zeit in Lambarene zur Résistance gingen, waren von der Gestapo ermordet worden. Zwei Krankenschwestern wurden zu Fluchthelferinnen für jüdische Kinder in Frankreich.
Auf die Biographien von ihnen allen haben weder Albert Schweitzer noch seine Biographen jemals hingewiesen. Sie passten nicht zur Legende. Auf diese Unterlassung aufmerksam zu machen, ist eine Aufgabe der Gegenwart.
Zum Weiterlesen
Caroline Fetscher: Tröstliche Tropen. Albert Schweitzer, Lambarene und die Westdeutschen nach 1945. Gießen 2023, Psychosozial-Verlag. 2 Bände.