Viele Menschen verbinden mit dem Namen Albert Schweitzer vor allem seine Ethik der „Ehrfurcht vor dem Leben“. Doch welche Grundprinzipien stehen hinter diesem Konzept, welche Herausforderungen sind mit seiner Umsetzung verbunden und inwiefern ist Schweitzers Denken auch heute noch aktuell?
Wer kennt ihn nicht, zumindest dem Namen nach: den Urwalddoktor aus Lambarene. Am 14. Jänner 1875 kam Albert Schweitzer im elsässischen Kaysersberg zur Welt. Er zählt zu den „Megaprominenten“ (Jochen Hörisch) des 20. Jahrhunderts, in einer Liga mit Albert Einstein, Mutter Teresa oder Nelson Mandela. Der gute Mensch und Vielbegabte aus dem Elsass, der eine hoffnungsvolle Universitätskarriere gegen das Leben als Arzt im heutigen Gabun eintauschte, verkörpert im doppelten Sinne den weißen Mann: weiß gekleidet und mit weißem Tropenhelm wurde Schweitzer zur Ikone nicht nur seiner selbst, sondern auch der besten Traditionen europäischer Kultur.
Theologe, Philosoph, Musiker, Missionsarzt
Schweitzer machte nicht nur als Theologe Karriere, sondern machte sich auch als Organist, Musikwissenschaftler und Philosoph einen Namen. Zwar fand er bis heute in der akademischen Fachwelt als Philosoph nicht jene Anerkennung, die er erhoffte. Seine Ethik der Ehrfurcht vor dem Leben und ihre Formel: „Ich bin Leben, das leben will, inmitten von Leben, das leben will“ sind aber in Zeiten der Klimakrise und des Artensterbens nach wie vor populär. Schweitzer war ein Wegbereiter einer ökologischen Ethik und des Dialogs der Weltreligionen und Kulturen. Der abendländischen Philosophie wie auch dem Christentum warf er vor, im Unterschied zu anderen Kulturen die Tiere und ihr Schicksal sträflich zu vernachlässigen. So wurde Schweitzer auch zum Pionier einer Tierethik. Er promovierte über die Religionsphilosophie Kants, studierte in Paris Orgel bei Charles-Marie Vidor, machte sich einen Namen als Bach-Interpret und setzte sich auch für eine Reform im Orgelbau ein, deren Ideen und Wertschätzung historischer Orgeln bis heute nachwirken.
1905 begann er in Straßburg ein Medizinstudium und wurde 1912 als Arzt approbiert. Im selben Jahr wurde er in Straßburg zum Theologieprofessor ernannt und heiratete Helene Breslau, die Tochter eines jüdischen Historikers. Schweitzers Plan aber war es, als Missionsarzt nach Afrika zu gehen. 1913 nahm dieses Vorhaben Gestalt an. Schweitzer gründete im heutigen Gabun das Urwaldhospital Lambarene. Es blieb über Schweitzers Tod hinaus in Betrieb, genügte bald aber nicht mehr den heutigen Anforderungen. Sein Fortbestand konnte 1981 durch einen Neubau gesichert werden.
Ein evangelischer „Heiliger“
Nach wie vor gilt Schweitzer als Inbegriff der Humanität aus christlicher Nächstenliebe und aus dem Geist der Aufklärung, ein Missionar eben jener Kultur, die durch imperialistisches Machtstreben, Kolonialismus und zwei Weltkriege ihre Glaubwürdigkeit verloren hatte. Der weiße Mann als good guy erlaubte es seinen Bewunderern und Unterstützern, weiterhin an europäische Ideale zu glauben, die Schweitzer wie kein anderer verkörperte.
„Ich bin Leben, das leben will, inmitten von Leben, das leben will.“
Der liberale protestantische Theologe, dessen 1906 erschienene kritische Darstellung der Leben-Jesu-Forschung von Reimarus bis Wrede zu den modernen Klassikern der neutestamentlichen Wissenschaft zählt, avancierte zum evangelischen Heiligen – weiß gewandet wie der Papst –, der neben Dietrich Bonhoeffer und Martin Luther King verehrt wird. Für sein humanitäres Engagement und seinen Einsatz gegen Atomwaffen wurde er 1952 mit dem Friedensnobelpreis ausgezeichnet. Internationale Magazine priesen den Geehrten als „Mann des Jahrhunderts“, als „größten Christen“ oder auch als „dreizehnten Apostel“. Der ostdeutsche Theologe und Bürgerrechtler Friedrich Schorlemmer würdigte Schweitzer in seinem gleichnamigen Buch als „Genie der Menschlichkeit“ (2009), als „einen Phönix, der aus der Asche des Humanismus emporstieg: das personifizierte Gegengift zum Nihilismus und zur Gleichgültigkeit gegenüber dem Bösen, die Unverwüstlichkeit des aus christlicher Frömmigkeit gespeisten individuellen Antriebs zur Weltverbesserung“. Mehr Pathos geht nicht.
Albert Schweitzer im Spiegel der Kritik
Albert Schweitzer Superstar: längst mischen sich kritische Töne in den Chor der Bewunderer. Die Journalistin Caroline Fetscher (siehe den folgenden Beitrag in diesem Heft) nennt Schweitzer nicht ohne ironischen Unterton einen „ethischen Popstar“. Der evangelische Religionspädagoge Friedrich Schweitzer spricht vom „Supergutmenschen“ Schweitzer und fragt kritisch, wie weit dieser auch heute noch ein Vorbild sein kann, wo doch „Gutmensch“ längst zum Schimpfwort geworden ist. Nils Ole Oermann charakterisiert den Medienstar Schweitzer in seiner 2009 erschienenen Biographie als „Meister der Selbstinszenierung“, was freilich seiner grundsätzlichen Wertschätzung Schweitzers und seines Lebenswerkes keinen Abbruch tut.
Dass Schweitzer durchaus kritisch zu sehen ist, weiß die Forschung längst. In einem 2013 herausgegebenen Sammelband mit dem Titel Albert Schweitzer. Facetten einer Jahrhundertgestalt, der die Vorträge einer Ringvorlesung aus Anlass des 100-jährigen Bestehens der Klinik in Lambarene enthält, wird nicht nur das Schweitzer-Bild in den Medien, sondern auch seine Sicht auf Afrika und die Afrikaner und seine Ethik kritisch beleuchtet. Tatsächlich finden sich bei Schweitzer Äußerungen über die Überlegenheit der europäischen Kultur, die von manchen als rassistisch eingestuft werden, jedoch im Kontext ihrer Zeit zu beurteilen sind. Von dem üblichen Hochmut und Rassismus seiner Zeit hebt sich Schweitzers Sichtweise erheblich ab. Er kam nach Afrika, nicht um es auszubeuten, sondern um zu heilen und die Schuld der europäischen Völker abzutragen, die sie in der Zeit des Kolonialismus auf sich geladen haben.
Ethik der Humanität
Schweitzers Ethik versteht sich als Antwort auf die Kulturkrise der Moderne, die im Ersten Weltkrieg gipfelt, und insbesondere auf den Nihilismus eines Friedrich Nietzsche. Dessen christentumskritischer Philosophie des Willens zur Macht setzt Schweitzer eine Philosophie des Willens zum Leben entgegen, die ihrerseits vielschichtige Bezüge zur philosophischen Tradition aufweist, insbesondere zu Spinoza, Kant, Fichte, Schelling und Schopenhauer. Was Schweitzer vorschwebt, ist ein durch den Nihilismus geläuterter Rationalismus höherer Ordnung. Er will eine Synthese schaffen, in welcher der Dualismus von Erkennen und Wollen, von Erkenntnistheorie und Ethik, auch von Philosophie und Religion aufgehoben ist.
Zwischen Mystik und Rationalismus
Schweitzers Denken versteht sich als mystisch gewordener Rationalismus oder als rationalistische Mystik. Das klingt beim ersten Hören paradox, weil Mystik und Rationalismus in unversöhnlichem Gegensatz zu stehen scheinen. Schweitzer aber hält eine paradoxe Synthese von Mystik und Rationalismus für geradezu zwingend: „Das voraussetzungslose Vernunftdenken endet also in Mystik“, freilich nicht in einer passiven Versenkung und Meditation Gottes oder des Universums, sondern in einem als „weltbejahende, ethische, tätige Mystik“ bezeichneten Denken.
Ein starkes ethisches Motiv der Ehrfurcht vor dem Leben ist das Mitleid mit allem, was lebt. Gleichwohl griffe man zu kurz, wollte man Schweitzers Ethik als Mitleidsethik abtun oder biographisch lediglich als Reflex der seit frühester Jugend bei ihm vorhandenen Sensibilität für fremdes Leiden, insbesondere für das Leiden der von der Philosophie weithin übergangenen Tiere interpretieren. Grundprinzip der Ethik der Ehrfurcht vor dem Leben ist vielmehr das Prinzip einer universellen Verantwortung für das Leben, die Mitleid und Liebe einschließt, sich aber in beidem nicht erschöpft.
Herausforderungen und Relevanz
Schweitzers Ethik gerät freilich in ernste gedankliche Schwierigkeiten. So einfach das ethische Grundpostulat seiner Ethik erscheint, wonach es gut ist, Leben zu erhalten und zu fördern, und böse, Leben zu schädigen oder zu vernichten, so schwierig ist seine praktische Handhabung. Da alles Leben nur leben kann, indem fremdes Leben zerstört wird, gerät die Ehrfurcht vor dem Leben unweigerlich in einen ethischen Dauerkonflikt. Auch darf man nicht übersehen, dass Schweitzer trotz seiner Kritik an einer anthropozentrischen Verengung von Philosophie und Ethik selbst ein dezidierter Verfechter des neuzeitlichen Fortschrittsgedankens ist. Doch trotz ihrer ungelösten philosophischen wie theologischen Begründungsprobleme bleibt Albert Schweitzers Pionierleistung auf den Gebieten einer ökologischen Ethik und einer interkulturellen bzw. transkulturellen Ethik unbestritten.
Seine Ethik setzt auf eine engagierte Vernunft, bei der das Erkennen in Erleben übergeht.
Der kanadische Philosoph Charles Taylor hat in seinem Werk Quellen des Selbst (1996) grundlegende Kritik an einer Form der Vernunft geübt, die er als „desengagierte Vernunft“ bezeichnet. Die desengagierte Vernunft bricht willentlich mit der gewöhnlichen, leiblichen Erfahrung. Sie tut ihr geradezu Gewalt an, indem sie die sinnliche Welt und ihre Erscheinungen „als etwas ›Entzaubertes‹“ auffasst, „als bloßen Mechanismus, als etwas, dem alles geistige Wesen genauso abgeht wie eine expressive Dimension“. Das gesamte Denken Schweitzers, der sich als Erneuerer aufgeklärter Rationalität versteht, lässt sich als Protest gegen solche desengagierte Vernunft verstehen. Seine Ethik setzt auf eine engagierte Vernunft, bei der das Erkennen in Erleben übergeht. Darin ist sie unvermindert aktuell.