Liebe Leserin, lieber Leser,
es war im Jahr 1964, als der damals fast neunzigjährige Albert Schweitzer sein „Wort an die Menschen“ richtete. Im Urwald auf Tonband aufgenommen und sodann auf viele Schallplatten gepresst, erklang seine Stimme bald in den Häusern und Wohnungen weltweit: „Ich rufe die Menschheit auf zur Ethik der Ehrfurcht vor dem Leben. Diese Ethik macht keinen Unterschied zwischen wertvollerem und weniger wertvollem, höherem und niederem Leben.“
Sechzig Jahre später stellen wir fest, dass auf diesem Weg, den Schweitzer gewiesen hat, noch eine gehörige Strecke vor uns liegt. Grund genug, sich im Jubiläumsjahr zum 150. Geburtstag und 60. Todestag mit dem Leben und Denken dieses so erstaunlichen Menschen, dieses Philanthropen und Denkers zu beschäftigen.
Wie hat Schweitzer philosophisch gedacht, was waren seine theologischen Überzeugungen? Worauf fußt seine Ethik der Ehrfurcht vor dem Leben? Wo stößt dieses so eingängige Grundpostulat in der Praxis an Grenzen? Die Beiträge von Werner Zager und Ulrich Körtner führen in diese Fragestellungen ein.
Einen musisch-ästhetischen Zugang zu Schweitzer eröffnet uns zum einen Konstanze Ebel, deren Cartoons die evangelischen aspekte bereits seit mehreren Ausgaben bereichern: Auf Einladung der Redaktion hat sie ausgewählte Kernaussagen des berühmten Urwaldarztes zusammengestellt und mit ihren Zeichnungen illustriert. Zum anderen widmet sich Sarah Hilmer, selbst begeisterte Hobbymusikerin, dem Bach-Verständnis Schweitzers und lädt uns über einen Spotify-Link ein, auf der Orgelbank neben dem Widor-Schüler Platz zu nehmen und den Originalklängen des Organisten zu lauschen.
Schweitzer hat seinen Einfluss auch politisch nutzen können, insbesondere, als er sich gegen die atomare Bewaffnung einsetzte. Dass sein Einfluss und seine Stilisierung zum ›guten Deutschen‹ gerade in der Nachkriegszeit auch problematische Züge annehmen konnte, darüber informiert kenntnisreich Caroline Fetscher.
Die Ethik der Ehrfurcht vor dem Leben gilt als gut: „Leben erhalten, Leben fördern, entwickelbares Leben auf seinen höchsten Wert bringen“. Dagegen wird in der Debatte um die Sterbehilfe, zu der sich Hendrik Meyer-Magister äußert, darum gerungen, unter welchen Umständen das Beenden von Leben ethisch vertretbar sein kann. Doch nicht nur die Ehrfurcht vor dem Leben mutet uns einiges zu: Mit den Zumutungen des christlichen Glaubens, der keine „weichgespülte Wohlfühlbotschaft“ sein will, konfrontiert uns Bertram Salzmann.
Die Beiträge zu Albert Schweitzer zeigen, dass sein Denken und Wirken auch heute noch fasziniert und inspiriert. Sie regen zum Weiterdenken an und zu der Frage, wo wir selbst etwas zum Gelingen und zur Förderung des Lebens beitragen können. Die immense Lebensleistung Schweitzers kann einen manchmal mutlos machen angesichts des Zustands der Welt und der eigenen, oft bescheidenen Bemühungen. Doch Schweitzer ermutigt die Menschen: Ist er doch davon überzeugt, dass jeder Mensch ein eigenes Lambaréné finden kann, wo er oder sie die Welt ein Stück besser machen kann.
Wir wünschen Ihnen eine gute Lektüre!
Raphael Zager