Albert Schweitzer setzte mit seiner Ethik der Ehrfurcht vor dem Leben einen wichtigen Impuls, der noch heute überzeugt. Dabei sind Philosophie und Theologie, exegetische Einsichten, Kulturhermeneutik und gelebte Verantwortung eng miteinander verknüpft.
I. Kulturphilosophie: Ethik der Ehrfurcht vor dem Leben
Albert Schweitzer verstand sich selbst in erster Linie als Philosoph. Seine Kulturphilosophie, in deren Mittelpunkt die „Ethik der Ehrfurcht vor dem Leben“ steht, entwickelte er in kritischer Auseinandersetzung mit Friedrich Nietzsche (1844–1900), dessen Machtmetaphysik er zu überwinden und mit dessen Denkweise er die pessimistische Willensphilosophie Arthur Schopenhauers (1788–1860) in Lebensbejahung umzusetzen trachtete.
Von seiner auf vier Bände konzipierten Kulturphilosophie erschienen zu seinen Lebzeiten 1923 im Druck nur die beiden ersten Teile: Während Verfall und Wiederaufbau der Kultur eine Kulturkritik bietet, entwickelt Kultur und Ethik die „Ethik der Ehrfurcht vor dem Leben“. Nach Schweitzers ursprünglichem Plan sollte der dritte Teil der „Weltanschauung der Ehrfurcht vor dem Leben“ und der vierte Teil dem „Kulturstaat“ gewidmet sein. Nicht nur wegen seiner starken Beanspruchung durch das Spital in Lambarene, sondern offenbar auch aus sachlichen Gründen gelang Schweitzer keine vollständige Realisierung der letzten beiden Teile.
Harmonie des Menschen mit der Welt
Von entscheidender Bedeutung ist für Schweitzer die Frage nach der geistigen Harmonie des ethisch geprägten Menschen mit der Welt. Für deren Beantwortung setzt er sich mit dem Denken auseinander, wie es nicht allein in der Philosophie, sondern auch in den Weltreligionen und der Mystik begegnet. Wenn man auch in vielen östlichen Religionen und Kulturen auf Lebens- und Weltverneinung trifft, betrachtet Schweitzer jedoch die Lebensbejahung als der menschlichen Existenz von Natur aus zugehörig: „Wir sind nicht nur Leben, sondern Wille zum Leben. Der Trieb, unser Leben zu erleben und auszuleben, gehört zu unserem Wesen.“ Die Bejahung unseres eigenen menschlichen Lebens bildet den Ausgangspunkt dafür, dass wir uns auch der Welt bejahend zuwenden und in unserem Lebensraum wirken und ihn gestalten.
„Wir sind nicht nur Leben, sondern Wille zum Leben.“
Sein eigenes ethisches Grundprinzip der „Ehrfurcht vor dem Leben“ ist Schweitzer zufolge nichts anderes als das in die philosophische Sprache übersetzte christliche Liebesgebot. Hinzu kommt, dass es noch eine größere Reichweite besitzt, insofern es sich auf alles Lebende bezieht.
Ethische Weltanschauung ohne Entsprechung im Weltgeschehen
Das Grundproblem für eine ethische Weltanschauung besteht nach Schweitzer darin, dass das Streben des Menschen nach innerer Vervollkommnung – in Bezug etwa auf Wahrhaftigkeit, Güte sowie Friedfertigkeit – und sein Wirken in Hingabe an anderes Leben im Weltgeschehen keine Entsprechung finden. Wer nämlich das Geschehen in Natur und Geschichte hier auf unserer Erde, aber auch im Kosmos überhaupt – sofern uns das möglich ist – unvoreingenommen wahrnimmt, wird schwerlich ein das Ganze bestimmendes ethisches Wollen entdecken können.
Schweitzer zieht daraus die Konsequenz, dass der Mensch seine eigene Bestimmung nicht aus der Welterkenntnis ableiten kann. Mag sich also das Weltgeschehen als unerforschlich und schicksalhaft erweisen, von entscheidender Bedeutung ist, dass man „allein auf die der ethischen Lebensanschauung als solcher innewohnende Wahrheit vertraut“.
II. Jesusbild und Leben-Jesu-Forschung
Kommen wir zu Schweitzer als Theologen: Als Schüler des Straßburger Neutestamentlers Heinrich Julius Holtzmann (1832–1910) ist Albert Schweitzer der liberalen Bibelauslegung verpflichtet. Sein bekanntestes exegetisches Werk ist die Geschichte der Leben-Jesu-Forschung – so der Titel seit der zweiten Auflage von 1913. Dieses Buch enthält neben seiner eigenen Sicht einen glänzend geschriebenen Forschungsbericht, der sich über 150 Jahre erstreckt.
Den Ertrag der Leben-Jesu-Forschung des 18. und 19. Jahrhunderts beurteilte Schweitzer als negativ: Abgesehen von der Vielfalt der Jesusbilder, die die Leben-Jesu-Forschung hervorbrachte, ist es vor allem die Einsicht, dass der historische Jesus den religiösen Vorstellungen seiner Zeit verhaftet war und sich mit der Naherwartung des Reiches Gottes irrte, die es unmöglich macht, auf den historischen Jesus den christlichen Glauben zu gründen.
Jesus als Lebensautorität, nicht als Autorität der Erkenntnis
Das ändert aber nichts daran, dass die Leben-Jesu-Forschung als ein „Wahrhaftigkeitsweg“ zu rühmen ist, der letztlich nicht zur Auflösung der christlichen Religion, sondern zu deren tieferem Verständnis führt. Jesus kann also Schweitzer zufolge für uns keine Autorität der Erkenntnis, sehr wohl aber eine „Lebensautorität“ sein.
„Unser Verhältnis zum historischen Jesus muss zugleich ein wahrhaftiges und ein freies sein.“
Schweitzer formuliert: „Unser Verhältnis zum historischen Jesus muss zugleich ein wahrhaftiges und ein freies sein. Wir geben der Geschichte ihr Recht und machen uns von seinem Vorstellungsmaterial frei. Aber unter den dahinter stehenden gewaltigen Willen beugen wir uns und suchen ihm in unserer Zeit zu dienen, dass er in dem unsrigen zu neuem Leben und Wirken geboren werde und an unserer und der Welt Vollendung arbeite. Darin finden wir das Eins-Sein mit dem unendlichen sittlichen Weltwillen und werden Kinder des Reiches Gottes.“
III. Paulusdeutung und Schweitzers „theologisches Testament“
Schweitzers zweites exegetisches Hauptwerk ist das 1930 erschienene Buch Die Mystik des Apostels Paulus, dem bereits 1911 die Geschichte der Paulinischen Forschung vorausgegangen war. Für Schweitzers Paulusverständnis ist kennzeichnend, dass er die paulinische Theologie konsequent im Kontext der jüdischen Apokalyptik begreift.
Schweitzer bestimmt die paulinische Theologie als eschatologische, d.h. endzeitlich bestimmte Mystik. Mystik liege nämlich „überall da vor, wo ein Menschenwesen die Trennung zwischen irdisch und überirdisch, zeitlich und ewig als überwunden ansieht und sich selber, noch in dem Irdischen und Zeitlichen stehend, als zum Überirdischen und Ewigen eingegangen erlebt“. Hinzu kommt, dass Paulus die Auferstehung Jesu als Anbruch der erwarteten allgemeinen Totenauferstehung verstanden habe: „Während das Sterben und Auferstehen an Jesu schon offenbar geworden ist, geht es an den Erwählten insgeheim, aber dennoch nicht weniger wirklich vor. Weil sie der Art ihrer Leiblichkeit nach mit Jesus Christus zusammengehören, werden sie durch seinen Tod und seine Auferstehung zu Wesen, die in Sterben und Auferstehen begriffen sind, wenn auch der Schein ihrer natürlichen Existenz noch erhalten bleibt.“
Abschied vom Sühnetod-Gedanken
Das erst dreißig Jahre nach seinem Tod vollständig veröffentlichte Manuskript Reich Gottes und Christentum bezeichnete Schweitzer als „Finale zur Geschichte der Leben-Jesu-Forschung und zur Mystik des Paulus“ oder als sein „theologisches Testament“. Der erste Teil des Buches spannt bei der Darstellung der eschatologischen Erwartung den Bogen von den alttestamentlichen Propheten und dem Frühjudentum über Jesus und das Urchristentum bis hin zu Paulus. Im Wesentlichen bietet Schweitzer hier eine allgemein verständlich geschriebene zusammenhängende Wiedergabe des bereits in seinen beiden genannten exegetischen Hauptwerken Ausgeführten, erweitert um ein Kapitel über die alttestamentlich-frühjüdische Vorgeschichte der Reich-Gottes-Hoffnung. Jedoch in einem entscheidenden Punkt unterscheidet sich Schweitzer von seiner früher vertretenen Auffassung: Hatte Jesus nach der Geschichte der Leben-Jesu-Forschung seinen Tod als Sühnetod verstanden, wird dies in Reich Gottes und Christentum – m.E. zu Recht – mit der Begründung abgelehnt, dass der Sühnegedanke im Widerspruch zu Jesu „Vorstellung von dem ohne weiteres aus Gottes Barmherzigkeit kommenden Verzeihen“ stehe.
Ethische Reich-Gottes-Auffassung
In der Schlussbetrachtung des ersten Teils bringt Schweitzer sein theologisches Anliegen zum Ausdruck, wenn er sagt, dass es der Christenheit angesichts der Nichterfüllung ihrer Endzeithoffnung auferlegt ist, „den Glauben an das von selbst kommende Reich hinter sich zu lassen und sich dem des zu verwirklichenden hinzugeben“. Dieses neuzeitliche, im 19. Jahrhundert verbreitete Verständnis von Reich Gottes sieht Schweitzer vorbereitet in einem jahrhundertelangen Prozess der „Enteschatologisierung“, dessen entscheidende Entwicklungsstadien er im zweiten Teil seines Werkes schildert. Diese geschichtliche Legitimation seiner eigenen ethischen Reich-Gottes-Auffassung, die sich – ähnlich wie bei Johannes Weiß – von seiner konsequent eschatologischen Interpretation der Reich-Gottes-Botschaft Jesu klar unterscheidet, erweist sich als weithin überzeugend.
Bedürfnis nach einem wahrhaftigen Christentum
Die Herausforderung, vor die Schweitzer das Christentum gestellt sieht und auf die er mit seinem „theologischen Testament“ reagiert, ist m.E. die gleiche geblieben – nämlich, „ob es [sc. das Christentum] im Vertrauen auf die ihm innewohnende Wahrheit den Mut hat, sich, als erste Religion, die solches wagt, auf seine Anfänge und auf sein Wesen zu besinnen, oder ob es ihn nicht aufbringt. Davon wird es abhängen, ob es denkenden Menschen das sein wird, was es ihnen sein kann und sein soll, oder ob es sich ganz auf nichtdenkende einstellen will. Das Bedürfnis nach einem durchaus wahrhaftigen Christentum ist auch heute viel größer als es so manche der führenden kirchlichen Persönlichkeiten ahnen oder wahr haben wollen. Pauli Wort ›Wir vermögen nichts wider die Wahrheit, sondern nur für die Wahrheit‹ (II Kor. 13,8) gilt noch immer. Es muss der Leitstern des Christentums auf dem Wege, den es zu gehen hat, sein.“