Wir können Menschen neu begeistern Zur Zukunft der Volkskirche in einer säkularen Welt

Der 31. Oktober 2017 wird wohl für alle, die das Reformationsjubiläum mitgestaltet haben, unvergessen bleiben. Kirchen und Säle waren zum Gottesdienst nicht nur voll, sondern überfüllt. Wie lässt sich an dieses Interesse von Menschen in einer säkularen Gesellschaft anknüpfen? Die Präses der EKD-Synode zeigt Perspektiven auf.

Als Erstes widerlegt die Neugier auf das, was Kirche 500 Jahre nach der Reformation zu sagen hat, die immer wiederholte Behauptung vom nicht mehr aufzuholenden Bedeutungsverlust der Kirchen oder vielleicht auch der christlichen Religion. Leere Kirchenbänke im Gottesdienst weisen vielleicht eher darauf hin, dass die Kirchen mit dem, wie sie den Kernvollzug ihres geistlichen Lebens gestalten, am Lebensgefühl moderner Menschen vielfach vorbeigehen. Sicher ist es richtig, dass es eine steigende Zahl von Menschen gibt, denen Glaube und Kirche so fremd geworden ist, dass keine Saite der Neugier klingt und kein Gefühl des Verlustes in ihnen aufsteigt, wenn die Sprache auf Gott kommt. Andererseits hat die V. EKD-Erhebung über Kirchenmitgliedschaft schon 2014 gezeigt, dass es eine nach wie vor feste Bindung der „Indifferenten“ an die Kirche gibt (sie denken nicht über Austritt nach), und dass die Verbundenheit der Hochverbundenen weiter wächst (vgl. die ganze Studie unter www.ekd.de/ekd_de/ds_doc/ekd_v_kmu2014.pdf).

Menschen entdecken, dass ihnen etwas fehlen könnte

Die Erfahrungen während des Reformationsjubiläums waren widersprüchlich. Wir haben leere und übervolle Andachten und Gottesdienste, Diskussionen und Events erlebt. Leer waren sie immer dann, wenn es das Übliche gab, wie z.B. einen Politiker, der die Morgenandacht nach Kirchentagsmanier gestaltete. Voll: der Taufgottesdienst am See oder die Einladung zum Dialog unter dem Titel „Was Sie der Kirche schon immer sagen wollten“. Steigende Zahlen von Mitfeiernden gab es auch bei den Mittags- und Abendandachten auf dem Marktplatz in Wittenberg und in der Lichtkirche zum Gottesdienst am Freitagabend um 21:30 Uhr während der Weltausstellung Reformation. „Draußen“ und „zuverlässig“ sind die Stichworte für steigende Neugier und das Sich-Einlassen der Menschen auf spirituelle Erlebnisse. So ist m.E. eine Erklärung für das Interesse am 31. Oktober, dass mit der Wiederholung des öffentlichen Auftritts und der Berichterstattung darüber die Aufmerksamkeit auch derer, die nicht zur Kerngemeinde gehören, zunimmt. D.h. die Menschen entdecken, dass ihnen etwas fehlen könnte, wenn wir nicht mehr kontinuierlich mit unserer Botschaft in ihrer Welt auftauchen.

Diese Beispiele zeigen, worauf es ankommen mag, wenn wir in Zukunft wieder mehr Aufmerksamkeit für unsere Botschaft erhalten wollen. Kurz gefasst heißt für mich der Ansatz für Veränderung: Wir können mehr Menschen erreichen, wenn wir Mauern überwinden, Mauern innerhalb und außerhalb unserer Kirchen und Gemeinden, tatsächliche und mentale. Im Folgenden beschreibe ich fünf Wege in die Welt außerhalb der Mauern:

1. Lebenswelten wahrnehmen und annehmen

Wir sind Teil der säkularen Gesellschaft, nicht ihr Gegenüber. Sie ist nicht, etwas herablassend formuliert, das „Feld unserer Mission“, sondern unsere eigene vielfältige Lebenswelt. In unseren Gemeinden treffen wir aber nicht die Vielfalt der Lebenswelten, die wir im täglichen Leben wahrnehmen, sondern Menschen aus ähnlichen Lebenswelten. Es fehlen z.B. Arbeitnehmer aus Industrie und Dienstleistung und junge Menschen. Jede Kirchenmitgliedschaftsuntersuchung bestätigt diesen Befund. Wenn mir in einer fast leeren Kirche eine alte Dame vor dem Gottesdienst auf die Schulter klopft und sagt, ich säße auf ihrem Platz, dann ist das natürlich ein Einzelfall. Aber er zeigt gleich mehrere Symptome: Zugehörigkeit zur Kirche hat bei manchen etwas mit Erwartungen auf Unveränderbarkeit und auch Besitzansprüchen zu tun. Zugehörigkeit schließt in diesem Fall Offenheit für Andere und für Neues aus. Vielleicht kann es uns gelingen, nicht nur aus der Perspektive der Hochverbundenen auf unsere Angebote zu schauen, sondern auch die Befindlichkeit skeptischer oder neugieriger Menschen im Blick zu haben und auf sie zuzugehen.

In unseren Gemeinden treffen wir aber nicht die Vielfalt der Lebenswelten, die wir im täglichen Leben wahrnehmen (Foto: Wikimedia Commons, Stepfist, CC-BY-SA).

Natürlich gibt es auch heute schon die Offenheit, sich auf die säkulare Welt einzulassen. Diakonie ist ein selbstverständliches Beispiel dafür. Allerdings leben diakonische Einrichtungen und Kirchengemeinden häufig nebeneinander her. Die Diakonie wächst, die Kirchengemeinde nimmt ab. Da Diakonie aber zur Lebensäußerung christlichen Glaubens gehört, werden an dieser Stelle die Lebenswelten wieder zusammenwachsen müssen. Dies ist eine Aufgabe der neu eingerichteten Evangelischen Arbeitsstelle für missionarische Kirchenentwicklung und diakonische Profilbildung. Wer die Chance hatte, die Verwobenheit von Kirchengemeinden mit von ihr selbst geführten diakonischen Projekten in christlichen Kirchen in anderen Ländern, wie z.B. der anglikanischen Kirche in Großbritannien oder den evangelisch-lutherischen Kirchen in Südafrika oder Südamerika, zu sehen, hat eine Vorstellung davon, wie schwierig und wie beglückend diese Art von Gemeinwesenarbeit sein kann.

2. Kooperationen suchen

Wir müssen hingehen – und nicht nur zu uns einzuladen, uns also auf den Weg zu den Menschen machen. Besonders erfolgreich waren wir immer dann, wenn wir Kooperationen gesucht haben mit säkularen Partnern. Wenn auch unsere säkularen Partner die Menschen, die normalerweise zu ihnen kommen, eingeladen haben, dann haben wir festgestellt, dass es auch unter denen ganz viele gibt, die neugierig sind auf das, was wir zu sagen haben, was wir als reformatorische Botschaft in diese Welt hineinbringen. Es gilt also, offen zu sein für neue Begegnungen, für andere Orte, für andere Milieus und für Themen, die vielleicht so bei uns noch nicht vorkommen. Das bedeutet für uns, dass wir unsere eigene Komfortzone immer wieder verlassen müssen.

Offensichtlich haben viele Menschen keine Erwartungen mehr an die Kirche.

Offensichtlich haben viele Menschen keine Erwartungen mehr an die Kirche, wissen aber auch nicht, was sie für ihr Leben bedeuten könnte. Das Reformationsjubiläum hat uns die Möglichkeit einer Fülle neuer Kontaktflächen mit diesen Menschen gegeben. Zusammenarbeit mit kulturellen Institutionen, mit Bildungseinrichtungen wie Volkshochschulen hat Chancen aufgezeigt: Einladungen, die den religiösen Bezug offen darlegten, aber von der Partnerorganisation ausgesprochen wurden, haben so etwas wie Legitimation erzeugt und Neugier geweckt.

3. Netzwerke knüpfen

Bis auf eine immer kleiner werdende Zahl von Menschen bewegt sich heute jeder in mehreren unterschiedlichen Netzwerken. Die Lebenswirklichkeit der digital geprägten Welt wird nicht mehr durch funktionale Differenzierung beschrieben, sondern durch Vernetzung. Das bietet große Chancen. Wer das Pop-Oratorium „Luther“ im Reformationsjahr aufführen wollte, musste solche Netzwerke knüpfen: für den Raum, die Chöre, die Logistik. Warum sollen aus solchen weiter gepflegten Netzwerken nicht neue Ideen entstehen? In vielen Dorfgemeinden ist heute die Vernetzung zwischen Kirchengemeinde und Bürgergemeinde schon deshalb eng, weil zum Beispiel die Kirche der einzige Ort ist, an dem größere Veranstaltungen stattfinden können, oder weil der Bürgermeister, der keiner Kirche mehr angehört, der Vorsitzende des Kirchbauvereins ist.

Daraus entsteht die Frage, wer zu uns gehört. Wir haben 2017 viele Menschen getroffen, die sich für ein Projekt der Kirche sehr engagiert haben, aber nicht Mitglied unserer Kirche sind und auch – vielleicht noch – nicht werden wollen. Dazugehörig fühlen sie sich trotzdem.

4. Sprache überprüfen

Wir müssen kritisch mit unserer eigenen Sprache umgehen. Menschen haben eine Vielzahl von Angeboten, von vielen weltanschaulichen und wirtschaftlichen Anbietern, denen sie ihre Aufmerksamkeit widmen können. Sie können an unseren Angeboten einfach vorbeigehen und viele tun es auch. Welchen Anteil daran unsere Sprache hat, sollten wir untersuchen. Denn wir sind uns ja alle sicher: Unsere Botschaft ist wunderbar. Aber wie sagen wir sie so, dass wir Menschen damit berühren?

5. Dialog vor Predigt

Die Devise sollte lauten: Zuhören bevor wir predigen! Zuhören, was Menschen uns zu sagen haben, was sie für Erwartungen an uns stellen. Bevor wir uns überlegen, wie wir unsere Botschaft am besten verpacken, glaube ich, lohnt ein Blick, ein Weg nach draußen, um auch mal anderen zuzuhören. Dann können wir aufnehmen, warum sie an unseren Kirchentüren vorbeigehen und nicht reinkommen. Dafür müssten wir wissen: Was sind die Fragen, die Menschen bewegen? Was erwarten sie von uns?

Die politische Bedeutung des Evangeliums

„Weil der Gott, an den Christenmenschen glauben, sich von der Welt nicht ab-, sondern ihr zuwendet, hat das Evangelium stets politische Bedeutung.“ So formulierte es der Rat der EKD in seiner Denkschrift „Das rechte Wort zur rechten Zeit“ (Gütersloh 2008, Ziff. 94). Mit dieser Sichtweise ist eine gute Grundlage für den Dialog zwischen Kirche und säkularer Gesellschaft gelegt. Diese beinhaltet eine klare Absage an das Denken in „zwei Räumen“, wie sie auch Dietrich Bonhoeffer formuliert hat: „Die Wirklichkeit Gottes erschließt sich nicht anders als indem sie mich ganz in die Weltwirklichkeit hineinstellt, die Weltwirklichkeit aber finde ich immer schon getragen, angenommen, versöhnt in der Wirklichkeit Gottes vor. Das ist das Geheimnis der Offenbarung Gottes in dem Menschen Jesus Christus“ (Dietrich Bonhoeffer: Ethik. DBW 6. Gütersloh, 21998, S. 40). Kirche muss darum immer Kirche für die Welt sein und darf sich nicht auf sich selbst zurückziehen.

Diese Wahrnehmung und Reflexion der Weltwirklichkeit zwingt uns auch, unseren Blick auf die Formen unseres geistlichen Lebens zu richten. Es ist für mich eine offene Frage, wie vielfältig gestaltet in Liturgie wie auch Predigt Gottesdienste sein können und müssen, um Menschen zu berühren, auf ihre Lebensfragen einzugehen, Weltdeutung zu vermitteln. Die Erfahrungen in Wittenberg aber auch an vielen anderen Orten während des Reformationsjubiläums ermutigen uns dazu, immer wieder auch neue Wege zu gehen.

Der kirchliche Auftrag an „alles Volk“

Aus allen Erfahrungen wird für mich deutlich, dass wir unseren eigenen Auftrag kontinuierlich neu bedenken müssen. Ich werde immer wieder gefragt, ob wir eigentlich noch eine Volkskirche seien, weil die Mitgliedszahlen sinken. Dann antworte ich mit Hinweis auf die 6. These der Barmer Theologischen Erklärung: „Der Auftrag der Kirche, in welchem ihre Freiheit gründet, besteht darin, an Christi Statt und also im Dienst seines eigenen Wortes und Werkes durch Predigt und Sakrament die Botschaft von der freien Gnade Gottes auszurichten an alles Volk.“

Den Wirkungskreis der christlichen Botschaft erweitern – Ökumenischer Gottesdienst in Rendsburg (Foto: Wikimedia Commons, Frank Schwichtenberg, CC-BY-SA).

Und alles Volk sind nicht nur die Kirchenmitglieder, die Kirchensteuern bezahlen, sind nicht nur diejenigen, die zu unseren Veranstaltungen in die Gemeindezentren kommen, sondern alles Volk ist wirklich alles Volk. Und damit ist unser Auftrag ganz klar. Wir müssen – ecclesia semper reformanda – kontinuierlich weiter überlegen, wie wir den Wirkungskreis unserer wunderbaren Botschaft verbreitern können.

Rausgehen lohnt sich!

Veränderung bedeutet auch Unsicherheit und kann manchmal Angst auslösen. Das ist einerseits verständlich, denn wer Neues wagt, wird auch Altes und Gewohntes aufgeben müssen. Die Ressourcen sind schließlich begrenzt. Andererseits kann natürlich nicht alles verworfen werden, was bisher galt. Wir haben schließlich Vieles richtig gemacht. Das haben wir am 31. Oktober des letzten Jahres gemerkt, als unsere Kirchen so voll waren, wie wir sie sonst nur am Heiligen Abend erleben. Und das zeigt: Es lohnt sich rauszugehen. Wir können Menschen neu begeistern! Das bedeutet Arbeit, das ist alles sehr anstrengend, es erfordert eine neue Prioritätensetzung. Das wissen wir. Die Botschaft von der freien Gnade Gottes auszurichten an alles Volk erfordert die Überwindung von Mauern. Es ist eine lohnenswerte Aufgabe.

Wir haben begonnen, uns zu verändern. Es gibt kein Patentrezept und nichts lässt sich schlagartig erreichen. Zukunft braucht neben Kreativität und Mut zum Neuen einen langen Atem. Der Geist weht wo er will, und er lässt sich nicht herbeizitieren. Aber wir können ihm Wege und Bahnen bereiten.

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