Stichwort: Volkskirche Ein auslaufendes Modell?

Die Legitimität der Bezeichnung „Volkskirche“ muss nicht unbedingt daran gemessen werden, ob die sie beanspruchenden Konfessionen zusammen einen sozusagen übergroßen Bevölkerungsteil repräsentieren.

Beginnen wir mit ein paar wenigen Zahlen: Besuchten 1954 im Durchschnitt 11,7 Millionen Menschen einen katholischen (Sonntags-)Gottesdienst, so waren es 2016 nur noch 2,4 Millionen. Der Besuch eines christlichen Gottesdienstes hat selbst für die Mitglieder der römisch-katholischen Kirche, die eine „Sonntagspflicht“ kennen, klar an persönlicher Bedeutung verloren.

Gehörten in den 50er Jahren des letzten Jahrhunderts weit über 90 Prozent der Bevölkerung in West-Deutschland einer der beiden großen Konfessionen an, so geben nach einer repräsentativen Untersuchung des Pew Research Center (Sitz: Washington) von 2017 gut 36 Prozent an, keiner Religion anzugehören. 28,5 Prozent bezeichnen sich als römisch-katholische, 26,5 Prozent als evangelische Kirchenmitglieder. Es scheint, als werde die Religionslosigkeit hierzulande immer selbstverständlicher, während, was einmal normal war, abschmilzt: Mitglied einer verfassten Religionsgemeinschaft zu sein. Womit sich die Frage stellt, in welchem Sinne in Deutschland überhaupt von einer „volkskirchlichen“ Situation gesprochen werden kann.

Der Begriff „Volkskirche“ beschreibt die Normalität der Kirchenmitgliedschaft durch familiäre Tradition und Kindertaufe, Teilnahme an Firmung und Konfirmation, den Wunsch nach kirchlicher Hochzeit und Bestattung. In der so verstandenen Volkskirche wusste sich der/die Einzelne begleitet von der Wiege bis zur Bahre. Für sehr viele dürfte die Teilhabe, der immer schon unterschiedliche Grade der persönlichen Teilnahme zugrunde lagen, somit weithin bedürfnisorientiert oder auch unreflektiert gewesen sein. Die Legitimität der Bezeichnung „Volkskirche“ muss aber nicht unbedingt daran gemessen werden, ob die sie beanspruchenden Konfessionen zusammen einen sozusagen übergroßen Bevölkerungsteil repräsentieren.

Beispielsweise hat als Erster der in Berlin wirkende Friedrich Schleiermacher (†1834) von Volkskirche gesprochen, um damit gegen eine obrigkeitlich verfasste, von Staatsbeamten geleitete Kirche und gegen eine Zwangsmitgliedschaft in derselben in Preußen zu polemisieren. Der zum liberalen Protestantismus zählende Ernst Troeltsch (†1923) verband damit eine Institution, in der die Vielfalt des Protestantismus seine sozial und kulturell in die Gesellschaft hineinwirkende Kraft entfalten könnte. Entschieden wandte sich Dietrich Bonhoeffer (†1945), Opfer der Nazis, gegen eine rassistisch definierte, exkludierende Volkskirche und gab ihr den Auftrag, „für andere da zu sein“. In einer solchen Kirche ist man mit Entschiedenheit – oder fehl am Platz. Und diese Klarheit habe die Kirche zu fördern, indem sie den „Menschen aller Berufe“ deutlich mache, „was ein Leben mit Christus ist“. Diese Verbindlichkeit des christlichen Glaubens hatte 2010 die Evangelische Kirche im Rheinland im Blick, als ihre Synode das Leitbild einer „missionarischen Volkskirche“ beschloss. Ihre anziehende, einladende Kraft gewinne sie durch ihr „anwaltschaftliches“ Engagement für alle, „die die Stärkung ihrer Rechte und Lebenschancen brauchen“. Dabei komme es nicht zuletzt darauf an, ihre Mitglieder zu befähigen, ihren Glauben zur Sprache zu bringen.

Der Sozialphilosoph Hans Joas (*1948) z.B. wendet sich gegen die These, die Religion werde in unserer Welt immer schwächer. Unabhängig von (aktiver oder passiver) Mitgliedschaft in einer kirchlichen Organisation, nennt er die Erfahrung des Heiligen etwas universell Menschliches und Dauerhaftes. Solche Überlegungen spielen eine Rolle bei dem amerikanischen Baptisten und Religionswissenschaftler Harvey Cox (*1929), der auf die wachsende Zahl der Christen im Süden des Globus verweist. „Die Zukunft des Glaubens“ (deutsche Ausgabe 2010) erkennt er in den Christengruppen, die sich konsequent als „Jesus-Bewegung“ verstehen, ihren Glauben als „Lebensbewegung“ (hin zu einer größeren Gerechtigkeit und Freiheit in ihrem jeweiligen Sozialraum) ernst nehmen und weniger Interesse an intellektuell für wahr zu haltenden Glaubensbekenntnissen zeigen. Während das europäische und nordamerikanische Christentum an Anhängerschaft einbüße, weil es Jesus in einem „Gefängnis der Bekenntnisse“ festhalte.

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