Das faszinierende Böse und das langweilige Gute Warum uns das Böse in seinen Bann zieht und wo die Faszination ihre Grenzen hat

Im Film faszinieren uns oft eher die Anti-Helden, die Schurken und Mörder. Im echten Leben, als Christen, streben wir nach dem Guten. Vikar Raphael Zager geht dieser Diskrepanz auf den Grund.

Zu den Sternstunden der Filmgeschichte zählt die Szene, als die junge FBI-Anwärterin Clarice Starling sich in eine forensische Psychiatrie zu dem gefürchteten Mörder und Kannibalen Hannibal Lecter begibt. Eine dicke Panzerglasscheibe trennt nicht nur die beiden – sie trennt Welten. Auf der einen Seite die Musterschülerin, die brave Tochter eines Polizisten. Und auf der anderen Seite? Kein Monster, kein verrückter Sadist, sondern Dr. Hannibal Lecter: hochintelligent, umfassend gebildet, rhetorisch gewandt und zugleich abgründig, manipulativ, unberechenbar. Selten hat ein Bösewicht derart fasziniert. 1992 räumte „Das Schweigen der Lämmer“ fünf Oskars ab. Doch was fasziniert an diesem Menschen, an dieser Figur Hannibal Lecter?

Was fasziniert uns am Bösen? Und warum scheint das Gute oft so langweilig? Und: Wie viel Böses ist akzeptabel? Wird doch der Faszination des Bösen gesellschaftlich ein Raum gegeben und das Böse in bestimmten Kontexten sogar verehrt. Auf der anderen Seite gibt es einen Konsens, bestimmte Formen des Bösen abzulehnen und zu ächten: von der Sexualstraftat eines Pädophilen über die Gräueltaten des nationalsozialistischen Regimes bis hin zur völkerrechtswidrigen Invasion Russlands in die Ukraine.

Warum das Böse fasziniert

Rudolf Otto hat in seinem Werk „Das Heilige“ Gott als das mysterium tremendum und mysterium fascinans bezeichnet. Gott macht es demnach zu Gott, dass er Menschen sowohl im positiven Sinne fasziniert als auch erschaudern lässt. Doch wird nicht auch der Mensch gerade dadurch interessant, dass es in ihm sowohl (positiv) faszinierende als auch erschaudernde Anteile gibt?

Wenn wir uns fragen, was die Faszination des Bösen ausmacht, so ist zunächst eine Unterscheidung hilfreich. Paul Ricœur differenziert zwischen 1) dem moralischen Bösen, d.h. dem begangenen Übel (= ›Sünde‹), 2) dem Bösen als Widerfahrnis, d.h. dem erlittenen Übel (=›Leiden‹) und 3) dem Bösen als einer metaphysischen Größe, die gleichsam die „gemeinsame Wurzel von Sünde und Leiden“ darstellt (vgl. dazu Paul Ricœur: Das Böse. Zürich 2006, S. 16–19).

Die Faszination des moralischen Bösen scheint darin zu liegen, dass gegen die geltende Norm verstoßen wird. Kommt doch darin die Freiheit zum Ausdruck, nach eigenen Gesetzen zu leben. Auch dem erfahrenen Bösen kann eine Faszination eignen – insbesondere dann, wenn man selbst nicht unmittelbar von dem Leiden betroffen ist. Der gesellschaftlich akzeptierte und weitverbreitete Voyeurismus zeigt sich bereits daran, wie viele Krimi-Serien zur besten Sendezeit im Fernsehen laufen. Auch in Buch-Form sind Krimis und Thriller mit großem Abstand das beliebteste Genre der Deutschen. Interessant zu beobachten ist: Am meisten gefragt ist nicht die ungezügelte Gewalt, der abgründige Horrorfilm, sondern der Kriminalfall. Der alte Kampf zwischen Gut und Böse, eingehegt in den Konflikt zwischen Verbrecher und Ermittelnden. Wäre der Tatort noch die allsonntägliche Lieblings-Serie der Deutschen, gäbe es da nicht die beruhigende Gewissheit, dass nach 90 Minuten der Fall ›gelöst‹ ist? Dass die heile Welt wieder hergestellt wird?

Ist das Gute langweilig?

Die entgegengesetzte Frage nach der ›Banalität des Guten‹ – um Hannah Arendts Begriff einmal umzukehren – lenkt den Blick auf den Biedermann, den Spießer, den Opportunisten. Warum strömt eine Person, die stets versucht, sich an die Regeln und gesellschaftlichen Normen zu halten, so wenig Faszination aus? Ihr Handeln und die zugrunde liegenden Motive scheinen vorhersehbar, ihr Lebensstil zwar wohl geordnet, aber wenig aufregend. Der rumänische Philosoph Emil Cioran schreibt: „Schüchtern, ohne Dynamik, ist das Gute unfähig, sich mitzuteilen, das viel eifrigere Böse will sich übertragen und erreicht es, denn es besitzt das zweifache Privilegium, faszinierend und ansteckend zu sein“ (Emil Cioran: Die verfehlte Schöpfung. Frankfurt a.M. 1981, S. 13).

Wäre Goethes „Faust“ zum herausragendsten Werk der deutschen Literaturgeschichte geworden, gäbe es nicht Mephisto?


Dennoch, auch das Gute fasziniert. Wenn jemand Zivilcourage zeigt, indem er sich gegen das Böse wendet und dem Mitmenschen hilft. Da ist das Gute attraktiv. Das Böse dagegen, das Wegschauen der anderen, stößt mich ab. Gerade in Gesellschaften, die vom Bösen dominiert werden, gewinnt das Gute an Faszination. Und zwar interessanterweise aus demselben Grund, aus dem das Böse in funktionierenden Gesellschaften fasziniert: Weil es gegen die Norm verstößt. Weil es aus einer inneren Haltung heraus erwächst, die das Gegebene (das Böse) nicht akzeptieren will. Ich denke hier an Menschen wie Sophie Scholl, Graf von Stauffenberg oder in unserer Zeit: all die mutigen und selbstlosen Journalist*innen, die in den Unrechtsstaaten dieser Welt ihre Stimme erheben.

Die Grenzen der Faszination

Innerhalb einer jeden Gesellschaft werden die Grenzen dessen, was gut und was böse ist, unterschiedlich gesteckt und im Diskurs ausgehandelt. Nicht alle diese Grenzen sind gesetzlich definiert und auch innerhalb ein und derselben Gesellschaft variieren sie je nach geteilter Kultur, nach Milieu oder Generation.

Als Christ weiß ich einerseits um die eigene Verantwortung gegenüber dem Nächsten und der Schöpfung. Zugleich wird mir auch die eigene Fehlbarkeit und der Hang zum Bösen immer wieder schmerzlich bewusst. Die Kirche erfüllt hier eine zweifache Aufgabe: Zum einen vermittelt sie ethische Orientierung und animiert dazu, im christlichen Sinne gut zu leben und zu handeln. Zum anderen begleitet sie Menschen, die an der Existenz des Bösen in der Welt und der Ambivalenz ihres eigenen Lebens leiden: Ob in der Seelsorge, im gottesdienstlichen Leben, oder auch in der Religions- und Gemeindepädagogik.

Das Böse fasziniert, es zieht uns in seinen Bann. Dies tut es aber in bestimmten Grenzen, wollen wir doch möglichst nicht selbst von den durch das Böse hervorgerufenen Übeln betroffen werden. Gerne schaue ich einen schaurigen Film von meinem heimischen Sofa aus (und kann ihn am Ende wieder ›abschalten‹). Auge in Auge möchte ich dem Mörder aber lieber nicht gegenüberstehen. In der realen Begegnung verliert das Böse seine Faszination und offenbart sein eigentliches Wesen. Es ruft in uns das Unrechtsbewusstsein wach und führt (im Idealfall) in den Widerstand. Das Gute scheint nun gar nicht mehr langweilig, sondern erstrebenswert, ja geboten.

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