Ungerechte Gnade Mit der Rechtfertigungslehre gegen kirchliche, theologische und soziale „Barmherzigkeitsbremsen“

2016 war in der katholischen Kirche das „Jahr der Barmherzigkeit“. Im Gespräch mit dem Tübinger katholischen Pastoraltheologen Ottmar Fuchs blicken wir zurück und fragen, welche Impulse es daraus ins Reformationsjubiläumsjahr weiterzutragen gilt.

  1. Herr Fuchs, gerade ist in der katholischen Kirche das „Jahr der Barmherzigkeit“ zu Ende gegangen. Welches Resümee ziehen Sie als Pastoraltheologe?

Es ist viel Wichtiges und Einfühlsames zum Thema der Barmherzigkeit gepredigt und geschrieben worden, vor allem was die Solidarität mit leidenden und ungerecht behandelten Menschen angeht. Hier pflichte ich von Herzen allem bei, was alles, besonders auch von Papst Franziskus, immer wieder sehr eindringlich gesagt wurde und wird. Und ich bin überzeugt, dass von solchen Worten in den Kirchen her auch in der entsprechenden Praxis, vor allem auch Menschen auf der Flucht gegenüber, vieles in eindrucksvoller Weise getan wurde und wird.

Bezogen auf den inneren Bereich der katholischen Kirche bin ich etwas unsicher: Auf der einen Seite ist es prima, dass die Verantwortlichen in der Pastoral auf allen Ebenen zu einer eigenmächtigeren Barmherzigkeit und zu entsprechenden Entscheidungen ermutigt werden. Auf der anderen Seite bleibt damit die Barmherzigkeit mit ihren Wagnissen den einzelnen überlassen.

Dieses Jahr wäre eine gute Gelegenheit gewesen, der Barmherzigkeit auch ein größeres strukturell gesichertes Recht zu verschaffen. Damit sich die Unerschöpflichkeit der göttlichen Barmherzigkeit annäherungsweise auch in der rechtlich geschützten Unterbrechung barmherzigkeitsbremsender Kirchengesetze, Prinzipien und Haltungen zeigt. Und dass es keine Barmherzigkeit mit dem katholischen Volk Gottes gegeben hat, das viel zu wenige Hirten und Hirtinnen hat (vgl. Mt 9,36): in einem wenigstens ersten Schritt zur Veränderung der Zulassungsbedingungen zum Weiheamt, ist ein Skandal, auch denen gegenüber, die mit ihrer diesbezüglichen Berufung nicht wahrgenommen werden. Ähnliches gilt für diverse Zulassungsblockaden zu anderen Sakramenten, vor allem zur Eucharistiefeier und zur kirchlichen Eheschließung.

1.1. Das ist sicher für die Ohren manches Katholiken „starker Tobak“ – Ihnen wäre anstelle eines einmaligen Jahres eine dauerhafte „Struktur der Barmherzigkeit“ wichtiger?

Nicht anstelle: Sondern solche ausdrücklichen Erinnerungen, die ein bestimmtes Anliegen zum besonderen Thema machen, braucht es immer wieder, um dieses Anliegen auf Dauer nicht zu vergessen und von neuem intensiv anzugehen. Genau das Letztere wünschte ich mir tatsächlich für manche innerkirchlichen Bereiche.

1.2. Gerade mit der Ämterfrage stellen sich neben der Dimension von Barmherzigkeit noch andere Aspekte, etwa die des (strukturellen) Rechts und der Rechtlichkeit…

Ja, wir brauchen auch in den Kirchen verlässliche Rechtsordnungen und Bedingungsstrukturen. Sie dürfen aber nicht das letzte Wort haben, wenn es um eine „größere Gerechtigkeit“ geht. Ein Beispiel: Die Vorbereitungen auf die Sakramente und die entsprechenden Veranstaltungen sind ebenso notwendig, wie sie nicht zum Herrschaftsinstrument umkippen dürfen. Am Ende darf zum Beispiel auch das Kind nicht abgewiesen werden, das oft gefehlt hat, aber doch die Firmung oder die Konfirmation empfangen will. Das geistliche Leitungsamt ist in der katholischen Kirche deswegen selbst ein eigenes Sakrament, weil es die Verantwortung hat, der Gnade zum Einbruch und zum Durchbruch zu verhelfen. Es ist dann genauso wichtig, eine solche „ungerechte Gnade“ auch in der Vorbereitung selbst zu thematisieren und im Gespräch mit entsprechenden Bibeltexten (etwa mit der Geschichte vom barmherzigen Vater, vom verlorenen und vom murrenden Sohn, Lk 15,11-32, oder von den Arbeitern im Weinberg, Mt 20,1-16) sowie mit den (auch widerständigen) Erfahrungen der jungen Menschen zu klären. Die Freiheit, sich und andere von Gott beschenkt sein zu lassen, ist in der Vorbereitung selbst zu riskieren und nicht erst danach.

Bei den Arbeitern im Weinberg handelt es sich um eine solche Durchbrechung der bestehenden Lohngerechtigkeit um der Barmherzigkeit, und darin einer weiterreichenden Gerechtigkeit willen: Denn die Geschichte führt einen über die Arbeit hinausgehenden Tauschausgleich ein, nämlich das Leid, das die Tagelöhner damit haben, dass sie aufgrund vorhandener Ungerechtigkeitsverhältnisse nicht zur Arbeit abgeholt werden und ihre Familien am Abend nichts zu essen haben. Nicht nur Erleistetes, sondern Erlittenes ist „etwas wert“. Der Weinbergbesitzer belohnt auch das Warten, obgleich dies seinem eigenen Weinberg nicht zugutekommt. Dies ist nicht zuletzt auch eine interessante sozialpolitische Sicht dieser Situation.

  1. In Ihrem Buch „Die andere Reformation“ werben Sie für die Bedeutung der Nächstenliebe und der Solidarität. Wie hängen Gnade und Barmherzigkeit zusammen?

Aufforderungen zur Solidarität geben noch nicht die Kraft zu entsprechendem Handeln. Sie machen dann eher defensiv. Es ist die Chance des christlichen Glaubens, diese bitter nötige Ressource des Geliebtseins erlebbar werden zu lassen. Worauf die ganze Bibel hinausläuft, ist: sich als geliebt zu entdecken. Die Selbstentdeckung als von Gott Geliebte, dies ist der biblische Glaube. Dies ist das Herz der Frohen Botschaft. Nämlich daran glauben zu dürfen und zu können, dass die Menschen bedingungslos von Gott geliebt und ersehnt sind, unendlich erwünscht, unendlich über den Tod hinaus. Dafür müssen sie keine Werke als Bedingung vorweisen. Dies war die entscheidende Entdeckung Luthers. Dies ist das Herz der Rechtfertigungstheologie. Die Gnade geht allem menschlichen Handeln voraus und ermöglicht es. So sind die Menschen Geliebte und Gerettete. Und dies gilt auch kontrafaktisch, dies gilt auch gegen die Erfahrung von Leid und Tod. Dagegen steht der Augenschein der biblischen Texte. Gottes Liebe ist gegeben, nicht weil sie immer erfahrbar wird, sondern weil sie so geschrieben steht.

Aufforderungen zur Solidarität geben noch nicht die Kraft zu entsprechendem Handeln, sie machen eher defensiv.

Aus solcher Gottesbeziehung heraus können wir sagen: Für die Anderen, vor allem die benachteiligten und bedrängten Menschen, riskieren wir auch eigene Nachteile, denn als Beschenkte können wir schenken. In der Kraft Gottes verwurzelt wird die Angst zum Vertrauen. Ein solcher Gottesbund ist der Fluss, der uns von Egoismus und der Angst zu einer verwundbaren Solidarität trägt. Denn Geliebtsein öffnet für Verletzbarkeit! Gibt Kraft für das Teilen, auch wenn es etwas kostet.

2.1. Im Buch nennen Sie Beispiele: Madeleine Delbrêl im kommunistischen Ivry, Bernhard Lichtenberg im nationalsozialistischen Berlin, den ökumenischen Weltgebetstag der Frauen … die je auf ihre Weise für tätige Nächstenschaft stehen. Wäre es verkehrt, auch da eine Parallele zu Martin Luther zu ziehen, der seine Lehre ja häufig mit den Stichworten „Glaube und Liebe“ zusammenfassen konnte?

Ich spreche Luther die diakonische Dimension nicht ab, auch für ihn ist das Geschenk der Gnade als Liebe zu den Menschen weiterzugeben. Deshalb bewundert er auch die Wartburgerin, die heilige Elisabeth so sehr. Diese Praxis aber hat er selber nicht. Sein Metier ist das Wort. So plädiere ich dafür, dass die christlichen Kirchen diese diakonisch praktische Seite christlicher Reformnotwendigkeit, die bei Jesus keineswegs unterentwickelt ist, ebenfalls in entsprechenden personalen Erinnerungen aufsuchen.

2.2. In „Die andere Reformation“ nennen Sie zudem Johannes Ciudad (1495–1550), die Gründergestalt des späteren Ordens der „Barmherzigen Brüder“ sowie Innovateur und Wegbereiter moderner Krankenhauspflege. Für sein Werk ist das Almosenwesen unverzichtbar. Bleibt damit der Einzelne aber nicht von der Tageslaune nobler Spender abhängig? Um nochmals das Stichwort von den „Strukturen der Barmherzigkeit“ aufzugreifen: Als Johannes 1540 seine mildtätige karitative Einrichtung in Granada aufbaut, gibt es immerhin in Wittenberg bereits seit achtzehn Jahren das Rechtsinstitut einer Sozialkasse, aus der Arme, Kranke und Bedürftige unterstützt werden. Wurde damit nicht ein zentrales „Strukturelement“ der Barmherzigkeit in die Gesellschaft eingeführt?

Ja, das glaube ich auch (unbeschadet der historischen Frage, die ich nicht beantworten kann, nämlich ob es nicht bereits strukturelle Absicherungen dieses Zusammenhangs vorher gegeben hat). Aber so groß ist der Unterschied nicht. Gemeinsam ist beiden, bei all ihren kontextabhängigen Unterschieden, dass man sich immer das Geld von den Reichen holen muss. Auch bei den Barmherzigen Brüdern wurde diese spontane Erstinitiative des Johannes Ciudad dann strukturell gestaltet und abgesichert.

  1. Gibt es eigentlich so etwas wie ein konfessionell (evangelisch/katholisch) geprägtes Verständnis der Barmherzigkeit und wie könnten Ansätze für eine – ökumenische? – Theologie der Barmherzigkeit aussehen?

Die wichtigste Herausforderung der Reformation sehe ich an einer weiteren gemeinsamen Entwicklung der Rechtfertigungstheologie für die christlichen Kirchen. Gott liebt alle Menschen bedingungslos, noch bevor sie sich verändert haben. Und auch die Veränderung ist nicht Bedingung seiner Liebe. Dabei geht es nicht um rechthaberische, selbstrechtfertigende Auseinandersetzungen, sondern um die Frage danach, wie die christlichen Kirchen ihre Verkündigung von der unbegrenzten Liebe Gottes gestalten und wie sie damit darauf verzichten, Menschen durch Drohungen, auch nicht durch versteckte, unter Druck zu setzen. Mit Luther ist über Luther hinauszugehen, indem die unerschöpfliche Liebe Gottes nicht nur für die gilt, die die rechtfertigende Gnade annehmen, sondern auch für die, die nicht daran glauben (können oder wollen). Weder Kirche (die katholische Versuchung) noch Glaube (die evangelische Versuchung) sind Bedingungen der Gnade.

Es geht also um die unbegrenzte Reichweite der Rechtfertigungstheologie, die das Christentum vor jeder Art von Fundamentalismus bewahrt, weil sie keinen Menschen aus der Liebe Gottes exkludieren kann. Niemals bestraft Gott mit Liebesentzug, auch nicht im Jüngsten Gericht. Diese Art von endzeitlicher Rechtfertigungstheologie schmälert nicht das Gericht, sondern verschärft es, aber nicht als Strafgeschehen außerhalb der Liebe, sondern als schmerzliches Sühnegeschehen innerhalb der Liebe Gottes. Dieser Aspekt einer gemeinsam weiterzutreibenden Rechtfertigungstheologie hat enorme religionskritische Bedeutung quer durch alle Religionen hindurch.

Es geht um die unbegrenzte Reichweite der Rechtfertigungstheologie, die das Christentum vor jeder Art von Fundamentalismus bewahrt.

Dies ist auch eine Auseinandersetzung innerhalb des Christentums selbst, wo weltweit insbesondere dessen fundamentalistische Anteile mit wieder verschärften Ausgrenzungen zahlenmäßig explodieren, die, um die Ungläubigen vor der Hölle zu bewahren, sie mit psychischem Terror zu gewinnen versucht. Es ist zu verführerisch, eine immer komplexere und pluralere Welt wenigstens religiös derart in ein Schwarz-Weiß-Korsett zu bringen und dies auch noch mit einem dafür zurechtgestutzten, ungöttlichen Gott, also einem Götzen, zu begründen. In der Heckscheibe eines Autos las ich: „Christus ist unser Retter. Glaube an ihn, damit du nicht in die Hölle kommst!“ Hätte es, rechtfertigungstheologisch konsequent, nicht heißen dürfen: „Glaube daran, dass du von Gott geliebt bist, was immer du glaubst und tust!“?

3.1. Aber wie vermeiden Sie, dass das als „Freibrief-Theologie“ aufgefasst wird? Lässt sich auch dem rassistischen Schläger mit dem Knüppel in der Hand auf den Kopf zusagen: „Du bist geliebt, was immer du glaubst und tust“?

Ja, das ist genau die „Verrücktheit“, die die Rechtfertigungslehre vertritt. Auch der schlimmste sündige Mensch bleibt von Gott geliebt. Das ist unvorstellbar. Aber man darf Liebe nicht mit Zustimmung, also nicht mit einem „Freibrief“ verwechseln. Eltern lieben oft auch dann ihre Söhne und Töchter, wenn die Dinge getan haben, mit denen sie nicht einverstanden sein können.

Die Werke haben nicht die Macht, das Heil zu verlieren, wohl aber die Macht, das Heil unterschiedlich zu erfahren. Denn gerade weil die Liebe Gottes universal allen Menschen gilt, gewinnen darin die guten bzw. schlechten Werke ihr geradezu maßloses Gewicht, weil sie im Horizont der maßlosen Liebe Gottes ihre gegensätzliche Bedeutung gewinnen. Vom Jüngsten Gericht her formuliert: Weil die Täter der zerstörerischen Werke sich mit der dann unblockiert erfahrenen Liebe Gottes gerettet und zugleich konfrontiert sehen, erfahren sie einen Schmerz, der bis in die Ewigkeit der göttlichen Liebe hineinreicht. Dies ist eine Rechtfertigungsgnade, die immer zuerst verurteilt, indem sie den Gegensatz zwischen Gut und Böse unendlich vertieft, was sich in den gegensätzlichen Reaktionsweisen zwischen Schmerz und Freude (auch abwechselnd in einer Person) auf diese Gnade widerspiegelt. Endzeitlich gesehen sind die Werke also von programmatischer theologischer Bedeutung, weil sie in der Gnade und durch sie den Gegensatz zwischen Leiderfahrung und Leidzufügung in der unendlichen Tiefe Gottes selbst offenlegen (und nicht etwa dualistisch in eine gottlose Hölle „outsourcen“).

3.2. Wie gehen Sie mit Positionen um, die andere Meinungen und Menschen kategorisch ausschließen?

Das ist eine der schwierigsten Fragen – die Frage, wie man nichtfundamentalistisch mit fundamentalistisch eingestellten Menschen umgeht. Ein aktuelles Beispiel: Wo Menschen alles tun, um nicht zum Nächsten derer zu werden, die auf der Flucht sind, wo man sich diese Menschen bis in das Mittelmeer hinein vom Leibe hält, gibt es keine Kompromissmöglichkeiten mehr. Es gibt also so etwas wie eine buchstäblich notwendige Auseinander-Setzung zwischen Menschen, die die Fremden nicht haben wollen und verachten, und denen, die hier konstruktive Möglichkeiten suchen.

Zugleich ist es notwendig, auch den Ersteren gerecht zu werden und sie ernst zu nehmen und auch ihnen gegenüber das Gebot der Anderenliebe nicht zu verletzen, sodass sie sich in die gemeinsame Streitkultur hineinbegeben können. Human sein heißt hier nicht, die Humanisierung als einen Siegerdiskurs durchzuführen, sondern sich in die Praxis des Humanseins hineinzubegeben und darin neue Gesprächsmöglichkeiten zu entdecken. Das ist die Quadratur des Kreises, allen Menschen, auch den Gegnern, zu vermitteln, dass sie in ihrer Existenz unbedingt erwünscht sind, dass sie mit jeder Meinung ein Anrecht auf Wohlergehen haben. Und zugleich und auf dieser Ebene der gegenseitigen Existenzanerkennung erbittert für das zu kämpfen, was diese Anerkennung allen Menschen zugutekommen lässt.

3.3. „Mitleid ist die emotionale Basis der Barmherzigkeit“, war jüngst in Ihrer Kolumne „Aus dem Fuchsbau“ in der Zeitschrift Diakonia zu lesen und zu lernen. Ist das Problem der Protestanten, dass zu wenig Empathie-Fähigkeit gegenüber dem realen Leben, und Leiden, vorhanden ist? Dass die Verbindung von althergebrachten „Glaubens-Sätzen“ mit der Lebenswirklichkeit fehlt?

Das ist eher unser aller Problem!

Das Interview führte Manfred Schütz auf schriftlichem Weg. Ausgangspunkt waren zunächst drei Fragen, auf die verabredungsgemäß weitere sieben folgten.

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Ottmar Fuchs: Die andere Reformation. Ökumenisch für eine solidarische Welt. Verlag Echter 2016, 180 Seiten, € 14,90

 

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