Die paradoxe Kraft des Vertrauens Eine alltagstheologische Reise in fünf Szenen

Vertrauen wächst aus dem, was man von Kindheit kennt, womit man im Leben umzugehen lernt, was sich aushandeln und abwägen lässt. Aber es gibt auch Situationen, in denen Vertrauen plötzlich schwindet oder gar nicht mehr möglich zu sein scheint. Was bleibt dann noch?

Szene 1: Vertrautes, routiniertes Leben

„Vorsicht Bahnsteig 2: Zug fährt ein.“ Wer im Winter morgens früh um fünf an einem österreichischen Bahnhof im Salzkammergut auf den Zug wartet, hört diese Durchsage mit einer ganz eigentümlichen Gefühlsmischung: Einerseits weiß man, wie nahe die Bahnstrecke an den riskanten Lawinenhängen liegt, man hat vor dem Weggehen noch den Schneebericht geprüft, man weiß von Kindertagen an, dass jede freie Strecke binnen Sekunden zum lebensgefährlichen Sperrgebiet werden kann, und weiß daher, dass dieser Zug mit guten Gründen auch nicht einfahren könnte. Der Winter ist in den Bergen nur darin verlässlich, dass die Situation eben nie ganz verlässlich ist. Der Alltag ist von vielen Wahrscheinlichkeiten und Sicherheitsabwägungen bestimmt.

Andererseits ruft die seit Kindertagen gehörte Ansagestimme Chris Lohners umgehend eine Vertrautheit und Verlässlichkeit wach, die ebenso zu dieser frühen Morgenstimmung gehört: Der Zug wird fahren, weil er immer fährt. Als Schulkind hätte man sich durchaus den einen oder anderen Ausfall gewünscht (und einen Winter wie diesen hätten wir als Kinder geradezu bejubelt), aber nein, fast immer wurde man pünktlich an den Schulort befördert. Und selbst wenn die Strecke einmal gesperrt sein sollte, dann gehört auch dies zum vertrauten Winter.

Die Vertrautheit setzt sich also durch. Sie hebt die Sicherheitsabwägung nicht auf, aber sie nimmt sie in sich auf: So selbstverständlich wie Chris Lohner den Zug ansagt, so selbstverständlich steigt man ein. Das gilt sogar für extreme Schneewinter wie in diesem Jahr.

Mit Szene 1 ist ein erster, wichtiger Parameter benannt: Unser Alltag ist meist von Situationen bestimmt, in denen wir uns mit guten, rational erklärbaren Gründen auf dies oder jenes verlassen und durch die tägliche Routine darin bestätigt werden. Wer in einen Aufzug oder in eine U-Bahn steigt, setzt ganz selbstverständlich voraus, dass sie funktionieren. Wer über die Straße geht, setzt voraus, dass sich alle an die Verkehrsregeln halten. Wer an einem Samstag Vormittag shoppen geht, weiß um das Getümmel, setzt aber dessen Friedfertigkeit voraus. Hier ist es die Routine, die unser Sicherheitsbedürfnis trägt. Wissenschaftlich erhärten lässt sie sich sowohl durch statistische Analysen als auch durch die Summe unserer Lebenserfahrungen.

Szene 2: Vertrauen und sachorientierte Abwägung

Etwas anders ist es, wenn wir an unsere Rechtsanwälte oder auch an unsere Banken denken: „Vertrauen ist der Anfang von allem“ (Deutsche Bank, 1995). Der Werbeslogan der Deutschen Bank wirkt heute etwas veraltet, aber der Sache nach gilt er noch immer. „Vertrauen Sie uns. Legen Sie Ihr Geld ruhig bei uns an. Bei uns ist Ihr Geld sicher!“ Der Lockruf ins Finanzgeschäft spricht uns auf emotionaler Ebene an, er appelliert an unsere verletzliche Seite: Vertrauen ist ein Grundgefühl des Menschen, das umso wichtiger ist, je unvertrauter und unübersichtlicher die Welt um uns ist. Seit es im Finanzwesen nicht mehr nur um das Sparbuch oder den Bausparvertrag geht, sondern um Aktienpakete, Fonds und Immobilienanlagen, dürften sich die wenigsten Menschen ohne fachkundige Hilfe darin zurechtfinden.

Für das Rechtssystem gilt das seit jeher, denn schon die antike Tradition unterscheidet zwischen Anklägern, Verteidigern und Richtern. Wie also wählen wir unsere Rechtsanwälte und Banken aus? Meist wählen wir sie aus, indem wir rational ihre Vor- und Nachteile, ihren Ruf, ihre informierende Kompetenz oder den Stil der Beratung abwägen. Manches davon können wir selbst sachgemäß beurteilen, anderes durch versierte Konsumentendienste prüfen und von Bekannten bestätigen lassen und am Ende werden auch pragmatische Gründe mitspielen wie z.B. die Erreichbarkeit. All das hat mit Vertrauen wenig zu tun, sondern es geht um das Zusammentragen von Argumenten.

Banker und Rechtsanwälte fordern Vertrauen, statt sachliche Transparenz zu bieten.

Wenn also Banken oder Rechtsanwälte um unser Vertrauen werben, dann setzen sie offensichtlich sehr gezielt auf zwei Erfahrungswerte: Erstens darauf, dass sich ihre Kundinnen und Kunden häufig nicht die Mühe machen, die Geschäftsprozesse genau genug durchschauen zu wollen. Zweitens darauf, dass die Komplexität moderner globaler Ökonomie so viel Fachwissen erfordert, dass es für normal interessierte Bürger kaum völlig zu verstehen ist. Das eingeforderte Vertrauen bezieht sich also nicht auf grundsätzliche Unwägbarkeiten, sondern markiert die Differenz zwischen Laienwissen und Expertenwissen.

Szene 3: Vertrauen über gemeinsame Sachorientierung hinaus

Anders ist dies auf politischen Handlungsfeldern: Wer über viele Jahre hinweg in politischen Gremien wie Gemeinderat, Personalversammlung oder politischem Senat aktiv ist, weiß um die Erfordernisse sachorientierter Politik. Nur wer sich strikt an der Sachlage orientiert, wer Akten- und Rechtslage kennt, kann Pro- und Contra-Argumente vorbringen, begründete Einwände erheben, zwischen den politischen Ansprüchen vermitteln und mögliche Folgekosten abwägen.

Doch irgendwann kommt der Moment der Abstimmung, mit der das Verhandlungsergebnis langfristig entschieden wird. Auf dem Spiel steht in diesem Moment nicht nur die Sache selbst, sondern auch die Verlässlichkeit der Gegenseite: Wird sie sich an den Kompromiss halten? Wird sie sich bemühen, die gemachten Zusagen in die politische Praxis umzusetzen? Was, wenn sich im Nachhinein zeigt, dass sich das ein oder andere Argument nicht wie geplant umsetzen lässt? Wird es dann erneut Nachverhandlungen mit der Gegenseite geben oder geht es dann doch um direkte Machtdurchsetzung?

An dieser Stelle kehrt sich das Verhältnis von Sachorientierung und Vertrauen um: Nun rückt das Vertrauen in den Vordergrund, und zwar vor allem das Vertrauen in die Vertreterinnen und Vertreter der Gegenseite: Sind sie verlässlich? Kann ich ihrem Wort vertrauen? Für das politische Handeln ist dieses Vertrauen unverzichtbar. So wie es überall dort unverzichtbar ist, wo Menschen miteinander öffentliches Leben teilen und gestalten, von den öffentlichen Verkehrsmitteln über Weihnachtsmarkt und Rosenmontagszug bis hin zum public viewing bei der Fußball-WM. Wir können diese Szeneorte nur dann gelassen besuchen, wenn wir allen anderen unterstellen, die U-Bahn ebenfalls als angenehmes Transportmittel, Weihnachtsmarkt und Karneval für die fröhliche Geselligkeit und die WM aus gemeinsamer Sportbegeisterung besuchen zu wollen. Wird diese an der Sache und am Gemeinwohl orientierte Unterstellung durch Aggression oder auch „nur“ den Verdacht auf gewalttätige Unterbrechung irritiert, dann ist das Gemeinwohl an einem zutiefst empfindlichen Punkt gestört. Denn wo immer Menschen das Leben miteinander teilen, ist das gegenseitige, leibhaftig ausgespielte Vertrauen die Basis jeder Sachorientierung.

Szene 4: Ausfall selbstverständlicher Vertrautheit

Nehmen wir für die Dimensionen grundsätzlicher Unwägbarkeit und leibhaft(ig)em Vertrauen noch ein anderes Szenario: Ich erinnere mich noch gut, an meine verständnislose Irritation, wenn meine Mutter beim Nähen den Faden nicht einfädeln oder ein Marmeladenglas nicht mehr öffnen konnte. Dass sie, die doch weit jünger war als meine Oma, so etwas nicht sehen oder in der Hand nicht genügend Kraft haben sollte, war mir völlig unverständlich. Heute erlebe ich nur zu gut am eigenen Leib, wie bald sich solch kleine Beeinträchtigungen der selbstverständlichen Alltagshandlungen einstellen können.

Wesentlich gravierender fallen solche Entdeckungen aus, wenn ein Mensch gleichsam nebenbei, beim Duschen, Abtrocknen, Anziehen eine subkutane Verhärtung entdeckt, wo es bisher keine gegeben hat: Leiste, Bauchfell, Brust, Ohrläppchen. Schmerzen sind in diesem Moment kaum ein Thema, auch keine Beschwerden im weiteren Sinn, sehr wohl aber die sofortige Ahnung, dass das etwas ist, was dort nicht hingehört und möglicherweise ernste Folgen mit sich bringt. Ähnlich ist es, wenn ein Körperteil plötzlich „nicht mitkommt“, wenn sich ein Fuß verzögert setzt, obwohl weit und breit kein Hindernis ist; wenn plötzlich ein schwarzer Schatten über das Blickfeld huscht; wenn sich ein Satz nicht fertig sprechen lässt, obwohl er in meinem Geiste doch glasklar formuliert ist: In diesen Fällen scheint sich mein Körper von mir zu distanzieren, er versagt mir den selbstverständlichen Dienst, er kündigt mir die vertraute Leiblichkeit auf.

In diesen Momenten geht es noch nicht um medizinisches Fachwissen – das ist im Nachgang nötig, um die Distanz zum eigenen Körper wieder zu überbrücken, um ihn und damit mich selbst wieder zu verstehen und mit den Irritationen ein neues Ganzes werden zu können. Doch davor geht es um ein unverzüglich einsetzendes, augenblickliches Erkennen verlorener Vertrautheit, die so tief vertraut war, dass sie in ihrer Tiefe erst erkannt wird in dem Moment, in dem sie verloren ist.

Wo das „Urvertrauen“, die prä-reflexive Vertrautheit mit sich selbst, zerbricht, lässt es sich nie ganz wiedergewinnen.

Das Vertrauen, um das es hier geht, ist eine prä-reflexive Vertrautheit mit sich selbst – so wie bei dem Philosophen Dieter Henrich, bzw. eine Art „Urvertrauen“ – so wie bei dem Entwicklungspsychologen Erik H. Erikson. Weil es eine Vertrautheit ist, die vor jeder reflexiven Durchdringung liegt, lässt sie sich nie wieder ganz zurückgewinnen – es bleibt mindestens die Erfahrung des Bruchs. Zurückgewinnen lässt sich im besten Fall jedoch ein neues und anderes, in Therapien eingeübtes und im Üben stabilisiertes Vertrauen in die zwar fragil gewordene, darin aber auf andere Weise vertraute Leiblichkeit. Aber was, wenn sich der beste Fall nicht einstellt?

Szene 5: Vertrauen im Bodenlosen

Vertraute Lebenswelt, Ökonomie, Recht und Politik, geteilte Öffentlichkeit, leibhafte Unversehrtheit: Für all diese Szenarien lässt sich das Vertrauen in Relation setzen zu dem, was man von Kindheit kennt, womit man im Leben umzugehen lernt, was man neu erlernt und ausprobiert, was sich aushandeln und abwägen lässt und wo man mit unerwarteten Schwierigkeiten zu leben lernt. Doch was, wenn wir mit Krisenerfahrungen konfrontiert werden, in denen es um Alles oder Nichts geht? In denen unsere eigene Existenz auf dem Spiel steht? Die uns so erschüttern, dass das eigene Ich kaum noch erkennbar ist und in tausend Teile zersplittert? In denen kein Halt mehr zu finden ist, weil jeder letzte Halt genommen wird? In denen das Ich ins Bodenlose zu stürzen meint?

Die Szenarien sind vielfältig und an ganz unterschiedliche Orte gebunden: Asylantenheime und Frauenhäuser kommen hierfür ebenso in Betracht wie Gefängnistrakte, Notaufnahmen oder Palliativstationen. Wenn der letzte Halt genommen ist, dann scheint Vertrauen nicht mehr möglich zu sein, weil da nichts ist, an das es sich heften könnte. Kein Gesetz, das für mich gelten soll; kein Sachargument, das sich in Ruhe diskutieren ließe; kein Zutrauen in die eigene Verantwortlichkeit; keine Verlässlichkeit des eigenen Leibes mehr. Sondern nur noch der klägliche Rest meines Ichs.

Aber, und nun zeigt sich die paradoxe Kraft des Vertrauens: Dieser klägliche Rest des Ichs ist paradoxerweise noch da. Er wird zum Bezugspunkt von Allem, auch von jedem Leid und jedem Verlust. Es ist dieses Ich, das in seiner Beschädigung allen Sinn auf sich zieht, und sei es in der Manifestation des Sinnlosen – so wie einst zwischen Karfreitag und Ostern. Der entscheidende Punkt ist nicht, dem Sinnlosen um jeden Preis einen Sinn jenseits der Beschädigung zu verleihen – das wäre eine billige Flucht vor dem Sinnlosen. Sondern entscheidend ist dies: Das beschädigte Ich in seiner Beschädigung anzuerkennen, ihm dadurch eigenen Sinn zuzusprechen und selbst neuen Sinn zu empfangen. Denn wo immer eigener Sinn ist, ist auch neuer Grund gefunden – so fragil und vorläufig er in diesem Leben scheinen mag, so tragend und ewig er über uns hinaus gelten mag.

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