Was bleibt von der Eine-Welt-Bewegung? Bilanz eines Protagonisten

In den 70er-Jahren entstand im entwicklungspolitischen Umfeld die „Eine-Welt-Bewegung“. Erhard Eppler, von 1968 bis 1974 Bundesminister für Entwicklungshilfe und eine Ikone dieser Bewegung, blickt zurück auf vierzig Jahre Engagement in diesem Themenfeld.

Die Aufbruchsstimmung der siebziger Jahre

Es waren die frühen Siebzigerjahre, als nicht nur Deutschland die Dritte-Welt-Bewegung nicht zu überhören schien. Es war die Zeit, in der Robert Mac Namara Präsident der Weltbank war und hinreißende Reden hielt, die bei jungen Leuten mehr Anklang fanden als bei den abgebrühten Machern der Weltbank. Wenn die zuständigen Minister der westlichen Welt mit Mac Namara zusammenkamen, herrschte eine eigentümlich heitere und konstruktive Stimmung. Angela Merkel hätte sie mit den Worten beschrieben: „Wir schaffen das!“. Bis zum Jahr 2000, das noch weit entfernt schien, sollte das, was man damals die Dritte Welt nannte, vom schlimmsten Elend befreit werden. Maßstab war nicht das Wirtschaftswachstum, sondern die Grundbedürfnisse der Menschen: Nahrung, Behausung, Bildung, Gesundheit, Arbeit. Dass die Industrieländer in absehbarer Zeit ihre 0,7 % des Bruttosozialprodukts für die Entwicklungshilfe – wie man damals sagte – aufbringen würden, schien möglich.

Als der sambische Präsident Kaunda Bonn besuchte, hielt der Bundeskanzler Willy Brandt ganz unbeachtet eine denkwürdige Tischrede: Leider sei er und seine Regierung noch zu sehr beschäftigt, den Ost-West-Konflikt zu entschärfen. Solange er nicht überwunden sei, fühle er sich gegenüber den Ländern der Dritten Welt wie jemand, dem man einen Arm auf dem Rücken festgebunden habe. Er freue sich auf den Tag, an dem er mit beiden Armen für den Teil der Menschheit arbeiten könne, der es am nötigsten habe.

Ölpreiskrise und Entstehung der „Eine-Welt-Bewegung“

Kurz darauf kam die erste Ölpreiskrise. Heute wissen wir, dass sie längst fällig war, dass die Ölländer, die ja vor allem im Süden lagen, ihren unentbehrlichen Rohstoff für nahezu nichts abgegeben hatten. In den westlichen Hauptstädten, auch und besonders heftig in Bonn, begann ein Umdenken: Wie kann man die Kaufkraft ersetzen, die jetzt an den Golf auswandert? Überall, nicht nur in Bonn, wurde die Entwicklungshilfe gekürzt, was ja zu meinem Rücktritt führte. Inzwischen, gut 40 Jahre danach, kann ich’s ja sagen: Ich wollte damit ein Zeichen setzen, aber das verstanden nur wenige.

Seit der ersten Ölpreiskrise waren die meisten Staaten des Nordens mit sich selbst beschäftigt. Das Wachstum ließ nach, also gab man, um die alten Raten wieder zu bekommen, Geld aus, das man noch nicht hatte. Das Wachstum blieb bescheiden, aber die Schulden nahmen zu. Was bedeutete da noch die Dritte Welt, die nun nicht mehr so einfach zu klassifizieren war. Da waren die Schwellenländer und die „least developed countries“. So wurde die „Eine-Welt-Bewegung“ ausgerufen, mit überschaubarem Erfolg.

Es kam alles anders, als gedacht

Auch Brandts Hoffnung ging nicht in Erfüllung. Als die Sowjetunion auseinander brach und der Kommunismus implodierte, reduzierten die Vereinigten Staaten ihre – immer schon strategisch begründeten – Hilfen, und in Europa kam niemand auf die Idee, dies durch eigene Leistungen auszugleichen. Leichter war es, den USA zu folgen.

Im Jahr 2000 sah es in Afrika oder Lateinamerika nicht so aus, wie wir uns dies bei den „Tidewater-Konferenzen“ der frühen Siebziger vorgestellt hatten. Hoch verschuldete Entwicklungsländer gerieten in die Obhut des Internationalen Währungsfonds, der inzwischen von Marktradikalen geführt wurde. Sie hatten immer dasselbe Rezept: Staatsausgaben senken, ganz gleich, ob sie für Bildung oder für innere Sicherheit gedacht waren. Der Staat sollte „schlanker“ werden. Aber er war ohnehin schon schwach genug, und so wurde er eher schwindsüchtig. Der Staatszerfall begann, weil die verschuldeten Staaten nicht mehr das Nötigste für ihre Bevölkerung leisten konnten: einen Lehrer für jedes Dorf, irgendwo eine Polizeistation und ein Krankenhaus. Das Gewaltmonopol verfiel, Warlords oder kriminelle Banden überfielen die Dörfer.

Die verdrängte Vorgeschichte der Flüchtlingskrise

Die Vereinigten Staaten begriffen nicht, was geschah. Sie meinten, sie müssten im Irak einen bösen Diktator entfernen und eine Musterdemokratie aufbauen. Tatsächlich richteten sie ein Chaos an, in dem sogar die Barbaren des „islamischen Staates“ eine Chance bekamen. Jetzt hat Europa – und besonders Deutschland – mit Millionen von verzweifelten Menschen zu tun, die dem Gewaltchaos entkommen wollen.

Besonders kluge Politiker finden, man müsse die Lebensbedingungen in den Herkunftsländern der Flüchtlinge verbessern. Sie tun so, als wäre das eine neue, hilfreiche Erkenntnis. Das war schon vor vierzig Jahren klar, und ich habe es auch gepredigt. Sicher, wir müssen die zerfallenden – und sogar die zerfallenen – Staaten stützen oder wieder aufbauen, ihnen helfen, die Mindestleistungen eines Staates zu erbringen. Aber das dauert. Was in 5 Jahren zerfällt, ist nicht in 5 Jahren wieder zu kitten. Aber immerhin: Die Flüchtlinge haben uns darauf aufmerksam gemacht, dass es im 21. Jahrhundert nicht mehr möglich ist, hunderte von Millionen in Unsicherheit und Hilflosigkeit darben zu lassen, ohne dass sie dahin kommen, wo man besser, ungefährdeter lebt.

Die „Eine Welt“ ist nach wie vor weit weg

Fragt man sich, was die „Eine-Welt-Bewegung“ an alledem geändert hat, so ist die Antwort ziemlich deprimierend. Die Eine Welt ist eben weit weg, die eigene Stadt, das eigene Land ist sehr nahe. Sicher, da gab es – glücklicherweise – einfallsreiche, engagierte Gruppen, die uns darauf aufmerksam machten, dass wir Deutschen, wir Europäer nicht alleine auf der Welt sind. Aber Druck auf Parteien oder Regierungen konnten sie nicht ausüben, dazu waren sie zu schwach.

Die Flüchtlinge, die zu uns gekommen sind, noch mehr die Flüchtlinge, die noch zu uns kommen wollen, können die europäische Politik fordern und überfordern. Wenn es ernst wird, igeln sich die Nationen ein. Das erleben wir jetzt. Eine Welt? – Es gibt nicht einmal mehr die eine Europäische Union, sondern Nationalstaaten, die sich abschotten. Aber die heile Teilwelt gibt es nicht. Für die eine, für alle erträgliche Welt, werden wir noch manches Opfer bringen müssen.

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Im Oktober 2015 veröffentlichte Erhard Eppler seine Autobiographie: Links leben – Erinnerungen eines Wertkonservativen. ISBN: 978-3549074657, 336 S., 22,00 EUR.

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