Ein gedankenloser, gewöhnlicher, karriereorientierter Mensch Zur „Banalität“ bösen Denkens, Urteilens und Tuns

Adolf Eichmann organisierte die Bahnfahrten mit Viehwagen, in denen die Juden in die Vernichtungslager gefahren wurden. Hatte er kein Gewissen, oder trieb ihn persönliche Boshaftigkeit? Hannah Arendt leitet das „Böse“ nicht metaphysisch her, sondern leuchtet seinen totalitären Nährboden aus. Das bleibt aktuell.

Einer der meist diskutierten – und dennoch eher wenig verstandenen – Untertitel von Hannah Arendt ist der ihres Berichts über den Eichmann Prozess in Jerusalem: „von der Banalität des Bösen“. Wie kam es wohl zu diesem Untertitel mit dem „Bösen“ als Substantiv? Ist er auch aus der europäischen, d.h. christlichen Tradition inspiriert „… und erlöse uns von dem Bösen“?

Arendt, die von der Philosophie her kam, machte später politische Wissenschaften zu ihrem Fach. In diesem Bericht wies sie auf eine neue Möglichkeit hin, nach der ein „Schreibtischtäter“ seine Verbrechen aus der Ferne begehen kann, ohne dabei einen einzigen Menschen mit seinen eigenen Händen getötet zu haben. Ein solcher Täter konnte sich selbst dabei als gesetzestreuen Bürger betrachten, der „nur“ den Befehlen seiner Vorgesetzten gehorchte. Arendt betrachtete diese moderne Möglichkeit sowohl juristisch als auch moralisch und natürlich politisch und erkannte die neue Gefahr, die der Gesellschaft droht.

Ein Mörder ohne eigene Mordtat in totalitärem Umfeld

Der Versuch, den Mörder – obwohl getrennt von der Tatausführung – juristisch dennoch als Mörder einzustufen, war ein neuer Gedanke, sowohl in der Realität als auch in den verschiedenen Reflexionen darüber. Arendt erkannte in einem solchen neuen Tätertypus ein Produkt aus einer totalitären Atmosphäre, die in der umgebenden Gesellschaft herrschte.

Zu diesem Zeitpunkt war ihr Buch Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft. Antisemitismus, Imperialismus, Totalitarismus (EuU), das 1950 auf Englisch und erst 1955 auf Deutsch erschien, noch nicht so verbreitet. Es scheint, dass ihre sehr frühen Gedanken zum Totalitarismus – d.h. dem sowjetischen ebenso wie dem nationalsozialistischen – diese Einsichten hervorbrachten. Während Arendt für die beiden ersten Teile in diesem Buch auf historisches und literarisches Quellenmaterial zurückgreifen konnte, musste sie sich den Hintergrund für den dritten Teil neu erarbeiten. Ihre These: „Der Kampf um totale Herrschaft im Weltmaßstab und die Zerstörung aller anderen Staats- und Herrschaftsformen, ist jedem totalitären Regime eigen…“ (EuU, 1962, S. 579). Sie war „die erste Theoretikerin, die das Phänomen des Totalitarismus als eine in der Menschheitsgeschichte völlig neue Form politischer Macht verstand“ (EuU, 1986 –TB, S.407ff).

Arendts Nachdenken über die Totalitarismen des 20. Jahrhundert schlossen auch Formulierungen über „das Böse“ ein. Dies geschah zu einem Zeitpunkt, als man in der abendländischen Philosophie die totalitären Geschehnisse primär in moralischen Kategorien diskutierte. Die unterschiedlichen Sichtweisen führten zu großen Zerwürfnissen, auch unter Freunden. Zahlreiche Debatten scheinen mir als Vorstellungen von Philosophie wie von Theologie, die beide näher zueinander führen.

Hat das moralisch Böse einen dualistischen metaphysischen Hintergrund?

Hannah Arendt kam aus einem bewusst jüdischen Elternhaus, das allerdings der langen jüdischen Tradition keinen Raum bot. So hat die Tochter ihr Studium in der Philosophie begonnen und „Über den Liebesbegriff bei Augustin“ (1928) promoviert. Die jüdische Bibel (bei Christen „Altes“ Testament genannt) war ihr nur marginal bekannt. Deshalb war der primäre Versuch, die Gottheit als erhaben und getrennt von der von uns Menschen wahrnehmbaren Welt zu beschreiben, kein Teil ihrer Assoziationen. Hannah Arendt war mit der jüdischen Denkwelt nur insoweit vertraut, als diese nicht um Glaubensfragen kreiste. Doch war ihr die nächste Entwicklung in Europa – mit Beginn des Christentums – sehr gut bekannt. In Marburg hat sie als Studentin bei dem evangelischen Theologen Rudolf Bultmann mit großem Interesse am Zwischenfeld Philosophie/Theologie gehört.

Sie verfolgte mit Interesse eine weitere Etappe der Klärung in diesem Feld, als sie die Gedanken zum Dualismus kennen lernte; also die Fragen, ob es womöglich zwei Götter gäbe, die bei diesen Gedanken berücksichtigt werden müssten. Vor diesem Hintergrund versuchte Arendt auch die Person Eichmann einzuordnen. Sie kritisierte den Ablauf des Eichmann-Prozesses, vor allem die Darstellung des Angeklagten durch den Generalstaatsanwalt Gideon Hausner. Die Anklage versuchte, Eichmann als ein mörderisches „Monster“ darzustellen, während Arendt einen ganz neuen Typus Massenmörder sah, ohne böswillige, zwangsläufig mörderische Motive. Sie schrieb Eichmann auch zu, was sie als „Gedankenlosigkeit“ definierte, eine Unfähigkeit, aus der Sicht Anderer zu denken.

Wie definiert man ungeheuerliche Verbrechen bar monströser Ambitionen?

Arendt erklärte, dass sie in dem Buch nicht versucht habe, eine umfassende Theorie über die „Natur des Bösen“ zu formulieren, sondern auf ein Phänomen hinweisen wollte, das sie während des Prozesses identifiziert habe. Mit dem Begriff „Banalität des Bösen“ meinte Arendt zwei miteinander verflochtene Dinge:

Erstens war Eichmann kein ›teuflischer‹ Mensch. Sie hielt ihn auch nicht für extrem antisemitisch. Er war ein gewöhnlicher Mensch. Er hatte keine besonderen Ambitionen, die zu seinem Handeln führten, außer seinem Wunsch, in seiner Arbeit voranzukommen. Seine Handlungen waren ungeheuerlich, aber der Mann selbst war banal. Der Ausdruck „die Banalität des Bösen“ weist auf das Paradox hin, das von der totalitären Gesellschaft geschaffen wurde, dass nämlich ein beispielloses Verbrechen am besten gerade von einem gewöhnlichen bürokratischen Apparat begangen wurde. Der großen Kluft zwischen den Dimensionen des Verbrechens einerseits und der Einzigartigkeit des Verbrechers lagen theologische, philosophische, moralische und rechtliche Traditionen zugrunde, von Augustinus bis Kant. Diese gingen davon aus, dass böse Taten auch aus bösen Absichten stammen müssen, und dass das Ausmaß des Bösen, das sich in Verbrechen manifestiert, dem Grad der Bosheit der Motive entsprechen muss.

Eichmann war kein ›teuflischer‹ Mensch.

Das Zweite, was Arendt an Eichmann ausmachte, war „Gedankenlosigkeit“, eine Eigenschaft, die sie als „eine fast vollständige Unfähigkeit, die Dinge aus der Sicht Anderer zu sehen“, interpretierte. Damit entlastete sie ihn jedoch nicht von der Verantwortung für sein Handeln. Die Lehre aus dem Eichmann-Prozess sei ihrer Ansicht nach, dass eine Gedankenlosigkeit – die keineswegs mit Dummheit gleichzusetzen ist – „mehr Zerstörung anrichten kann als alle bösen Instinkte, die es im Menschen geben kann“. Ihr Hauptargument war, dass Eichmann in der Atmosphäre Nazideutschlands nicht zwischen Gut und Böse unterscheiden konnte. Arendt beschrieb ihn als einen „neuen Typus Krimineller“ der seine Verbrechen „unter Umständen begeht, die ihm fast jede Möglichkeit nehmen, zu wissen oder zu fühlen, dass er Unrecht tut“.

In der deutschen Gesellschaft hatte die Stimme des Gewissens keine Hörer*innen

Was an Arendts Behauptung über die „Banalität des Bösen“ so schwer zu akzeptieren ist – und die Idee, die den Widerstand gegen das Buch in Israel hervorrief – ist, dass es von einer neuen Art von Gewissen ausgeht. Anders als das Urteil im Prozess aussagte, glaubte Arendt nicht, dass Eichmann auf die Stimme des Gewissens gehört hatte oder dass er kein Gewissen gehabt hätte, sondern dass die Stimme des Gewissens der deutschen Gesellschaft ihm nicht sagte, er sollte sich wegen seiner Taten schuldig fühlen. So wie in aufgeklärten Ländern das Gesetz davon ausgeht, dass die Stimme des Gewissens allen sagt: „Du sollst nicht morden“, so forderte das Gesetz in Hitlers Land, dass die Stimme des Gewissens allenfalls sagte: „Töte“. Tatsächlich war eine von Eichmanns Behauptungen im Prozess, „dass es keine Stimmen von außen gab, die sein Gewissen bestärkten“.

Die Brutalität des banal Bösen besteht laut Arendt in Eichmanns organisierter Gedanken- und Verantwortungslosigkeit gepaart mit dem „unbedingten“ Gehorsam, auf den er sich wiederholt berufen habe. Darin beschreibt sie Adolf Eichmann als überzeugungslosen Technokraten, der sich als bloßes Werkzeug seiner Vorgesetzten stilisiert habe.

Als Mensch gerecht bestraft – ein einzigartiger Verbrecher war er nicht

Es lohnt sich, auf Arendts Genauigkeit hinzuweisen: Nirgendwo in Arendts Buch spricht sie die Nationalsozialisten im Allgemeinen oder Eichmann im Besonderen von Schuld frei. Doch wandte sie sich vehement gegen das bekannte Bild von der „Schraube im System“. Eichmann, argumentierte sie, sei als Mensch angeklagt worden; eine einzelne Person stand vor Gericht und nicht das gesamte NS-Regime. Im Gegensatz zu vielen ihrer Freund*innen hatte sie sich nicht gegen das Urteil gegen Eichmann – die Todesstrafe – geäußert. Im Nachwort einer späteren Ausgabe hat sie auch begründet, weshalb sie dieses Urteil für angemessen hielt und befürwortete.

Über viele Jahrzehnte hatte Arendt in Israel den inoffiziellen Status einer Ausgestoßenen. Ihre Bücher wurden weder ins Hebräische übersetzt noch diskutiert, weder in der Wissenschaft noch in der Öffentlichkeit. Es war tatsächlich ein politisch-intellektueller Boykott. Eichmann in Jerusalem wurde erst im Jahr 2000 auf Hebräisch veröffentlicht, und bis dahin war der israelische Leser nicht mit dem Text selbst in Berührung gekommen. Erst 2010 erschien Arendts bahnbrechendes Buch Elemente und Ursprüche totaler Herrschaft in Adit Zertals Übersetzung.

„Es wird ein Tag kommen, den du nicht erleben wirst, an dem dir die Juden in Israel ein Denkmal errichten werden“, schrieb der Philosoph Karl Jaspers 1963 an seine enge Freundin Hannah Arendt. Im Israel des Jahres 2022 hat Arendt noch kein Denkmal…

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