Vom Recht, anders zu werden Erfahrungen eines Deutschen in Israel

Als Deutscher willkommen in Israel – nach allem, was in der Schoah passiert ist, kommt einem das wie ein Wunder vor. Es ist aber auch das Ergebnis eines nach und nach gewachsenen Vertrauensverhältnisses zwischen Israeli und Deutschen seit der Aufnahme diplomatischer Beziehungen vor fünfzig Jahren. Rainer Stuhlmann zeigt, wie erst unzählige persönliche Kontakte diesen Beziehungen Leben eingehaucht haben.

Ich war 1962 als Siebzehnjähriger das erste Mal in Israel. Eine Erfahrung hat sich mir dabei besonders eingebrannt. Es war schon dunkel, als ich, mit meinen Eltern im munteren Gespräch, ein Bad im Meer nahm. Neben uns ein Israeli mit seinem Sohn. Als wir aus dem Wasser kamen, sprach er uns auf Englisch an: „Kommen Sie aus Elberfeld?“. Verblüfft fragten wir zurück: „Woher wissen Sie das?“. „Das habe ich gehört.“ – Man musste sich schon gut auskennen mit der deutschen Sprache, um uns so treffsicher zu lokalisieren. Und das im fernen Israel.

Und dann erzählte er uns auf Englisch, dass auch er in Elberfeld geboren wurde und Deutsch seine Muttersprache ist. Mit acht Jahren wurde er aus dem Land gebracht, während seine ganze Familie in den Lagern ermordet wurde. „Sie werden verstehen, dass ich nie wieder ein deutsches Wort sprechen werde“, beendete er diese kurze, aber eindrückliche Begegnung. Sie hat meine Befangenheit verstärkt, die ich auch später nie wirklich verloren habe.

Ein „weltmeisterliches“ Verhältnis

Umso mehr hat mich überrascht und berührt, dass ich in den letzten dreieinhalb Jahren, seit ich in Israel lebe, keinem einzigen Vorbehalt gegenüber Deutschen mehr begegnet bin. Wo immer ich mich als Deutscher zu erkennen gebe, werde ich aufs Herzlichste willkommen geheißen.

Dass das gesamte Land einen Sommer lang in einem Fahnenmeer aus Schwarz-Rot-Gold ertrinkt, war 2014 wahrscheinlich die Erfahrung in vielen Ländern, die bei der Fußballweltmeisterschaft nicht mit einer eigenen Mannschaft vertreten waren. In Israel erscheint es mir siebzig Jahre nach der Schoah dennoch wie ein Wunder. Warum sind wir Deutsche so beliebt? Da fallen nicht nur Namen wie Neuer oder Lahm, nicht nur BMW und Mercedes, nicht nur Angela, der Engel, nicht nur die üblichen deutschen Exportartikel.

„Warum sind wir Deutsche so beliebt?“ – Die Antwort eines jungen Israeli bringt es ohne Zögern auf den Punkt: „Ich glaube, die ganze Welt hasst uns, nur die Amerikaner und die Deutschen nicht.“ Auch wenn ich dieser Antwort mit einer gehörigen Portion Skepsis begegne, ich höre sie in diversen Variationen wie einen cantus firmus, selbst wenn ich die Frage gar nicht gestellt habe. Ich stoße auf ein völlig unerwartetes Vertrauen in das „neue“ Deutschland. Für mich ist das zumindest auch Frucht bilateraler Bemühungen, die seit fünfzig Jahren durch die wechselseitigen diplomatischen Beziehungen zwischen Israel und Deutschland ermöglicht wurden.

„Opa, wie war es, als du Soldat warst?“

Ich wurde eingeladen, einer Gruppe von über achtzig jüdischen Israeli Rede und Antwort zu stehen, die sich in ihrer Schule auf eine Woche Kursfahrt vorbereiteten zum Besuch der Vernichtungslager in Polen. Selten habe ich erlebt, dass eine so große Gruppe Halbwüchsiger so aufmerksam, ja geradezu andächtig zuhört. Sie wollten wissen, was, wo und von wem ich als Deutscher über die Schoah gelernt habe und ob und wie ich mit meinen Kindern darüber gesprochen habe. Erst ihr ungläubiges Nachfragen machte mir bewusst, wie ungewöhnlich es für die Ohren von Israeli ist, dass ein Sechzehnjähriger sich seiner deutschen Nationalflagge schämt, die Nationalhymne nicht mitsingt, ja nicht einmal dabei aufsteht. Der Eichmann-Prozess in Jerusalem und der erste Auschwitz-Prozess in Frankfurt hatten mir die Augen geöffnet. Ich erinnere mich gut an die Debatte um die Aufhebung der Verjährungsfrist und wie endlich kurz nach meinem Abitur der Bundestag die diplomatischen Beziehungen zu Israel beschlossen hat.

Ich erzähle den jungen Israeli von der Sprachlosigkeit meiner Eltern, die einige von ihren Großeltern kennen, die die Schoah überlebt haben. Denn nicht nur in der Täter-, sondern auch in der Opfergeneration haben erst die Enkel die Zungen ihrer Großeltern gelöst. Ich erzähle, dass ich aus dem Mund meines Vaters seine Geschichte als deutscher Soldat zum ersten Mal gehört habe, als unser Sohn ihn im Grundschulalter kindlich ungeniert nach seinen Erfahrungen im Zweiten Weltkrieg fragte. Es hat mich berührt, wie er sich jahrzehntelang mit seinen Gewissensbissen quälte, dass er an den Überfällen Deutschlands auf seine friedlichen Nachbarn beteiligt war, obwohl er dachte, als Soldat sein Vaterland verteidigen zu müssen. Er war siebzehn bei Kriegsbeginn und gefährlich unpolitisch. Ich fühlte mich als Deutscher vor diesen jüdischen Jugendlichen keine Sekunde auf der Anklagebank, sondern im Zeugenstand.

Deutsche Freiwillige in Israel – aus Verantwortungsbewusstsein

Ich arbeite seit Sommer 2011 als Studienleiter in dem internationalen ökumenischen Dorf „Nes Ammim“, das 1963 im Nordwesten Israels zwischen Akko und Naharia gegründet wurde. Die jungen Freiwilligen kommen aus vielen europäischen Staaten. Aber nur aus Deutschland kommen Freiwillige, die schon vorher mit Schule, Orchester oder Sportverein in Israel waren oder Gastgeber gleichaltriger Israeli in Deutschland waren. Sie haben den anderen viel voraus.

Die Zahl der deutschen Freiwilligen in Israel ist größer als die aller anderen Nationen zusammen.

Die Deutschen sind in der Regel gut informiert über die Geschichte europäischer Juden und die Entstehung des Staates Israel. Meist sind sie neugierig und wenig festgelegt für oder gegen Palästinenser. Die Palästina-Lobby mit klarem Israelfeindbild beherrscht anders als in anderen europäischen Ländern in Deutschland eben nicht die gesamte Abiturienten- und Studenten-Szene. Es gibt die besser Informierten, die sich im Land ihr eigenes Bild machen wollen. Eine Frucht der vielfältigen Beziehungen, die Israel so nur zu Deutschland unterhält. Nicht zufällig ist die Zahl der deutschen Freiwilligen in Israel größer als die aller anderen Länder zusammen genommen. Im Blick auf die Schoah fühlen sich die jungen Deutschen so wenig schuldig wie ich. Auch meine Scham war ja nie Ausdruck eines Schuldgefühls, sondern Motor, Verantwortung zu übernehmen. Und das wollen die Zwanzigjährigen auch. Auf ihre Weise. Unbefangener vielleicht, aber nicht weniger empathisch.

Die Übernahme von Verantwortung – das war auch die Motivation, das christliche Dorf „Nes Ammim“ zu gründen, kein Sühnezeichen, sondern ein „Zeichen nicht-jüdischer Völker“, ein Zeichen der Solidarität und ein Zeichen der Bereitschaft, umzukehren und neu zu lernen. Nes Ammim ist ein Lernort.

Wir suchen zum Beispiel das Gespräch mit Überlebenden der Schoah und mit deren Kindern. In Haifa treffen wir diese „Kinder“. Israeli frischen im Rentenalter an der Volkhochschule ihr Deutsch auf oder lernen es neu. Sie wollen mit den „neuen Deutschen“ sprechen, sagen sie, und haben nicht nur die Anwendung ihrer Sprachkenntnisse im Sinn. Sie brechen die Tabus ihrer Kindheit und arbeiten die Verdrängungen in ihren Elternhäusern auf. Unter ihnen könnte auch der Junge sein, dessen Vater mir damals am Strand begegnet ist. Was ist da geschehen siebzig Jahre nach der Schoah?! Die wird nicht verschwiegen. Aber sie verhindert nicht mehr die Kommunikation. Es ist wie ein Wunder. Israelische Juden und nicht-jüdische Deutsche sind dialogfähig geworden. Und in diesem Dialog sind kritische Töne nicht tabu, sondern willkommen.

In Deutschland lernen, antirassistisch zu sein

In Nes Ammim ist die Nakba, die Leidensgeschichte der unterlegenen Araber bei der Staatsgründung Israels, nicht tabu. Wir überlassen sie nicht der palästinensischen Propaganda gegen Israel. Wir stoßen in unserer Nachbarschaft auf die Spuren zerstörter Dörfer und unzerstört gebliebene arabische Siedlungen. „Ethnische Säuberungen“, wenn man den Begriff schon gebrauchen will, hat es in diesem Krieg auf beiden Seiten gegeben. Wir begegnen Menschen auf beiden Seiten der Mauer und lernen für Palästinenser einzutreten, ohne zu Gegnern Israels zu werden. Wir bewegen uns „zwischen den Stühlen“ und lernen in doppelter Solidarität.

Wir bewegen uns „zwischen den Stühlen“ und lernen in doppelter Solidarität.

„Ich fahre nächste Woche zu einer Fortbildung nach Dresden“, sagte die israelische Referentin nach ihrem Vortrag in Nes Ammim. „Die Deutschen bieten hervorragende Hilfen, den Rassismus im eigenen Land zu bekämpfen“. In Israel kann nämlich Außen- und Wirtschaftsminister werden, wer rassistische Pegida-Parolen predigt. „Women of the Wall“ schweigt dazu nicht. Die beherzten Frauen haben nicht nur das Recht erstritten, an der sogenannten Klagemauer gemeinsam mit Männern und Jungen beten zu dürfen, sie bekämpfen auch Islamophobie und anti-arabischen Rassismus in ihrer jüdischen Gesellschaft und streiten für die Rechte der Palästinenser im eigenen Land. Ich muss es mir noch einmal vorsagen, um es zu glauben: Jüdische Israeli fahren nach Deutschland, um zu lernen, den Rassismus im eigenen Land zu überwinden. Das war weder 1945 noch 1965 vorauszusehen.

Eine israelische Hochschullehrerin sagt am Ende ihres Vortrages: „Für mich ist das größte Wunder des 20. Jahrhunderts der Wandel Deutschlands – vom Terrorstaat zu einem der stabilsten Rechtsstaaten der Welt, von dem keine Gefahr mehr ausgeht.“ Ich weiß nicht so recht, warum mir bei diesen Worten die Tränen in die Augen schießen. Ich weiß aber, dass solche Urteile meinen Willen stärken, auch weiter Verantwortung zu übernehmen und für heilsame Veränderung zu streiten. Und darum wünsche ich mir, dass Israel das Existenzrecht Palästinas anerkennen würde. Möglich war die Entwicklung des besiegten Deutschland zu einem stabilen Rechtsstaat ja auch nur, weil die Sieger nicht die Fehler von Versailles wiederholten, sondern das Lebensrecht der Besiegten in Würde respektierten und unterstützten.

Wir können uns und andere Menschen verändern. Das sind die alltäglichen Wunder, auf die sich die Hoffnung gründet, in Deutschland wie in Israel und Palästina.

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Weblinks: www.nesammim.org, www.stuhlmannzwischendenstuehlen.wordpress.com

Rainer Stuhlmann: Zwischen den Stühlen. Alltagsnotizen eines Christen in Israel und Palästina. Neukirchener/Aussaat-Verlag 2015, 160 Seiten, 12,99 €, ISBN 978-3-7615-6179-9

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