Reformation und die Eine Welt Warum die ökumenische Vision heute wichtiger ist denn je

Die EKD hat das letzte Jahr der Reformationsdekade unter das Thema „Reformation und die Eine Welt“ gestellt. Welche Bedeutung der christlichen Vision von Ökumene in diesem Zusammenhang zukommt, zeigt Konrad Raiser, ehemaliger Generalsekretär des Ökumenischen Rates in Genf.

Mit dem Jahresthema der Reformationsdekade für 2016 soll der Blick über die Erinnerung an das Geschehen der Reformation im 16. Jahrhundert in Deutschland und Europa hinaus ausgeweitet werden auf das Zeugnis und die Präsenz reformatorischer Kirchen im Kontext der weltweiten Ökumene. Der Ratsvorsitzende der EKD, Landesbischof Dr. Heinrich Bedford-Strohm, schreibt im Vorwort zum Magazin für das Themenjahr 2016: „Lokale kirchliche Kontexte sind immer bezogen auf die eine Kirche in der Einen Welt. Die Eine Welt ist deswegen der Bezugspunkt für die geistlichen Impulse, die das Reformationsjubiläum zu setzen hat. Und genauso ist sie der Bezugspunkt für die ethischen Impulse. Denn die Eine Welt ist gefährdet – durch im wahrsten Sinne des Wortes ›himmel‹schreiende Ungerechtigkeit, durch Krieg und Gewalt und durch ein wirtschaftliches Handeln, das die Natur immer weiter zerstört.“ Er verweist insbesondere auf die globale Dimension des Klimawandels und auf die Beteiligung reformatorischer Kirchen an Schritten, die zu Klimagerechtigkeit in dieser Welt führen können, in Antwort auf den Aufruf zur Klimagerechtigkeit der 10. Vollversammlung des Ökumenischen Rates der Kirchen in Busan 2013.

Die doppelte ökumenische Dimension des Reformationsjubiläums

Das Thema „Eine Welt“ lenkt den Blick auf die ökumenische Dimension des Reformationsjubiläums. Schon früh in der Vorbereitung sah sich die evangelische Kirche genötigt, mit den römisch-katholischen Partnern zu einer Verständigung zu kommen angesichts ihrer Vorbehalte, sich an einer Jubiläumsfeier der Reformation zu beteiligen, statt bußfertig der durch die Reformation ausgelösten Spaltung der Kirche zu gedenken. Inzwischen gibt es eine Lösung für dieses vor allem in Deutschland vertraute ökumenische Problem im Sinne der Beziehung zwischen den evangelischen und der römisch-katholischen Kirche: Das Reformationsjubiläum soll als ein „Christusfest“ in ökumenischer Gemeinschaft gefeiert werden, und am 11. März 2017 wollen beide Kirchen in einem gemeinsamen Gottesdienst in Berlin Buße und Vergebungsbitte verbinden mit Versöhnungsgesten.

Aber die ökumenische Berufung der Kirchen zielt nicht nur auf die Überwindung von Lehrunterschieden und Spaltungen zwischen den Kirchen. Die ökumenische Gemeinschaft der Kirchen ist kein Selbstzweck, sondern soll ein Zeichen sein für die Erneuerung der menschlichen Gemeinschaft in Gerechtigkeit und Frieden. Der Ökumenische Rat der Kirchen hat immer wieder daran erinnert, dass „Ökumene“ in der ursprünglichen Bedeutung des Wortes für die „ganze bewohnte Erde“ steht. In den Augen Gottes reicht die Perspektive der „Einen Welt“ auch über die menschliche Gemeinschaft hinaus und umfasst die ganze Schöpfung.

Ökumene in der „Einen Welt“

Die „Eine Welt“ steht daher für eine Vision von Ökumene, die überzeugend in der Erklärung der 10. Vollversammlung des Ökumenischen Rates in Busan 2013 über „Gottes Gabe und Ruf zur Einheit – und unser Engagement“ zum Ausdruck kommt. Dort heißt es: „Die Einheit der Kirche, die Einheit der menschlichen Gemeinschaft und die Einheit der ganzen Schöpfung sind miteinander verwoben. Christus, der uns eins macht, ruft uns auf, in Gerechtigkeit und Frieden zu leben, und spornt uns an, gemeinsam für Gerechtigkeit und Frieden in Gottes Welt einzutreten. Der Plan Gottes, der uns in Christus kundgetan wird, besteht darin, in der Fülle der Zeit alles zusammenzufassen in Christus, ›was im Himmel und auf Erden ist‹“ (Epheser 1,9-10).

Einheit der Menschheit – Einheit der Kirche

Dieser biblisch begründeten Vision von der „Einen Welt“ steht die durchaus widersprüchliche Wirklichkeit der gegenwärtigen Weltsituation gegenüber. Als der Ökumenische Rat der Kirchen vor 40 Jahren eine neue Monatszeitschrift einführte, gab er ihr den programmatischen Titel „One World“. Diese Namensgebung war damals als ein bewusstes Bekenntnis zur Einheit der Menschheit gemeint und stand im Widerspruch zur gängigen Sprachregelung, die noch von der ersten, zweiten und vor allem der „Dritten Welt“ sprach. Die „eine Welt“ und die „Einheit der Menschheit“ wurden verstanden als Zielpunkte ökumenischer Aktivitäten und als Erfüllung biblischer Visionen. Eine groß angelegte ökumenische Studienarbeit über die „Einheit der Kirche und die Einheit der Menschheit“ sollte diese Zielperspektive inhaltlich begründen.

Als die Ergebnisse dieser intensiven Studienarbeit vorgelegt wurden, war die wirtschaftliche, gesellschaftliche, politische und kulturelle Verflochtenheit und Interdependenz aller Teile der Menschheit unübersehbar geworden. Ihren unbestreitbar positiven Möglichkeiten standen jedoch auch wachsende Gefahren gegenüber. In dem entsprechenden Bericht heißt es: „Im Namen von Einheit und Interdependenz sind Strukturen geschaffen worden, die durch falsche Abhängigkeit und Unterdrückung gekennzeichnet sind. Die Mächtigen beuten die Schwachen im Namen der Einheit aus. Kommerzielle und finanzielle Strukturen, die die Welt zusammenbinden, unterdrücken und versklaven. Rasse unterdrückt Rasse, und sogar die Kirche gebraucht ihre Macht, um andere einer falschen Einheit zu unterwerfen. Deshalb wäre es wohl angemessener, von der Gebrochenheit und nicht von der Einheit der Menschheit zu sprechen.“

Zwischen Vision und widersprüchlicher Wirklichkeit

Diese kritische Einsicht wurde bereits vor vierzig Jahren formuliert; sie hat an Aktualität nichts verloren. Im Zeichen der Globalisierung von Wirtschaft, Finanzen, Politik, Kultur und nicht zuletzt der Kommunikationsmittel ist die „Eine Welt“ zwar zu einer erfahrbaren Wirklichkeit geworden. Aber es handelt sich mehr denn je um eine widersprüchliche Wirklichkeit. Die eine Welt eines grenzenlosen Weltmarktes unterwirft alle Gesellschaften den harten Regeln des Wettbewerbs, denen die Armen wehrlos ausgeliefert sind. Gegen die Dominanz dieses von der westlichen Kultur individueller Freiheit geprägten Wirtschafts- und Finanzsystems erhebt sich zunehmender Protest und Widerstand im Namen traditioneller, auf die Bewahrung der Lebensfähigkeit menschlicher Gemeinschaften ausgerichteter Kulturen. Die unentrinnbare Erfahrung der „einen Welt“ erzeugt Ängste vor dem Verlust kultureller Identität und Eigenständigkeit. Terroristische Netzwerke machen den von manchen beschworenen „Kampf der Kulturen“ zu einer bedrückenden Realität. Gleichzeitig zeigt der bedrohliche Klimawandel, dass die menschlichen Gesellschaften innerhalb der Grenzen der einen Welt genötigt sind, die Fähigkeit und den Mut zu gemeinsamem Handeln zu entwickeln.

Das Jahresthema schließt die Aufforderung ein, für die im biblischen Zeugnis angelegte Verheißung der zukünftigen Einheit der Menschheit und der ganzen Schöpfung einzutreten.

Das Thema „Reformation und die Eine Welt“ schließt die Aufforderung ein, für die im biblischen Zeugnis angelegte Verheißung der zukünftigen Einheit der Menschheit und der ganzen Schöpfung einzutreten. Aber dabei muss im Sinne eines „eschatologischen Realismus“ bewusst bleiben, dass diese „eine Welt“ von tiefen Widersprüchen und bedrohlichen Gefahren geprägt ist. Die vor bald sechzig Jahren von der Evangelischen Kirche ins Leben gerufene Aktion „Brot für die Welt“ bleibt bis heute eine der wichtigsten kirchlichen Initiativen, diesen Widersprüchen konstruktiv zu begegnen. Das gilt auch für die neueren Aktionen der Kirchen für nachhaltige Entwicklung und für eine wirksame Antwort auf die Bedrohungen des Klimawandels.

Vom Konziliaren Prozess für Frieden, Gerechtigkeit und Bewahrung der Schöpfung…

Der bei der 6. Vollversammlung des Ökumenischen Rates der Kirchen in Vancouver (1983) ins Leben gerufene „Konziliare Prozess für Gerechtigkeit, Frieden und die Bewahrung der Schöpfung“ hat vor allem in den reformatorischen Kirchen in Deutschland und Europa ein starkes Echo ausgelöst. Die programmatische Ausrichtung des Prozesses und die bei der Weltversammlung in Seoul 1990 formulierten zehn Grundüberzeugungen haben seither als Leitlinien für das konkrete Engagement von Kirchen und christlichen Gruppen für die „Eine Welt“ gedient. Das gilt sowohl für die neue friedensethische Orientierung am Leitbild des „gerechten Friedens“, wie auch für die kritische ökumenische Auseinandersetzung mit den Auswirkungen der Globalisierung, an der sich sowohl die Weltgemeinschaft der Reformierten Kirchen wie auch der Lutherische Weltbund intensiv beteiligt haben.

Im Blick auf die „Bewahrung der Schöpfung“ hat der Ökumenische Rat schon vor 25 Jahren auf die bedrängende Herausforderung des Klimawandels hingewiesen und seit dem Erdgipfel in Rio de Janeiro 1992 alle Konferenzen zur Umsetzung der Klima-Rahmenkonvention durch ökumenische Delegationen begleitet. Die nachdrücklichen Initiativen des Ökumenischen Patriarchen Bartholomäus I. und die Enzyklika von Papst Franziskus „Laudato Si‘“ haben diesem Engagement zusätzliches ökumenisches Gewicht gegeben.

… zum Pilgerweg der Gerechtigkeit und des Friedens

Der Ökumenische Rat der Kirchen hat bei seiner letzten Vollversammlung im Busan (2013) die Kirchen und alle Menschen guten Willens eingeladen zu einem „Pilgerweg der Gerechtigkeit und des Friedens“. Auch bei den Kirchen in Deutschland hat sich die gut reformatorische Einsicht durchgesetzt, dass Gerechtigkeit und Frieden weniger langfristige Ziele als vielmehr Kennzeichen eines Transformationsprozesses sind, geleitet von der Vision der „Einen Welt“. So wurde 2013 der ökumenische Prozess „Umkehr zum Leben – den Wandel gestalten“ ins Leben gerufen.

Dieser Prozess, der inzwischen von über dreißig Kirchen und kirchlichen Einrichtungen und Organisationen getragen wird, versucht viele Impulse im Blick auf die Frage des Klimawandels und die Schritte für die notwendige Transformation zu bündeln und in ein gemeinsames Aktionsprogramm zu überführen. Zu diesen Impulsen gehören:

  • die 2007 von Kirchen, kirchlichen Entwicklungsdiensten und Missionswerken initiierte entwicklungspolitische Klimaplattform unter dem Titel „Klima der Gerechtigkeit“;
  • die 2009 erschienene Denkschrift der EKD Kammer für nachhaltige Entwicklung „Umkehr zum Leben. Nachhaltige Entwicklung im Zeichen des Klimawandels“;
  • das 2011 veröffentlichte „Klima-Memorandum“ des Plädoyers für eine ökumenische Zukunft;
  • das große Gutachten des WBGU über die „Welt im Wandel. Gesellschaftsvertrag für eine Große Transformation“ (2011), dessen Analysen Grundlage waren für den Transformationskongress in Berlin 2012, bei dem erstmals die Gewerkschaften, der BUND, sowie kirchliche Organisationen gemeinsam über die notwendigen Schritte der Transformation beraten haben;
  • und schließlich die Erklärung der Vollversammlung des ÖRK in Busan 2013 zur „Klimagerechtigkeit“.

Der „Pilgerweg der Gerechtigkeit und des Friedens“ ist daher die zutreffende ökumenische Übersetzung des Themas „Reformation und die Eine Welt“.

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