Albert Schweitzer mag als Universalgelehrter gelten: Er studierte nicht nur Theologie, Philosophie und Medizin, sondern beschäftigte sich auch mit Musik. Wie seine Studien sich wechselseitig beeinflussen, lässt sich insbesondere an seinem prominenten Bach-Buch zeigen.
In Erinnerungen Schweitzers mag es wohl um das Jahr 1885 gewesen sein, dass er als zehnjähriger Knabe auf die Orgelempore klettert und dem Fingerspiel ›verfällt‹. Im Alter von 20 Jahren ist Albert Schweitzer im Tastenspiel fortgeschritten und nimmt nun selbst auf der Orgelbank Platz: Als Ernst Münch an der Straßburger Wilhelmskirche einen Konzertchor für Bachaufführungen gründet, sieht er Albert Schweitzer als Orgelbegleitung vor. Dieser wird um die 60 Bachkantaten musizieren und später diese Erfahrung als prägend für sein Bachverständnis bezeichnen.
Obwohl Albert Schweitzer schon vor dem Studienbeginn als Organist konzertiert und die Aufnahmeprüfung am Konservatorium besteht, entscheidet er sich für das Studium in Philosophie und Theologie. Zunächst nur in den Semesterferien reist er von seinem Studienort Straßburg nach Paris, um dort bei dem berühmten Organisten Charles-Marie Widor Orgelunterricht zu nehmen. Nach Ablegung des Theologischen Examens verbringt Schweitzer – eigentlich zur Abfassung seiner philosophischen Dissertation zu Kant – ein Semester in Paris, in dem er sich jedoch ganz der Musik verschreibt und neben Orgel- auch Klavierunterricht nimmt. Während dieses Semesters kommt es zu Dialogen, in denen sich das Schüler-Lehrerverhältnis umkehrt: Schweitzer, der Schüler, führt seinen Lehrer Widor in die Liedtexte Bachs ein, welche in der französischen Ausgabe getilgt wurden. Widor ist beeindruckt von den Erläuterungen zum Wort-Ton Verhältnis und ermutigt zur Abfassung eines Bachbuches. Parallel zur Tätigkeit als Pastor, Leiter des theologischen Stifts und Dozent an der Universität Straßburg macht Schweitzer sich in den Abendstunden an sein „liebstes Kind“, die Monographie über Bach, die 1905 auf Französisch erscheint.
Neu an Schweitzers Bachverständnis ist, dass die Musik mit philosophischen Überlegungen zur Ästhetik verbunden wird. Grundidee ist – in Anlehnung an Platons Seelenlehre – die Annahme eines Urgrunds, in dem alle Künste als Entität versammelt sind. Ein Künstler sieht in seiner Seele das Gesamtkunstwerk und kanalisiert dessen Gehalt in eine Sprache der Kunst. Komponisten wie Bach gelänge es durch die Verschmelzung von Wort und Melodie nicht nur ins (oberflächige) Gefühl, sondern in die Seele vorzudringen.
Das Buch Schweitzers gilt fortan als „Bibel der Bach-Liebhaber“ und setzt durch den Einbezug von Rezeptionsästhetik neue Akzente. Zugleich zeugt es von den Vermittlungsgaben Schweitzers, der hierin zwischen Theologie, Philosophie, Musik, sowie deutscher und französischer Kultur einfühlend vermittelt.
Eine Playlist der Autorin zu „Albert Schweitzer spielt Bach“ findet sich unter folgendem Link: open.spotify.com/playlist/1LFENuozOS7BlhpgyUi8xy