„Das ist ein bisschen kompliziert“ Als Palästinenser mit israelischem Pass in Deutschland

Raed Aboful kam als Student aus Israel nach Deutschland und wohnt heute mit seiner Familie in Stuttgart. Stephan Mühlich spricht mit ihm über das deutsch-israelische Verhältnis aus palästinensischer Sicht.

Wie hat ein palästinensischer Schüler in Israel die deutsch-jüdische Geschichte und die Entwicklung der deutsch-israelischen Beziehungen nach 1945 kennen gelernt?

Ich bin 1976 geboren und habe israelische Schulen besucht mit dem israelischen Schulsystem. Und der Staat Israel hat auch bestimmt, welches Schulmaterial wir bekommen. Wir hatten Geschichtsunterricht und dabei hat man sich mehr oder weniger auf den Zweiten Weltkrieg konzentriert. Wir haben die Geschichte gelernt – sogar auswendig gelernt – und haben auch in der Abiturprüfung Fragen zum Zweiten Weltkrieg gestellt bekommen.

Es ist eine selbstverständliche Sache, dass ein Staat seine Geschichte, seine Vorgeschichte, sein Leid weiter in Erinnerung behalten möchte und es aus diesem Grund auch an seine Bevölkerung und seine Bewohner weitergibt und unterrichtet. Aber für mich war das damals nur eine Geschichte im Unterricht – 45 Minuten und danach war es fertig. Erst später, als ich nach Deutschland gekommen bin und mit Deutschen gewohnt und geredet habe, da kamen diese Seiten wieder, die ich in der Schule gelernt hatte, sie wurden wach – sozusagen.

Die Geschichte hat dadurch noch einmal eine andere Bedeutung bekommen?

Man hat die Deutschen kennen gelernt. Man hat auch gesagt: „Ich komme aus Israel.“ Und irgendwie wurde man dann immer angesprochen. Da wusste ich: ›OK, was ich damals gelernt habe, konnte ich jetzt gebrauchen‹. Aber für meine Mitschüler ist das anders. Wenn ich jetzt mit ihnen diskutiere, stelle ich leider fest, dass sie nicht genügend informiert sind über das Leid, das die Juden im Zweiten Weltkrieg erlebt haben.

Neben der staatlichen Diplomatie sind es immer auch Gruppen und Einzelpersonen, die zur Verständigung und zur Versöhnung beitragen. Wenn z.B. junge Freiwillige von Aktion Sühnezeichen in Israel alte Menschen aus Familien von Holocaustüberlebenden pflegen, verändert das auch das Verständnis der Geschichte und die Beziehung zwischen den Völkern. Gab es da als Jugendlicher in Israel Kontakte zu solchen Leuten?

Ich hatte damals keinen Kontakt zu jungen Deutschen. Aber ich erinnere mich an das erste Geschenk, das ich als Kind von einem Fremden bekommen habe. Es war von einem jüdischen Mitbürger. Er hieß Jehuda. Er stammte aus Polen und hat den Holocaust überlebt. Damals wusste ich gar nicht, was das bedeutet. Ich habe diese Zahlen auf seinem Arm gesehen, aber das hat mir gar nichts bedeutet. Wir haben nie darüber geredet. Zweimal im Jahr haben wir uns besucht. Er war ein Freund meines Vaters.

Irgendwann, als ich zum Studium nach Deutschland ging und drei Jahre später wieder zu meiner Familie zu Besuch kam, sagte mein Vater: „Denk daran Jehuda zu besuchen“. Ich bin dann nach Tel Aviv gefahren und er hat mich damit überrascht, dass er auf Deutsch mit mir gesprochen hat, fließend und akzentfrei, Deutsch war ja seine Muttersprache. Wir haben geredet und dabei habe ich die Zahlen auf seiner Hand gesehen. Jetzt wusste ich was das bedeutet. Ich habe es nicht angesprochen, aber ich wusste, was es bedeutet, und habe ihn wahrgenommen. Ich habe seine Geschichte wahrgenommen, weil ich in Deutschland gewesen war.

Seit ich ein Kind war, hatte ich ihn nie als Jude betrachtet. Jetzt konnte ich dieses Leid verstehen. Wenn ich ihn jetzt sah, fragte ich mich immer: ›Wo warst du? Warst du auch in diesem Zug? Warst du auch so abgemagert?‹ Und ich hatte Mitleid. Wir haben nicht darüber gesprochen. Er hat es nicht erwähnt und ich wollte nicht, dass er es noch einmal erleben muss, wenn ich ihn daran erinnere.

Wenn man so jemand kennen lernt, dann nimmt man auch die Geschichte wahr. Das gilt auch ganz allgemein: Um die Vorgeschichte eines Volkes zu verstehen, muss man mit dem Volk darüber sprechen und nicht nur in der Schule die Geschichte lesen. Es geht dabei nicht nur um den Holocaust, sondern auch um andere Sachen: zum Beispiel die Geschichte der Türken, die Geschichte der Amerikaner in Vietnam und so weiter.

Und wie ist es jetzt hier in Deutschland? Wie lebt es sich heute als Palästinenser aus Israel-Palästina hier in Stuttgart?

Das ist ein bisschen kompliziert. Man ist Palästinenser. Ich bin kein Jude und kein Israeli. Ich bin zwar in Israel geboren und aufgewachsen, aber ich bin Palästinenser. Da hat man schon zwei Sachen mitbekommen. Dann kam in Deutschland beim Studium das Ökumenische Zentrum und seine Hochschulseelsorger und schließlich meine Frau, die aus Ungarn kommt und aus einer richtig katholischen Familie stammt. Und bei unserer kleinen Tochter fragen wir uns jetzt: „Wo sollen wir anfangen?“ Da ist die ungarische Revolution, der Zweite Weltkrieg oder das Leid in Israel-Palästina – Leid auf beiden Seiten.

Es ist interessant und wird nicht langweilig, aber wenn man nicht aufpasst, wird es kompliziert, weil man viele Geschichten mitschleppt. Und man befindet sich in Verbindung mit allen Geschichten. Ich interessiere mich für diese Sachen und es macht mir Spaß darüber zu reden, Bücher zu lesen und mich weiter zu informieren. Nicht nur die Geschichten im Fernsehen zu sehen, sondern einfach selbst zu lesen, um mir ein eigenes Bild zu erstellen.

Gibt es manchmal Schwierigkeiten?

Genau das Gegenteil: Als Israeli hat man zum Beispiel bei der Verlängerung des Visums mit der Zeit gemerkt, dass man dabei nie Probleme hatte, sondern mit einem israelischen Pass eher extra weich behandelt wird. Man bekommt die Dinge hier in Deutschland also bei den Behörden meistens einfacher und schneller geklärt, wenn man sagt: „Ich bin Israeli“. Gegenüber den anderen aus Ägypten, aus Afrika, ist das für mich diskriminierend. Aber es gibt die Geschichte und dieses Schuldgefühl, die man als Deutscher wohl immer noch mit sich trägt. Und wenn ein Israeli vor einem steht, passt man extrem auf, als würde man zehn Eier in der Hand halten – dass ja keines runterfällt.

Man sucht sich seine Herkunft und seinen Geburtsort ja nicht selbst aus. Aber man könnte vielleicht fast sagen, dass ein Palästinenser mit israelischem Pass das Glück hat, von den zugegebenermaßen nicht ganz unkomplizierten diplomatischen Beziehungen zwischen Deutschland und Israel zu profitieren.

Als ich damals im Studentenwohnheim gewohnt habe, hat man das Zimmer nach drei Jahren nicht mehr verlängert, und so musste ich eine Wohnung suchen. Es war nach den Anschlägen vom 11. September. Ich habe mich oft beworben und habe immer gesagt: „Ich bin Palästinenser“ – und habe immer eine Absage bekommen, weil man damals Angst hatte vor Muslimen oder Palästinensern.

Schließlich hat meine damalige Freundin, die heute meine Frau ist, gesagt: „Sag doch, du bist Israeli – du bist doch Israeli. Lass mal deinen Stolz beiseite, vielleicht bekommst du dann eine Wohnung.“ Und tatsächlich habe ich das gemacht. Ich war bei einer Dame, die mir sagte, sie würde sich melden, und mich noch fragte, wo ich herkomme. Da habe ich ihr meinen Pass gezeigt, damit sie es mir glaubt, und gesagt: „Ich komme aus Israel“. Und einen Tag später hat sie mich angerufen und mir gesagt: „Herr Aboful, wissen Sie, ganz gerne würde ich Sie nehmen, aber mein Nachbar ist Palästinenser und ich habe Angst“. Da habe ich nicht nur profitiert – denn am Ende haben wir die Wohnung bekommen –, sondern es gab auch noch eine lustige Geschichte.

Wenn ich an engagierte Christen hier in Deutschland denke, dann gibt es da auch eine doppelte Solidarität, die es manchmal schwierig macht: Einerseits die Verbundenheit mit dem jüdischen Volk, die durch den christlich-jüdischen Dialog auch auf den Evangelischen Kirchentagen zu einer verlässlichen Vertrauensbasis im deutsch-israelischen Verhältnis beigetragen hat; und auf der anderen Seite die Solidarität mit den Opfern von Krieg und Gewalt in Palästina. Dadurch sitzen Christen in Deutschland manchmal auch zwischen den Stühlen. Gibt es da eine „diplomatische Lösung“?

Für Israelis und Palästinenser?

Und für die Deutschen – für diese Situation, dass man mit beiden verbunden ist, und dass es eben kompliziert ist, wenn man sich interessiert.

Ich denke, hier könnten die Deutschen ihre Vorgeschichte oder die Geschichte des Zweiten Weltkriegs nehmen und sagen: „Wir haben Leid verursacht – als Deutsche – unsere Vorfahren. Und wir haben daraus gelernt. Das wird weiter unterrichtet. Wir haben das nicht vergessen und wir entschuldigen uns immer noch dafür. Aber wir nehmen diese Geschichte als Grund, um euch zu zeigen: Das was euch passiert ist, darf auf der anderen Seite auch nicht passieren.“ Also das, was die israelische Armee im Gazastreifen macht, darf man nicht vergleichen mit dem Zweiten Weltkrieg, oder damit, was die Juden damals gelitten haben. Aber dass man diesen Punkt nimmt und sagt: „Wir haben einen Fehler gemacht. Und wir waren fest davon überzeugt damals, dass es kein Fehler war. Und ihr habt gelitten, und ihr seid fest davon überzeugt, dass das, was ihr jetzt momentan macht, auch kein Fehler ist. Also lasst uns diese Geschichte als Beispiel nehmen, um heute eine Lösung zu finden. Ihr habt gesehen: Gewalt bringt keine Lösung, sondern bringt Leid.“

Ich schlage auch vor, dass Schüler und dass Deutsche sich engagieren, zusammen mit jüdischen Schülern dorthin zu gehen, in den Gazastreifen, um sich das anzusehen. Denn das sind auch die zukünftigen Soldaten. Und so können sie lernen: Wir verursachen Leid und das wollen wir nicht. Es ist klar, du kannst dein Land schützen. Aber du kannst auch Leid verhindern. Und wenn du das vorher gesehen hast, bevor du in die Armee kommst, wenn du einfach Ramallah besuchst und siehst, wie sehr die Leute darunter leiden, kannst du nachher besser handeln in Zukunft.

Ich bin der Meinung, dass Leid Gewalt bringt, wenn die Leute keine Perspektive haben in Ramallah und Jenin, oder im Gazastreifen. Wenn sie massiv ständig leiden und leiden, dann verursacht das Gewalt. Wenn man keine Perspektive hat, dann sind die Gegner die Bösen.

Noch ein Frage zum Schluss. Wie können junge Menschen in Deutschland heute einen Beitrag leisten zu einer demokratischen Gesellschaft, die offen ist für Menschen unterschiedlicher Herkunft und Religion?

Ganz einfach. Lesen! Lesen. Wenn ich hier etwas höre über die Muslime oder über die Jessiden, über die Christen oder die Juden und ich keine Ahnung habe. Bevor ich diese verurteile oder meine Meinung vertrete, würde ich sagen: Um ein faires Urteil und eine faire Entscheidung abgeben zu können, ob zum Beispiel Muslime hier willkommen sind oder nicht, sollte ich mich lieber vorher informieren über den Islam, wie auch über das Judentum.

Ich bin der Meinung, wenn man Bücher liest über andere Kulturen und wenn man die Vorgeschichte seiner Mitbürger kennenlernt, dann kann man sie besser verstehen. Ich habe auch die Geschichte der Deutschen hier in Deutschland gelernt, auch gelesen und mich informiert. So konnte ich die Deutschen besser verstehen und mich auch besser integrieren. Das gleiche gilt auch für die Juden. Das sollten immer beide Seiten tun, um sich gegenseitig besser zu verstehen.

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