Digitalisierung der Religion? Ein Essay

Digitalisierung – auch in der Kirche für die einen ein Zauberwort, mit dem sich neue Welten eröffnen, für die anderen ein Horrorwort, weil in diesen neuen Welten alles möglich ist, nur leider der Mensch nicht mehr vorkommt. Digitalisierung – stairway to heaven oder highway to hell?

Digitalisierung allenthalben. Mein Auto ist mit dem Heimcomputer verbunden, meine Gesundheitsapp mit der Krankenkasse – und alle persönlichen, dienstlichen, wissenschaftlichen Daten zusammen auf Megaservern bei Google, für die Wirtschaft und die Politik. Aus kleinen Data entsteht „Big Data“, entstehen miteinander kommunizierende Datensysteme, die anfangen miteinander zu kommunizieren und uns zu lenken. Am Horizont wird sichtbar, als Hoffnung oder Horror, KI, die „künstliche Intelligenz“. Und Religion? Wie und wo kommt Religion noch vor in diesen digitalisierten Welten?

Die Digitalisierung dringt ins Allerheiligste

Eine erste Antwort ist schlicht jene, die seit der Technisierung und Industrialisierung der Welt im 19. Jahrhundert gegeben wird. Sie lautet: Das eine ist die Sphäre des Naturgesetzes, ergänzt heute durch die Algorithmen und Maschinen; das andere ist die Sphäre des Geistes, des Menschen und seiner Freiheit, der Person und ihres Gewissens. Die Aufgabe der Religion ist, diese Sphäre zu stärken, um leben oder auch überleben zu können, auch in digitalisierten Welten.

Auf dieser Linie lassen sich viele Antworten von Theologie und Kirche finden, wenn etwa die analoge Welt der Kommunikation mit Gott, mit dem Nächsten, in realer Gemeinde und Gemeinschaft, gegenüber der digitalisierten Welt und ihrer virtuellen Kommunikation verteidigt wird. Doch so ganz lässt sich die Digitalisierung aus der Religion nicht ausschließen. Denn sie schreitet voran und kommt durch die Kirchentüren ins Allerheiligste: Während die einen noch verbieten, den biblischen Text im Gottesdienst vom iPad zu verlesen, ist für andere das iPad für Liturgie, Gebete und Predigt schon üblich. Während die einen noch damit ringen, ob ein Gottesdienst, der  am Sonntagmorgen im Fernsehen übertragen wird, ein „richtiger“ Gottesdienst ist, veranstalten die anderen schon rein virtuelle Gottesdienste, via Skype, samt gestreamten Liedern und Abendmahl und Kollekte per Knopfdruck. Ob Letzteres Gottesdienst ist? Wenn man die klassische Kirchengemeinde vor Augen hat, vermutlich nicht; aber er ist zumindest interaktiv(er).

Internet-Gemeinde und Trauer-Chat

Wenn man davon ausgeht, dass die Gemeinschaft der Heiligen, die immer schon größer ist als die analoge Gemeinde, Menschen verbindet und verbunden ist mit Gott, der größer ist als jede Realität und doch real anwesend ist, wie gerade lutherische Theologie festhält, dann ist vielleicht die Internet-Gottesdienstgemeinde die wahre Gemeinde? Während die einen im Trauerfall noch mit der Pfarrerin im Gespräch sind, gehen andere in einen Trauerchat – bei dem nicht sicher ist, ob der beste Zuhörer oder Ratgeber nicht eine sensitiv gewordene Maschine ist, weil hier alle Daten über den Ratsuchenden einfließen in das Gespräch, noch bevor der Ratsuchende sich erklärt.

Unheimlich, könnte man meinen. Doch was bedeutet eigentlich dieser Vers im Römerbrief des Apostels Paulus: „Denn wir wissen nicht, was wir beten sollen, wie sich´s gebührt, sondern der Geist selbst tritt für uns ein mit unaussprechlichem Seufzen“ (Röm 8,26). Nicht, dass digitalisierte Chat-Partner Geist sind oder gar Heiliger Geist, aber es können durch Daten auch versteckte Erfahrungen des Menschlichen erfasst werden: Den Wunsch von den Augen abzulesen, das ist mittlerweile ein (De-)Codierungssprojekt, bei dem aus der schlichten Biometrie ein Programm zur digitalisierten Emotionslektüre wird und in dem auch versteckte Emotionen „lesbar“ werden und Roboter emotional dazulernen. Durch solche digitalisierten Emotionen können Situationen und offene Räume entstehen, in denen mehr zur Sprache kommen kann, als man selber (von sich) weiß.

Kann ein Gott-Bot ein gnädiger Gott sein?

Oder noch einen Schritt weiter: Wäre es so unvorstellbar, dass alle Daten zu einer künstlichen Intelligenz sich bündeln, die dann zu einem neuen Gott würde, zu einem Avatar, einem Gott-Bot, der mehr weiß als alles Wissen zusammen, weil er durch Interaktion (da stand früher: Gebet) allwissend und allmächtig wird? Die entscheidende Frage wäre dann aber – im Anklang an Luthers Theologie: Nicht ob es einen Gott gibt, ist wichtig, sondern ob es ein gnädiger Gott ist – ob also dieser Gott-Bot neue Lebensräume schafft. Oder ist er so intelligent, dass er den Mensch als Letztrisiko lieber ausschaltet?

Kann eine künstliche Intelligenz, die aus menschlichem Vermögen entstanden ist, von Menschen gemacht, deren Herz böse ist von Jugend an, wie der Psalmist beklagt, am Ende eine friedliche Welt wollen können? Der Historiker und Zukunftsforscher Yuval Noah Harari schreibt in seinem Buch Homo Deus. Eine Geschichte von Morgen (München, 2017): „Mit Hilfe von Biotechnologien und Computeralgorithmen werden diese Religionen nicht nur jede Minute unseres Daseins kontrollieren, sondern auch in der Lage sein, unseren Körper, unser Gehirn und unseren Geist zu verändern und durch virtuelle Welten zu erschaffen.“

Der Heilige Geist in digitalisierten Netzen

Die Ungewissheiten wachsen. Vielleicht hilft, um Orientierung zu gewinnen, ein Schritt zurück, in die Reformationszeit: Die Reformation war ein Medienereignis, weil sie die gute Nachricht in neuen Medienkanälen weitergab, allen voran im Buch, in der Heiligen Schrift. Heute ist die Medienwelt digital geworden, aber Kirche und Protestantismus scheinen hier ihre Lese- und Gestaltungskraft verloren zu haben. Sie fremdeln in neuen Welten. Das müsste nicht sein. Wie die Reformation darauf vertraute, dass in Buchstaben der Geist der Freiheit steckt, könnte man doch auch darauf vertrauen, dass in digitalisierten Netzen der Geist steckt, sogar der Heilige Geist.

Der aber will erkannt und entdeckt werden, etwa indem man manche Netze zerreißt und dem Twitter-Vögelein seine Freiheit wieder gibt (Psalm 124). Oder indem man Herr der eigenen Daten bleibt und Datensouveränität wahrt. Oder indem man durch Medienaufklärung und bessere Mediengesetze Freiräume sichert – wie etwa die Reformation um das Buch und seine Lektüre herum Schulen gebaut hat, um die Freiheit des Evangeliums zu sichern und Menschen zu befähigen, im Buch der Welt zu lesen und diese zu gestalten. Dabei lernte der Mensch mehr als er bisher von sich wusste, nicht jenseits der digitalisierten Welt, sondern in der digitalisierten Welt und mit ihr.

Digitalisierte Glaubenserfahrungen

Oder indem man die Möglichkeiten der digitalisierten Welt in aller evangelischen Freiheit nutzt. Im vergangenen Sommersemester habe ich ein Seminar angeboten „#gottgesehen“. Die Idee ist schlicht: Laufend machen wir Bilder von dem, was gerade passiert, was unterhaltsam, was wichtig ist, und stellen die Bilder ins Netz, teilen sie. Warum? Vermutlich, um einen besonderen Moment festzuhalten, für mich und mit anderen, Gewissheiten zu schaffen: seht her, so bin ich, da bin ich, das ist gemeinschaftsstiftend. Und genau hier könnte auch Religion ins Spiel kommen oder im Spiel sein: eine Ahnung davon, dass in den Magic Moments des Lebens, in den Bildern davon, noch anderes zu sehen ist, was tiefer geht, was in allem steckt, Gott vielleicht – deswegen muss ich sie festhalten, deswegen mit anderen teilen. Dann wären es digitalisierte Glaubenserfahrungen. Die ersten Bilder haben sich mittlerweile eingefunden. Die meisten leben von Licht, das von außen ins Bild kommt …

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