Editorial: Barmherzigkeit Ausgabe 1/2017

Liebe Leserin, lieber Leser,

schnell waren wir uns in der Redaktion der „evangelischen aspekte“ einig: In der ersten Ausgabe 2017, im Jahr des 500-jährigen Reformationsjubiläums, sollte dieses Ereignis auch unser Schwerpunktthema prägen. Ausgehend von Martin Luthers „Wiederentdeckung“ des „gnädigen“ Gottes entschieden wir uns, den Focus auf das Leitwort der Barmherzigkeit zu richten. Doch wohin führt das, wenn man nicht nur die theologischen, sondern auch politisch-sozialen Bedeutungsinhalte einbeziehen möchte? Mit der Einigkeit war es dann gleich nicht mehr so weit her; denn signalisiert Barmherzigkeit nicht letztlich ein ungleiches Beziehungsverhältnis, schwingt bei diesem Begriff nicht eine gehörige Portion Paternalismus mit, hat er nicht gar eine repressive Konnotation? Müssen wir nicht Gerechtigkeit/Solidarität als (Gegen-?)Begriffe stark machen?

Für unsere Autorin Cornelia Coenen-Marx steht Luther für einen „Paradigmenwechsel“ von der Barmherzigkeit zur solidarischen Absicherung der Lebensrisiken. Wolfgang Thierse plädiert (in einem von vier Statements namhafter Politiker zum Verhältnis von Barmherzigkeit und Politik) für eine „strukturelle Barmherzigkeit“, durch die aus Objekten individueller Barmherzigkeit Subjekte von Rechtsansprüchen in einem gerechten Sozialstaat werden. Rainer Lang zeigt in seinem Beitrag, dass „Brot für die Welt“ sogar eine „Würde-Kampagne“ für nötig hält, um nicht länger das Stereotyp des armen und defizitären, unterentwickelten Afrikaners zu bedienen. Und im Spektrum arbeitet die stellvertretende Direktorin des Deutschen Instituts für Entwicklungspolitik, Imme Scholz, in einer kritischen Analyse der neuen 17 (Nachhaltigkeits-)Ziele der UN heraus, dass eine nachhaltige globale Entwicklung nur gelingen kann, wenn sich nationale Maßnahmen auch „zugunsten des globalen Gemeinwohls“ auswirken.

Stephan Mühlich und Ottmar Fuchs schließlich beleuchten die Möglichkeiten des interreligiösen Dialogs (inklusive des mit Atheisten!) und die Zukunft der Reformation unter dem Schlüsselwort „Barmherzigkeit“. Der Katholik Fuchs erkennt (ähnlich wie Eugen Drewermann – siehe Rezensionen) in Luthers Gott der bedingungslosen, unerschöpflichen Liebe das (mit Luther über Luther hinaus zu entwickelnde) Angebot einer (ökumenischen) Theologie mit unbegrenzter Reichweite, die das Christentum vor Fundamentalismus bewahre.

Wir hoffen, auch Sie können zu dem Schluss gelangen, dass unsere kontroverse Diskussion über die Barmherzigkeit am Ende „schmackhafte“ (Lese-)Früchte zeitigte.

Es grüßt Sie

Hermann Preßler

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