Das Schein-Problem des Bösen Plädoyer für einen kritischen Begriff

Das Böse ist weder einfach ein dunkles Gegenprinzip zum Guten, noch ein charakterlicher Defekt. Es gehört vielmehr zu den Grundtendenzen unserer Existenz. Deshalb sollte das Böse auch nicht ausschließlich als diskriminierender und diffamierender Begriff verwendet werden.

Aufklärung des Bösen

Der Begriff des moralisch Bösen ist ein stark wertender Begriff, anders etwa als der Begriff des bloß Unmoralischen oder nur Schlechten. Mit dem Bösen verbunden sind dramatische Assoziationen und Bilder, die eher an Mythen als an unsere alltägliche Lebenswelt erinnern. Doch kommen wir an dem Begriff des Bösen nicht vorbei, wenn wir die Gründe für unmoralisches Handeln verstehen wollen, welches immer schon Teil unserer Lebenswelt war und es auch weiterhin sein wird, so lange wir uns als freie Wesen verstehen. Auch gerade dann, wenn wir uns als aufgeklärt verstehen wollen, kommen wir nicht daran herum, den Begriff des Bösen weiter für sinnvoll zu halten. Wir benötigen jedoch einen Begriff des Bösen, der nicht andere Menschen oder Gesellschaften stigmatisiert, sondern einen aufgeklärten Begriff des Bösen.

Theorien des Bösen

Die Geschichte der Philosophie kennt verschiedene Theorien des Bösen. Die Privationstheorie des Bösen besagt, dass das Böse etwas prinzipiell Defizitäres ist, das sich aus menschlichem Unvermögen, Schwäche oder einem Mangel an Freiheit und Reflexion speist. Dem gegenüber steht die Auffassung der Perversionstheorie, wonach das Böse kein Mangel an Sein oder Freiheit ist, sondern nur eine andere Seinsweise, die die gute Ordnung nicht bekräftigt, sondern diese vielmehr aktiv auf den Kopf stellt, also pervertiert und damit letztlich zerstört. Mit dieser Auffassung des Bösen geht die Annahme der vollen moralischen Verantwortlichkeit des Menschen für sein Handeln einher und die Ansicht, dass das Gute wie das Böse gleichermaßen mögliche und wirkliche Formen unserer Freiheit sind.

Folgt man der Perversionstheorie des Bösen, so betrifft es nicht so sehr dunkle mythologische Szenarien, sondern eine landläufige Grundtendenz unseres Denkens, Wollens und Handelns, uns über moralische Grenzen hinwegzusetzen, die sich in verschiedenen Formen und Graden ausprägen kann. Das Böse hat Gründe. Doch sind diese Gründe so verfasst, dass sie nur schwer als unmoralische Gründe ausweisbar sind. Denn wer böse oder unmoralisch handelt, handelt nur in seltenen Fällen bewusst böse. Vielmehr wird er oder sie versuchen, die eigenen Handlungen als im Grunde gerechtfertigt darzustellen. Es gilt daher, diesen Schein des Guten aufzudecken und damit mittelbar auch zur Verbesserung unserer Handlungen beitragen.

Ein aufgeklärter Begriff des Bösen

Wir können gerade in einer aufgeklärten Gesellschaft nicht auf den Begriff des Bösen verzichten, so lange wir uns als freie und selbstbestimmte Individuen verstehen wollen. Das Böse ist wie das Gute eine Form menschlicher Freiheit. Gerade am Bösen zeigt sich jedoch, wie prekär unsere Freiheit ist, denn hier wird unsere Zurechenbarkeit im Falle von Schuld besonders greifbar.

Dennoch sollten wir den Begriff des Bösen nicht unbedacht verwenden. Wir benötigen daher einen kritischen Begriff des Bösen, der in der Einsicht besteht, dass Zuschreibungen des Bösen immer auch missbräuchlich geschehen können. Wer den Begriff des Bösen verwendet, muss immer auch für möglich halten, dass seine oder ihre Handlungen selbst böse sein könnten. Der Begriff des Bösen sollte deshalb als ein reflexiver Begriff gefasst werden: Böse handeln nicht immer nur die anderen, sondern prinzipiell auch wir selbst, gerade auch dann, wenn wir andere als böse bezeichnen. Wir können sehr wohl darin böse sein, andere ungerechtfertigt als böse zu stigmatisieren und uns über sie zu erheben. Tatsächlich wird der Begriff des Bösen oft missbräuchlich verwendet, um Machtinteressen gegenüber dem Anderen durchzusetzen. Die Rede von der „Achse des Bösen“ ist hierfür nur ein Beispiel. Daraus darf man jedoch nicht den Schluss ziehen, dass wir auf den Begriff des Bösen ganz verzichten sollten. Wir sollten vielmehr bei der Begriffsverwendung immer bedenken, dass auch wir selbst – und nicht nur der Andere – unter den Begriff fallen, sprich böse handeln können.

Böse handeln nicht nur die anderen, sondern prinzipiell auch wir selbst.

Sobald der Begriff des Bösen nicht mehr ausschließlich auf den Anderen gerichtet ist, sondern reflexiv gebraucht wird, ist er nach wie vor ein geeignetes, ja notwendiges Instrument der moralischen Diagnose. Daneben ist es wichtig zu betonen, dass ein solcher kritischer Begriff des Bösen nicht Personen oder Gesellschaften essentialistisch fasst, sondern immer nur Strukturen, die prinzipiell zum Guten verändert werden können. Gerade dazu sollte ein kritischer Begriff des Bösen beitragen, indem er nie in ausschließlich diskriminierender und diffamierender Weise, sondern auf eine diagnostische Art moralische Missstände benennt und offenlegt, um im Anschluss konstruktiv das Gute zu suchen.

Die Freiheit des Bösen

Der Begriff der individuellen Freiheit wird so zum Schlüssel eines möglichen Verständnisses des Bösen. Trotz aller Dunkelheit hat das Böse eine Gestalt und eine Form. Das Böse ist oftmals nichts Wildes und Unbeherrschtes, sondern gewinnt seine ganze Schärfe durch eine Stille, durch eine Kälte und Bedachtsamkeit. Diese Phänomenologie der Kälte lässt sich weiter analysieren. Es sind die Unmerklichkeiten der Produktion von Schein, die heimlichen Operationen und Rechtfertigungsstrategien, die das Böse charakterisieren.

Gut und Böse sind keine kontradiktorischen Gegensätze, weil das Gute dem Bösen vorgeordnet ist. Diese Vorordnung ist jedoch nicht derart zu verstehen, dass das Böse weniger existent wäre, denn böse Handlungen sind ebenso real wie gute, ja sie scheinen sogar mehr Bedeutung und Aufmerksamkeit zu erfahren als gute Handlungen. Vielmehr bietet das Gute diejenige formale Orientierung und Rechtfertigung, die auch derjenige in Anspruch nehmen muss, der böse handelt. Wer böse handelt, der missbraucht das Gute, indem er seine Handlungen scheinhaft rechtfertigt, wodurch er das Gute implizit immer schon voraussetzen muss.

Kants Moralphilosophie bietet verschiedene Antworten, das Böse so zu verstehen, dass es weder als ein Gegenprinzip zum Guten noch als ein bloßer Mangel des Guten verstanden werden muss. Kant spricht von einem „Hang zum Bösen“, von unserem „Eigendünkel“. Besonders zentral ist dabei sein Begriff des Vernünftelns. Durch diesen Begriff gelingt es Kant, das Böse so zu bestimmen, dass es weder ein dunkles Gegenprinzip zum Guten darstellt, noch zu einer charakterlichen oder empirischen Äußerlichkeit wird, wie im Falle der Tugendethik und des Konsequentialismus. Wer vernünftelt, der versucht nach Kant, seine Handlungen mit Blick auf ein scheinbares Gutes zu rechtfertigen, und in dieser falschen, aber mitunter sehr intelligenten Rechtfertigung liegt gerade der zurechenbare Grund unserer bösen Handlungen. Es ist ein Grund, der jeden und jede von uns, insofern wir endliche Vernunftwesen sind, betrifft.

Das „radikale Böse“ entspringt unserer Freiheit.

Nach Kant ist das Böse also kein bloßer Defekt, der behoben werden soll und kann, sondern eine Grundtendenz unserer individuellen Existenz, die unserer individuellen Freiheit entspringt. Kant nennt dies das „radikale Böse“. Am Ende einer privativen Auffassung des Bösen, zu der die Tugendethik und der Konsequentialismus neigen, stünde der perfekte Mensch. Den perfekten Menschen kann und wird es nicht geben – auch wenn er noch so sehr technologisch modifiziert wird. Was aber erstrebenswert und möglich ist, ist, dass der Mensch sich über seine eigene prinzipielle Freiheit zum Bösen in seinem Handeln stets bewusst ist. Damit wäre schon viel gewonnen.

Vom Scheinproblem zum Schein-Problem

Das Problem des Bösen bleibt eine offene Frage. Weder haben fortschreitende Aufklärung und Technik es austreiben noch neurowissenschaftliche Erkenntnisse es greifbarer machen können. Das Problem des Bösen ist jedoch nicht schon dadurch geklärt, dass wir es als ein Scheinproblem ad acta zu legen versuchen. Das Böse ist kein Scheinproblem, sondern ein Schein-Problem: Es ist insofern problematisch, als es Schein erzeugt und wir darin andere und uns selbst täuschen. Es als bloßen Schein, als Nichtexistenz abzutun, kommt dem Bösen daher entgegen, da es sich so unmerklich vergrößern kann. Deswegen beginnt das Böse gerade im Kleinen und Un-Scheinbaren.

Die ganze Schärfe des Bösen liegt also in seiner heimlichen, selbst-täuschenden Operationsweise begründet. Es setzt auf die Strategie der Rechtfertigung: Die Aus-Rede ist sein Wesen. Begreifen wir das Bösen in dem Sinne, dass wir es als eine radikale Grundtendenz verstehen, die alle Menschen, gerade auch uns selbst, prinzipiell und ausnahmslos betrifft, so stehen wir immerhin am Anfang einer Selbsterkenntnis, die die Möglichkeit eröffnet, das Böse in seiner virulenten Energie am Ende doch noch ins Gute zu wenden.

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