Stichwort: Arbeitsfreier Sonntag

Etwas verstehen, heißt verstehen, wie es geworden ist. Das gilt auch für den arbeitsfreien Sonntag. Es gehört zu den unhinterfragten Üblichkeiten der Deutung des arbeitsfreien Sonntags, dass er sich der christlichen Tradition verdanke. Deshalb wird seine gesamtgesellschaftliche Legitimation im Zuge des Schwindens dieser Tradition zunehmend infrage gestellt. Die Deutung des arbeitsfreien Sonntags als spezifisch christliche Innovation hält aber dem Blick auf die Fakten nicht stand.

Der einzige arbeitsfreie Tag, den die frühe Christenheit in der Nachfolge des Juden Jesus kannte, war der Sabbat – also der Tag vor dem Sonntag. Und es sind keine Zeugnisse bekannt, die in der frühen Christenheit die Forderung dokumentieren, anstelle des Sabbats den Sonntag zum arbeitsfreien Tag zu erklären. Es ist zwar eine Tatsache, dass bereits die ersten Christen den auf den Sabbat folgenden ersten Tag der Woche als Tag des Herrn liturgisch begingen. Aber dieses gottesdienstliche Gedenken der Auferstehung als wöchentliche Osterfeier war in den üblichen werktägigen Tagesablauf eingebettet, ohne dass dies als Problem wahrgenommen worden wäre.

Die rechtliche Festlegung des Sonntages als arbeitsfreien Tages erfolgte unabhängig von irgendwelchen christlichen Forderungen durch Kaiser Konstantin per Erlass vom 3. März 321. In diesem Erlass wird der Sonntag als allgemein arbeitsfreier Tag festgelegt und ohne die Verpflichtung auf eine bestimmte Form der Begehung dieses Tages für die einzelnen zur individuellen Ausgestaltung freigegeben.

Erst in diesem Moment gab es für den christlichen Glauben die Notwendigkeit, eine besondere Sonntagskultur zu entwickeln. So stellte man sich mit mehr oder weniger Erfolg der Herausforderung, den Tag des Herrn mit einer Deutung zu versehen, die eine über die liturgische Feier hinausgehende Gestaltungskraft für den ganzen Tag zu entwickeln vermag. Der arbeitsfreie Sonntag verdankt sich also bei seiner ersten rechtlichen Absicherung offenbar einem Akt der politischen Klugheit und nicht einem missionarischen Impuls zur Unterstützung der religiösen Tradition einer Gruppierung, die damals noch in der Minderheit war.

Die in den Jahrhunderten darauf erfolgende enge Verknüpfung von politischer und kirchlicher Macht hat allerdings dazu geführt, dass diese ursprünglich für eine nicht näher bestimmbare Pluralität von Sonntagskulturen offene rechtliche Regelung immer mehr die Anmutung einer Zwangsveranstaltung im Dienste des christlichen Glaubens erhielt. Und sie hat auch eine freie innerchristliche Auseinandersetzung über die mögliche Vielfalt christlicher Sonntagskulturen erheblich behindert. Dieses Urteil gilt bis heute, obwohl auch die neuzeitliche rechtliche Absicherung des freien Sonntags nicht als ein Ergebnis kirchlicher Einflussnahme auf die entsprechenden Gesetzgebungsmaßnahmen verstanden werden kann. Daher halte ich Bemühungen um eine angemessene christliche Ausdeutung des arbeitsfreien Sonntags für unbedingt erforderlich.

Die rechtliche Absicherung des arbeitsfreien Sonntags in Deutschland ist im internationalen Vergleich einzigartig. Sie wäre von ihren Anfängen am Ende des 19. Jahrhunderts an über ihre Formulierungen in der Weimarer Verfassung bis hin zu deren Übernahme in das Grundgesetz der Bundesrepublik gar nicht möglich gewesen ohne eine breite Mehrheit, die auch durchaus kirchenkritische Kreise wie etwa die politischen Vertretungen der Arbeiterschaft mit umfasst. Nur dadurch konnte sie jene gesetzgeberisch notwendige Mehrheit erhalten, ohne die Gesetzgebungsmaßnahmen mit Verfassungsrang gar nicht umsetzbar wären.

Ralf Stroh

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