Weltmacht Finanzkapitalismus! Sind „nur“ Menschen gierig oder Strukturen ungerecht?

Wer oder was regiert die Wirtschaft und damit die Basis der materiellen Existenz der Menschen weltweit? Ist es der „anonyme Markt“? Oder sind es „Funktionsringe“ aus Geld-, Konzern- und politischen Eliten, die die herrschenden ökonomischen Verhältnisse generieren und dominieren?

„Raubt es Ihnen nicht den Schlaf, wenn Sie daran denken, was Sie angerichtet haben?“, so fragte der Chefermittler im US-amerikanischen Untersuchungsausschuss zur Bankenkrise einen ehemaligen Banker. „Wir sind nicht verantwortlich. Wirklich nicht. Sorry for that.“ So die schlichte Antwort.

Offensichtlich unterstellte der Ermittler eine persönliche Verantwortung der leitenden Manager für die Finanzkrise. Auch die öffentliche Meinung hatte schnell eine individualistische Deutung der Finanzkrise gefunden: Das mag der Fall sein beim amerikanischen Investor Bernard Madoff, der durch betrügerische Finanzspekulationen einen Schaden von 50 Mrd. Dollar verursacht hatte. Nicht anders beim Chef der HSH Nordbank Dirk Jens Nonnenmacher. Die Strafkammer sah zwar alle Tatbestände der Untreue als erfüllt an, konnte aber keine „gravierende und evidente Pflichtverletzung“ erkennen. Gleichwohl belasten die Verluste der Bank die Landeshaushalte in Kiel und Hamburg mit ca. 15 Mrd. Euro. Doch die Neigung, die Krise durch Gier oder individuelles Fehlverhalten erklären zu können, zeugt von einer Blindheit gegenüber systemischen Risiken. Die Finanzkrise ist keine Folge individuellen Fehlverhaltens. Der Finanzkapitalismus ist strukturell sündhaft.

Die systemische Ursache der Finanzkrise besteht darin, dass allein die Renditen zum Maßstab für den wirtschaftlichen Erfolg geworden sind. Die Spirale einer schier endlosen Steigerung von Renditen treibt das System an. Die Politiker hatten den Finanzmarkt dereguliert und den Banken freie Hand gegeben. Diese verweisen gern auf den anonymen Markt. Doch der Markt ist keineswegs anonym, sondern besteht aus institutionellen Anlegern, aus Banken, Versicherungen und Hedgefonds. So sind ca. 40 Prozent des US-amerikanischen Aktienkapitals in den 20 größten Investment- und Pensions-Fonds konzentriert. Nur 0,2 Prozent der Weltbevölkerung halten die Hälfte des weltweit börsennotierten Kapitals. Es gibt keinen anonymen Markt. Es gibt vielmehr eine kleine Finanzoligarchie.

Rendite erhöhen: Ganz wenige schieben ganz viel Kapital hin und her

Hinter dem sich anonym gebenden Markt herrscht ein Macht- und Funktionsgeflecht, das der Soziologe Hans-Jürgen Krysmanski ausgeleuchtet hat. Eine kleine beiläufige Randnotiz in der Süddeutschen Zeitung vom 17. November 2012 kann Licht in das Dunkel der ansonsten unsichtbar gehaltenen Welt des Superreichtums, ihren Akteuren und deren enormen Einfluss auf das Leben der Menschen geben: „Der 79-jährige US-Multimilliardär Sheldon Adelson ist einer der reichsten Männer der Welt. Sein Sponsoring hat einst Georg W. Bush zur Präsidentschaft verholfen. Nun will der Kasino-König Las Vegas in der kastilischen Einöde neu erstehen lassen. Er hat gleich eines klargemacht: Sein Projekt soll eine Art extraterritorialen Status haben, spanische Gesetze sollen nur eingeschränkt gelten. Gewerkschaften sollen keinen Zutritt haben, sogar das mühsam durchgeboxte Rauchverbot soll dort aufgehoben werden. Die konservativen Madrider Lokalpolitiker ergriffen die Gelegenheit trotzdem. In Zeiten der Massenarbeitslosigkeit ist ihnen jedes Projekt recht, das Arbeitsplätze verspricht.“

Der versteckte Superreichtum zeigt hier offen sein Gesicht: Adelson gehört mit einem Privatvermögen von 26 Milliarden US-Dollar zur schmalen Geldelite des einen Prozent der Superreichen. Nun will er in Europa eine Sonderwirtschaftszone nach seinem Gusto schaffen, wo Gewerkschaften verboten sind, Löhne abgesenkt und staatliche Gesetze suspendiert werden können. Dabei kann er noch als ein Wohltäter auftreten, der Arbeitsplätze schafft. Adelson zeigt, dass Geld ein ultimatives und grenzenloses Macht- und Herrschaftsmittel in den Händen weniger Privatleute sein kann, die sich letztlich niemandem und zu nichts verpflichtet wissen – außer der eigenen Reichtumsmehrung.

Geldelite: Der Kern und seine dienstbaren Funktionsringe

Diesem Kern einer zumeist sich verdeckt haltenden Geldelite, zu der ein Sheldon Adelson gehört, arbeitet eine Konzern- und Finanzelite zu. Sie sind die Spezialisten der Kapitalverwertung und stehen doch nur im Dienst der Geldelite. Die enorm hohen Vergütungen in der Höhe 9,3 Millionen für den Herrn Ackermann, den Ex-Chef der Deutschen Bank, oder für den ehemaligen Chef von VW, Martin Winterkorn, mit 17 Mio. Euro haben für Empörung gesorgt. Doch was sind diese immensen Einkünfte gegenüber jener Rendite in der Höhe von 815 Millionen Euro, die beispielsweise die Familie Quandt im Jahr 2015 für ihr Aktiendepot bei BMW erzielen konnte? Den nächsten Funktionsring bilden die politischen Eliten, die wie die Madrider Lokalpolitiker dem Investor Sheldon Adelson gefällig sind. Den Außenring schließlich bilden die Wissenseliten und willfährigen Wissenschaftler, die durch ihre Expertisen und Handlungsempfehlungen den Geldmachtkomplex ideologisch absichern. Dieses Funktionsgeflecht ist auf das einzige Ziel ausgerichtet, die Kapitalvermehrung zur organisieren. Das Kernproblem ist eine Geldmachtstruktur, die Reichtumsmehrung zu einem globalen Herrschaftsregime einer neo-feudalen Plutokratie gemacht hat.

In Zahlen: Die Herrschaft der Superreichen – die Aushöhlung der Demokratie

Die englische Hilfsorganisation Oxfam hat eine Studie vorgelegt, nach der das reichste eine Prozent der Weltbevölkerung über fast die Hälfte des weltweiten Reichtums verfügt. Die ärmere Hälfte der Weltbevölkerung, immerhin über 3,5 Milliarden Menschen, verfügt über genauso viel wie die reichsten 85 Menschen. Angesichts dieser ungeheuren Akkumulation von Geld, Vermögen und Macht kann man nicht von individueller Gier sprechen. Es ist ein System, das diese Verhältnisse schafft.

Wie dieses Projekt politisch abgesichert wird, hat der (damalige) Vorstandssprecher der Deutschen Bank Rolf Breuer im Jahr 2000 unverblümt ausgesprochen. Er nannte die Finanzwirtschaft „Die fünfte Gewalt“, denn sie könne staatliches Handeln wirkungsvoller als demokratische Wahlen kontrollieren. Er gab der Politik den Rat: „Wenn die Politik im 21. Jahrhundert in diesem Sinn im Schlepptau der Finanzmärkte stünde, wäre dies vielleicht so schlecht nicht.“

Die Folgen dieses Anspruchs, Politik ins Schlepptau der Finanzmärkte zu bringen, zeigen sich in der Finanzkrise und der weltweit ebenso dramatischen wie skandalösen Spaltung zwischen arm und reich. Deutschland zählt im internationalen Vergleich zu den Ländern mit der höchsten Vermögensungleichheit: Das eine reichste Prozent hat so viel wie die übrigen 99 Prozent. Ganz oben hat das oberste 0,1 Prozent, jene 80.000 Wohlhabendsten im Lande, ein Vermögen, das 16-mal so groß ist wie das ganze Vermögen der unteren Hälfte der Bevölkerung. Deutschland hat ein massives Gerechtigkeits- und Demokratieproblem.

„Neues Spiel, neues Glück“: das große Geld hoch risikoreich anlegen und verleihen

Die Welt ertrinkt in einer Geldschwemme, die mit über 200 Billionen US Dollar das Dreifache des Weltsozialproduktes beträgt. Die zunehmende Konzentration von Einkommen und Reichtum in wenigen Händen wirkt dabei wie ein Brandbeschleuniger für den Kasinokapitalismus, denn das Kapital sucht immer attraktivere Anlagen. Die erzielten Renditen werden erneut in den globalen Kapitalkreislauf gegeben und suchen immer neue Verwertungsmöglichkeiten. Institutionelle Investoren haben nur ein Ziel: die maximale Rendite. Um diese zu erreichen, wird ein Druck auf die Unternehmen ausgeübt, die Kosten zu reduzieren und dafür Steuern, Löhne, soziale und ökologische Standards zu senken. Die Investoren halten deshalb die Aktien nur solange, wie ihre Rendite-Erwartungen erfüllt werden.

Kapital kann nur dann zu einem realen Vermögen werden, wenn es investiert wird und verliehen wird. Doch erst wenn die Schuldner ihr geliehenes Geld mit Zins und Schuldensumme zurückzahlen, lässt sich Vermögen vermehren. Die Verschuldung der einen und der Vermögenszuwachs der anderen sind die beiden Seiten derselben Medaille. Deshalb rangiert der Schuldendienst an oberster Stelle. Genau das meinte der Präsident der Europäischen Zentralbank Mario Draghi, als er im „Wallstreet Journal“ ankündigte, dass das Sozialstaatsmodell ausgedient habe und oberstes Ziel sein müsse, das Vertrauen der Finanzmärkte wieder herzustellen. Das Vertrauen der Finanzmärkte wird wieder hergestellt, wenn für die Rückzahlung der Schulden mit Zinsen die Kosten des Sozialstaats „geopfert“ werden.

Schuldenerlass: für eine Geldwirtschaft, die dem Leben dient

Was hat Vorrang – die Renditeansprüche der Kreditgeber oder das Leben der Menschen? Um die Schulden bezahlen zu können, müssen die armen Länder des Südens Schulen oder Krankenhäuser schließen und im reichen Europa werden Renten gekürzt oder Löhne abgesenkt. Schulden zahlen zu müssen ist kein heiliges Prinzip, das unantastbar wäre und für das sozialen Errungenschaften wie der Sozialstaat zu opfern wären. Da ökonomisch Schulden zur Mehrung des Vermögens nötig sind, können Schulden keine Schuld sein. Umgekehrt: Die Vermögenden stehen vielmehr in der „Schuld“ der Verschuldeten, denn sie brauchen deren Verschuldung zur Mehrung ihres Vermögens. Die Vermögenden haben also denen zurückzuerstatten, denen sie ihren Reichtum tatsächlich verdanken.

Diese Zurückerstattung geschieht durch einen Schuldenerlass, bei dem diejenigen, die von der Vermögensblase und der Aufblähung der Kredite über alle Maßen profitiert haben, in Verantwortung genommen werden. Zur Lösung der europäischen Schuldenkrise bräuchte man eine Schuldenkonferenz nach dem Vorbild der Londoner Schuldenkonferenz von 1953, die nach dem Zweiten Weltkrieg einen Schuldenerlass für das hochverschuldete Deutschland vereinbart hatte. Dort könnte auch heute seine solidarische und dauerhafte Lösung für das Schuldenproblem zum Nutzen aller Beteiligten demokratisch getroffen werden. Ein Schuldenerlass ist deshalb ökonomisch vernünftig und ethisch ein Gebot der Gerechtigkeit, denn er würde die, die schuld an der Verschuldung sind und von der Verschuldung profitiert haben, in die Pflicht nehmen.

Zum Weiterlesen

  • Franz Segbers, Ökonomie, die dem Leben dient. Die Menschenrechte als Grundlage einer christlichen Wirtschaftsethik. ISBN 978-3-76662-179-5
  • Franz Segbers / Simon Wiesgickl (Hrsg.) »Diese Wirtschaft tötet« (Papst Franziskus). Kirchen gemeinsam gegen Kapitalismus. ISBN 978-3-89965-656-5
  • Marlene Crüsemann, Claudia Janssen (Herausgeber): Gott ist anders: Gleichnisse neu gelesen auf der Basis der Auslegung von Luise Schottroff, Gütersloh 2014. Darin: Franz Segbers, „Sich Freunde machen mit dem Mammon der Ungerechtigkeit.“ Eine Relektüre des Gleichnisses vom „gerissenen Verwalter“ (Lk 16,1-14) im Kontext der Finanzkrise.

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