Denkende Religion statt Moralismus Begegnung mit dem Theologen F.W. Graf

Wer sich mit der Zukunft der Kirche beschäftigt, der stößt schnell auf Friedrich Wilhelm Graf. Der emeritierte Professor für Systematische Theologie sorgt mit kritischen Äußerungen zum Zustand der evangelischen Kirche immer wieder für Aufsehen. Was muss sich nach seiner Meinung ändern?

Wir haben bei Graf nachgefragt und ihn in seinem Büro in München getroffen. Daneben haben wir in seinen Büchern, Aufsätzen und Interviews nachgelesen. Entstanden ist das Bild eines Theologen, der sich Sorgen macht um den Zustand der evangelischen Kirche und der von den Repräsentanten in der Theologie das einfordert, was der Philosoph Georg Friedrich Wilhelm Hegel „Anstrengung des Begriffs“ nennt.

Kirchendämmerung

Friedrich Wilhelm Graf Prof. em. Dr. Dr. h.c. Friedrich Wilhelm Graf ist protestantischer Theologe und emeritierter Professor für Systematische Theologie und Ethik an der Universität München (Foto: Wikipedia, Dontworry, CC-BY-SA 4.0).

Graf sieht wesentliche Gründe für den Bedeutungsverlust der Kirchen bei diesen selbst. Dies erklärt auch die Schärfe der Kritik an den eigenen Kirchenrepräsentanten. In seinem Buch Kirchendämmerung. Wie die Kirchen unser Vertrauen verspielen listete er schon 2011 Fehlentwicklungen auf, die nach seiner Meinung den Krebsschaden einer sich ausbreitenden Kirchenverdrossenheit verursachen.  Die Darstellung im Eingangstext des Bandes hat an Brisanz bis heute nichts verloren: „Die Kirchen in Deutschland erleben eine beispiellose Austrittswelle. Was läuft schief? Nur auf die Missbrauchsskandale zu verweisen greift zu kurz. Die Gründe liegen tiefer“. Sie bestehen nach Friedrich Wilhelm Graf vor allem in den „sieben Kardinal-Untugenden der Kirchen: die verquaste Sprache der Theologen, der selbstgerechte Moralismus der Funktionäre, die Bildungsferne der Gottesdienste, die Demokratievergessenheit politischer Interventionen, die weltfremde Selbstherrlichkeit der Würdenträger, der Abschied von einem pluralistischen Christentum sowie der Paternalismus kirchlicher Sozialmanager.“ Grafs Analyse der kirchlichen Missstände will wachrütteln, damit die Kirchen ihrer gesellschaftlichen Aufgabe in Zukunft besser gerecht werden. Denn: „Die deutschen Kirchen sind stark verfilzte Organisationen mit Funktionären, die gern unter sich bleiben und in einem verquasten Stammesidiom kommunizieren.“

Religion – nicht Moral

Ein zentraler Kritikpunkt ist der Vorwurf des Moralismus. Für Graf ist das so etwas wie eine Ursünde im zeitgenössischen Protestantismus, unverzeihlich und selbstzerstörerisch. „Was wir in der Geschichte vor allem der Bundesrepublik erlebt haben, ist im Grunde die permanente Moralisierung der religiösen Kommunikation. Wenn einem nichts mehr einfällt, wirklich überhaupt nichts mehr, dann fällt einem noch Moral ein. Moralisieren ist nämlich eine intellektuell relativ anspruchslose Veranstaltung. Und wenn Sie sich das anschauen, was Bischöfe oder Ratsvorsitzende so verlautbaren, dann sind das fast immer moralische Pathosbotschaften, zum Beispiel im Bereich der Biopolitik, und da wird immer versucht, moralische Eindeutigkeit zu erzeugen“, kritisiert Graf. „Bei den zentralen und schwierigen Fragen der gesellschaftlichen Entwicklung fallen kirchliche Stellungnahmen häufig zu undifferenziert im Blick auf die oft komplexen Detailfragen aus. Stattdessen erlebt die Öffentlichkeit eine autoritäre Rhetorik des Besserwissens“. Beispiel: Das viel diskutierte Problem der Sterbehilfe: „Die zumeist undifferenziert geäußerte kirchliche Position muss sich den Vorwurf einer simplifizierenden Reduktion komplexer Probleme im Einzelfall gefallen lassen. Hier begegnen sich höchst widersprüchliche Betrachtungsweisen und Einstellungen von Einzelpersonen, ihrer sehr persönlichen Lebensproblematik, und grundsätzlich gesellschaftliche Normvorstellungen hinsichtlich des Schutzes und der Würde des Lebens“, betont Graf. Für ihn verfügen auch kirchliche Positionen nicht über die Klarheit für eine letztgültige Entscheidungsmöglichkeit, in der alle Einzelfragen berücksichtigt und geklärt sind.

Und dann kommt er auf die aktuelle Migrationsdebatte zu sprechen: Auch bei dieser müsse bei allen kirchlichen Äußerungen auf die Kosten und Schwierigkeiten hingewiesen werden, die nach erfolgter großer Hilfsbereitschaft auf Kirche und Gesellschaft warten und die bewältigt werden müssen. „Welchen Beitrag wollen und können die Kirchen hierzu leisten? Welche langfristigen Perspektiven können hier entwickelt werden? Sind die Kirchen selbst zu Lösungen bereit, die etwa bei religionsverschiedenen Ehen und Familien mit christlichen und muslimischen Mitgliedern entstehen?“

Kritik an Eventisierung und Psychojargon

Grundsätzlich tritt Graf für einen Wandel in der Religionskultur ein. Denn er beobachtet mit Sorge zwei Trends. Der eine ist die Eventisierung des kirchlichen Lebens, die bei Großereignissen wie Papstbesuchen oder Kirchentag zu beobachten ist. Und das andere ist das Umstellen auf einen Psychojargon, in dem es permanent ums Wohlfühlen geht und in dem elementare Spannungen und Widersprüche des Lebens kaum noch eine Rolle spielen. Für Graf kommt es im Gegensatz dazu darauf an, existenzielle Spannungen des Lebens religiös zu deuten und nicht durch Wohlfühl-Rhetorik zum Verschwinden zu bringen.

“Eventisierung des kirchlichen Lebens” – Eröffnungsgottesdienst des 36. Deutschen Evangelischen Kirchentags auf dem Platz der Republik in Berlin (Foto: DEKT, Martin Kirchner)

Wort- und Predigtkultur als wichtige Kennzeichen des Protestantismus gehen verloren.

Graf bemängelt, dass Wort- und Predigtkultur als wichtiges Kennzeichen des Protestantismus verloren gehen und durch eine Infantilisierung der Kommunikation ersetzt werden. Dann würden sich Menschen nicht mehr ernst genommen fühlen, sagt Graf. Denn man könne nicht in einer Gesellschaft, in der Komplexität permanent gesteigert werde, in der Religionskultur auf Gegenkurs fahren und auf seicht und infantil setzen und einen Kuschelkurs verfolgen.

Gefährdete Qualität der Verkündigung

Bedenkliche Fehlentwicklungen sieht Graf zudem in der falschen Bürokratisierung kirchlicher Organisations- und Verwaltungsstrukturen, die eine zu hohen Belastung vor allem für die Pfarrerinnen und Pfarrern mit sich bringe. „Das führt zu Banalisierung in der Verkündigung. An die Stelle von anspruchsvoller Auslegung tritt eine oft unklare und unüberlegte Symbol- und Wohlfühlveranstaltung in den Gottesdiensten. Orientierung in schwierigen und bedrängenden Lebensfragen sind hier nicht zu erwarten“, meint Graf.

Auch die Ausnahmestellung der kirchlichen Wohlfahrtspflege sieht Graf bei weitem nicht so positiv wie offizielle Kirchenvertreter, die immer wieder die breite Akzeptanz ihrer Arbeit in der Bevölkerung betonen. „Auch Leute, die mit dem traditionellen Kirchenchristentum nichts am Hut haben, finden es gut, dass es kirchliche Sozialstationen, Pflegedienste, Krankenhäuser und Kindergärten gibt. Ihren Erfolg brauchten Caritas und Diakonie daher nie zu begründen – zuletzt dem Staat gegenüber. Der war immer schon froh, in den Kirchen über einen Akteur zu verfügen, der seine gesellschaftlichen Probleme löst und zur politischen Stabilität beiträgt“, erklärte Graf in einem Gespräch über kirchliche Sozialunternehmen 2017. Seiner Ansicht nach „macht zu viel Geld müde, denkfaul und bequem. Wer sich um alles kümmern will, droht seine zentrale Aufgabe, die Kommunikation des Evangeliums, zu vernachlässigen“.

Die Kirchen als „Werteagentur“?

Die widersprüchliche Haltung den Kirchen gegenüber stellt Graf in seinem Buch Kirchendämmerung dar: „Viele Deutsche sehen in den Kirchen gleichsam ›Bundeswerteagenturen‹, die für alle Sphären der Kultur eine neue substantielle Sittlichkeit herbeipredigen oder ein stabiles ›Wertefundament‹ legen sollen. Aber zugleich lehnen sie viele ethische Botschaften der Kirchen entschieden ab. Selbst unter den Mitgliedern der Kirche, die pünktlich ihre Kirchensteuer zahlen und damit auch Verbundenheit mit der Organisation bekunden, hält die große Mehrheit die von den Kirchen verkündeten moralischen Gebote für falsch und lehnt es ab, ihnen zu folgen“, schreibt der Theologe.

Besonders deutlich zeige sich dies bei der Sexualethik der römisch-katholischen Kirche oder in beiden Kirchen in den Debatten um Stammzellforschung, Präimplantationsdiagnostik und Sterbehilfe. Auch wollten die meisten kirchlich organisierten Deutschen keine politisierte, in den Parteienstreit eingreifende Kirche. Politisierende Bischöfe, die die freiheitsdienliche Trennung von Religion und demokratischer Politik unterlaufen und sich aus mancherlei Machtinteressen immer wieder in die Tagespolitik einmischen, seien ihnen ein Gräuel, so Graf: „Die moralische Arroganz, mit der einige Bischöfe etwa die Banker als raffgierige, geldgeile Turbokapitalisten an den Pranger stellten, hat das Glaubwürdigkeitsproblem der Kirchen nur verstärkt“.

Herausforderungen des religiösen Pluralismus

Religion ist laut Graf nicht zuletzt dank der Einwanderung von Muslimen ganz unterschiedlicher Herkunft nach Europa und auch aufgrund des neuen religiös motivierten Terrorismus wieder zu einem zentralen Thema westlicher Gesellschaften geworden. Vom neuen Interesse an Religion haben die beiden großen christlichen Kirchen seiner Einschätzung nach allerdings nicht profitieren können. Offenkundig gelinge es ihnen nur noch eingeschränkt, die befreiende Botschaft des Evangeliums überzeugend zu kommunizieren.

Vom neuen Interesse an Religion haben die Kirchen nicht profitiert.

„Nun werden die Kirchen selbst religiös immer pluraler. Viel Diffuses aus den modernen Therapiereligionen wandert in die kirchliche AlItagspraxis ein, und unter dem vielfältig changierenden Leitbegriff der ›Spiritualität‹ kann nun auch religiös Halbseidenes, von Steinheilung bis Meditationsmassage, in den Kirchen vermarktet werden“, kritisiert Graf. Zugleich gebe es in den Kirchen entschieden restaurationsorientierte, antimoderne Bewegungen, die auf neue konfessorische Eindeutigkeit setzen und glaubensstark den Abstand zwischen alter Wahrheit und moderner Skepsis betonen. Hier haben sich in den Kirchen religiöse Parallelgesellschaften mit eigenen Vergemeinschaftungsformen entwickelt, wie Graf feststellt. Die klassisch von Max Weber formulierte religionsdiagnostische Grundunterscheidung von Kirche und Sekte habe ihre analytische Erschließungskraft verloren. Denn viel sektiererische Borniertheit finde sich neuerdings in den Kirchen selbst.

Und die Zukunft der Kirche?

Für welches Modell tritt Graf selbst ein? Bei aller Kritik am Auftreten von Kirchenrepräsentanten, die er gerne als „Kleriker“ bezeichnet und wegen einer abgehobenen Sprache und nicht selten eitlen und selbstverliebte Auftritte in der Öffentlichkeit kritisiert, misst er den Kirchen doch eine außerordentliche Bedeutung für die Pflege des großen kulturellen Traditionsschatzes bei, den sie im Bereich der Musik, aber auch im Blick auf die großen Feste und auf spezifische Lebensabschnitte bezogene Feiern, wie Taufe, Konfirmation, Trauung, Beerdigung, zu bewahren und zu pflegen haben. Dies gilt auch für die sozialdiakonischen Einrichtungen, deren Größe und gesellschaftliche Bedeutung fundamental ist, auch wenn sie deutlich zu kritisieren sind. So hat – trotz aller Einschränkung – auch das derzeit eingeübte Verhältnis von Staat und Kirche für Graf in der Bundesrepublik sein Recht und wird seine Bedeutung auch in nächster Zeit behalten. Er sieht keine politischen Akteure, die diese praktizierte Partnerschaft von Kirche und Staat beenden könnten.

Auf die Pfarrerschaft kommt es an

Am Ende unseres Gesprächs zieht Graf folgendes Resümee: „Alle empirischen Studien zur Kirchenbindung der Protestanten haben gezeigt, dass die Kirchenmitglieder ihre Kirchen primär über die Person des Pfarrers wahrnehmen. Daraus folgt: Das Amt des Gemeindepfarrers muss wieder attraktiver gestaltet werden als bisher. Pfarrstellen in Gemeinden abzubauen und übergemeindliche Pfarrstellen zu schaffen (also auf Bürokratisierung zu setzen), war ein entscheidender Fehler in der ›dagobertinischen Phase‹, der sich heute rächt.“ Vor allem ist nach Graf gediegene theologische Bildung und Kompetenz nötig: „Denn gerade in multireligiösen Umwelten – man denke an die gebotene argumentative Auseinandersetzung mit islamischen Gelehrten – bedarf die evangelische Kirche einer Pfarrerschaft, die gebildet, rational und klug das protestantische Verständnis der neutestamentlichen Freiheitsbotschaft zu vertreten vermag. An ihren Pfarrern und Pfarrerinnen entscheidet sich die Zukunft der evangelischen Kirche.“

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