Arbeit macht das Leben süß? Von der Bedeutung des protestantischen Arbeitsethos im Zeitalter des Digitalen

Von Luthers Berufsbegriff bis zur Künstlichen Intelligenz heute: Torsten Meireis zeigt, wie sich die protestantische Vorstellung davon, was gute Arbeit ist, über Jahrhunderte verändert hat, und wie sie zum Schlüssel für gesellschaftliche Teilhabe und individuelles Glück werden kann.

Luthers Arbeitsethos und seine Folgen

Martin Luther wird oft mit dem Ausspruch zitiert, der Mensch sei zur Arbeit geboren wie der Vogel zum Fliegen. Luther selbst hat sich dabei auf eine Textstelle aus dem Hiob-Buch bezogen, deren Übersetzung sich allerdings einem Missverständnis verdankt. Eine ähnliche Fehldeutung scheint auch der Idee des protestantischen Arbeitsethos zugrunde zu liegen: Seit den Arbeiten des Soziologen Max Weber gelten rastloser Arbeitseifer und freudlose Betriebsamkeit als Charakteristikum des Protestantismus. Wie ein Hohn klingt angesichts solcher Befunde die Zeile aus dem Gedicht Gottlob Wilhelm Burmanns: „Arbeit macht das Leben süß“. Allerdings beruhen Webers Analysen weitgehend auf nicht ganz unproblematischen empirischen Daten und vor allem der historischen Auswertung dessen, was wir heute ›Lebenshilfe-Literatur‹ nennen würden.

Und doch sind in beiden Aussagen wichtige Aspekte benannt, die auch das gegenwärtige Arbeitsverständnis prägen. Tatsächlich gehört es zum Menschen dazu, sich zu seiner tätigen Reproduktion und Lebenserhaltung reflexiv verhalten zu können, sie also zu planen und zu rationalisieren, wie das Karl Marx dann vierhundert Jahre nach Luther in seinem Hauptwerk dargestellt hat. Die gegenwärtige Veränderung der Erwerbsarbeit durch Digitalisierung und sogenannte ›Künstliche Intelligenz‹ gehört in diesen Zusammenhang. Und in der Tat hat Luthers Aufwertung des tätigen, produktiven Lebens, aber auch die protestantische Aufklärung sehr zur Entwicklung unseres aktuellen Arbeitsverständnisses beigetragen, wenn auch nicht ganz so, wie Weber sich das vorstellte. Und Luthers nicht zu unterschätzender Beitrag besteht vor allem in der theologischen Aufwertung der produktiven Tätigkeit gegenüber der religiösen Sonderexistenz des Priesters oder Mönchs. Die alltägliche Arbeit sollte als Berufung, als ›Beruf‹ gelten – sofern sie den Nächsten dient. Damit hat Luther ein Kriterium guter Arbeit entwickelt, das an Bedeutung eher gewonnen als verloren hat.

Wandel des Arbeitsbegriffs von der Antike bis heute

Arbeit ist nämlich heute mit einem normativen Sinn unterlegt, der sie mit materieller Teilhabe, politischer Teilnahme, sozialer Anerkennung und einem guten Leben verbindet und Kriterien guter und schlechter Arbeit bereitstellt, also zu beurteilen erlaubt, unter welchen Bedingungen Arbeit das Leben süßer macht – oder bitterer. Das war aber nicht immer so.

Produktive, auf Lebenserhaltung zielende und mit körperlicher Mühe verbundene Tätigkeit galt in der griechisch-römischen Antike vorrangig als niedrige Tätigkeit der Niedrigen: der altgriechische Begriff für den Handwerker ist banausos. Diese Vorstellung drang durch die Verbreitung der hellenistischen Kultur über die höfische Weisheitslehre auch in die Welt der hebräischen und griechischen Bibel ein, in der Arbeit ansonsten als selbstverständliche Notwendigkeit galt, wie sie es auch für den Juden Jesus und seine Jünger und Jüngerinnen war. Die selbstverständliche Beteiligung Jesu und seiner Anhänger – wie etwa Paulus – an produktiver Tätigkeit führte auch im sich herausbildenden Christentum zu einer prinzipiellen Wertschätzung der Arbeit. Allerdings war sie immer wieder mit Hierarchiebildungen kontrastiert, in denen kriegerische und herrschaftsbezogene Tätigkeiten und Fähigkeiten höhere gesellschaftliche Anerkennung genossen.

Im Kontext der europäischen, nachreformatorischen protestantischen Aufklärung lässt sich eine Spur der Aufwertung produktiver Tätigkeit erkennen, die zunächst einmal denen zugutekam, die nicht zu den herrschenden Gruppen gehörten. Sie reicht von der Neuzeit in die Spätmoderne: von der Charakterisierung der Arbeit als naturrechtlicher Quell legitimen Eigentums bei John Locke über die Auszeichnung als Ursprung des Reichtums der Nationen bei Adam Smith bis hin zur allgemeinen Weltverbesserung etwa bei Christian Friedrich Sintenis und kreativen, selbstbestimmen Mitwirkung an der Sozialität bei Dorothee Sölle. Sowohl in den Aufständen gegen Sklaverei und Zwangsarbeit in den kolonisierten Gebieten des globalen Südens als auch in den europäischen republikanischen Revolutionen, aber auch in den Protesten der im industriellen Kapitalismus entstehenden Arbeiterbewegung wird die Arbeit als Geltungsgrund sozialer Anerkennung, ökonomischer und politischer Partizipation verstanden.

Arbeit als Geltungsgrund sozialer Anerkennung sowie ökonomischer und politischer Partizipation.

Im 19. und 20. Jahrhundert wird die Arbeit dann zur am Markt gehandelten Ware – mit ambivalenten Folgen. Einerseits werden durch den Arbeitsvertrag Güterproduktion und Güterverteilung aneinander gekoppelt. Während der Feudalherr ein Übermaß materieller Teilhabe zunächst durch seine Schutzfunktion rechtfertigte, in der Neuzeit aber weitgehend auf ein Herkunftsrecht gründete, wurde nun die Beteiligung an produktiver Tätigkeit im Sinne der Leistungsgerechtigkeit zum Maßstab der Verteilung – jedenfalls theoretisch. Es bedurfte allerdings vieler sozialer Kämpfe, um entsprechende Prinzipien gegen die Vorherrschaft der alten und neuen Besitzenden durchzusetzen. Dies gelingt nach und nach durch die politisch erkämpfte institutionelle Absicherung abhängiger Erwerbsarbeit durch die staatliche Organisation von Leistungen im Krankheitsfall und im Alter, bei unverschuldeter Erwerbslosigkeit oder in der Phase der Ausbildung. Die Arbeit wird als Erwerbsarbeit in ein dichtes Netz gesellschaftlicher Institutionen eingebunden, die Gesellschaft wird zur Erwerbsarbeitsgesellschaft.

Gute Arbeit im digitalen Zeitalter

Die Erwerbsarbeit stellt auch in unserer Gesellschaft den Kristallisationspunkt materieller sozialer Teilhabemöglichkeiten und -rechte dar, weil über den Arbeitsvertrag Produktion und Verteilung verbunden sind und Menschen in der Regel Teilhaberechte über die Ausübung von Erwerbsarbeit oder die Abhängigkeit von einem bzw. einer Erwerbstätigen erlangen. Überlegungen zu einem bedingungslosen Grundeinkommen müssen sich deshalb der Frage stellen, wie die Verbindung von Produktion und Verteilung alternativ geregelt werden soll. Auch die Altersversorgung durch Renten- oder Pensionsansprüche ist in der Regel an die Erwerbstätigkeit gebunden, Bildungsprozesse im Kinder-, Jugend- und Erwachsenenalter werden stets auch als Qualifikation für die Erwerbstätigkeit verstanden. Erwerbsarbeit wird damit gleichzeitig zum Paradigma der Arbeit schlechthin. Arbeit gilt insofern als sinnvolle oder gesellschaftlich notwendige Tätigkeit, die Bezeichnung einer Tätigkeit als ›Arbeit‹ lässt sich insofern gegenwärtig immer auch als Strategie des Anerkennungserwerbs verstehen.

Gegenwärtige Arbeitsdefinitionen – von Karl Marx über Hannah Arendt bis Angelika Krebs – betonen in der Regel das Element der Produktivität, der Kreativität und der Beteiligung an gesellschaftlich notwendiger Tätigkeit. Die normative Aufladung der Arbeit als Beitrag zur kollektiven Verbesserung der Welt sowie als Element eines individuellen guten Lebens geht dabei stark auf die protestantische Aufklärung und die reformatorische Auszeichnung der produktiven Tätigkeit als Moment einer göttlichen Berufung zurück und ist sowohl in Bürgertum wie Arbeiterbewegung intensiv rezipiert und weiterentwickelt worden.

Gute Arbeit ist wesentlich solche, die den Nächsten dient.

Auch die moderne protestantische Berufskonzeption, die materielle Teilhabe, politische Teilnahme und Mitbestimmung am Arbeitsplatz und soziale Anerkennung als Konstitutionsbedingungen und deswegen auch Kriterien guter Arbeit versteht, kommt nicht ohne Luthers Kriterium der weltlichen Berufung aus. Gute Arbeit ist wesentlich solche, die den Nächsten dient, und das bedeutet unter heutigen Bedingungen: eine, die den Nächsten nicht schadet, sondern nützt, die – wie mittelbar auch immer – Nachhaltigkeit und Gerechtigkeit fördert und deswegen in Zusammenhänge eingebunden ist, in denen diejenigen, die auf Erwerbstätigkeit zur Lebensfristung angewiesen sind, durch soziale Absicherung eine substantielle Freiheit der Wahl des Arbeitsplatzes haben.

Das gilt ganz aktuell auch unter den Bedingungen einer Digitalisierung der Arbeit. Ein kritischer protestantischer Berufsbegriff macht auf die Gefahren dieser Entwicklung – Deregulierung, Entgrenzung und Verdichtung der Tätigkeit zulasten der abhängig Beschäftigten, digitale Überwachung und Monopolisierung zuungunsten der Kundinnen und Kunden – aufmerksam, aber hilft auch, die Chancen dieser Entwicklung zu sehen. Wenn nämlich Arbeit als freier Dienst an den Nächsten verstanden wird und Ermächtigung, Befähigung und Beteiligung der Arbeitenden als zentrale Kriterien guter Arbeit gelten müssen, ergeben sich durch die Digitalisierung vielfältige Chancen wirtschaftsdemokratischer Partizipation und einer Humanisierung der Arbeit. Rationalisierungsgewinne können in die bislang vernachlässigten Bereiche von Bildungs-, Pflege- und Sorgearbeit fließen, in denen die Produktivität auch mit digitalen Mitteln nicht menschenwürdig zu steigern ist und die Menschen gleichwohl auskömmlich entlohnt werden müssen. Dazu sind aber erhebliche ordnungspolitische Interventionen auf nationaler wie internationaler Ebene nötig.

Arbeit, verstanden als freier Dienst an den Nächsten, bildet den Kern der protestantischen Berufskonzeption, die gerade auch die alltägliche Tätigkeit als göttliche Berufung in ein erfülltes Leben versteht. Sie hat – auch im digitalen Umbruch der Arbeitsgesellschaft – an Orientierungskraft und Aktualität nichts eingebüßt, sofern Christinnen und Christen sie engagiert vertreten.

Zum Weiterlesen

Torsten Meireis: Tätigkeit und Erfüllung. Evangelische Ethik im Umbruch der Arbeitsgesellschaft, Tübingen, 2008.

Traugott Jähnichen, Joachim Wiemeyer: Wirtschaftsethik 4.0. Der digitale Wandel als wirtschaftsethische Herausforderung, Stuttgart, 2020, S. 81-111.

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