Wenn wir uns nicht lähmen wollen, müssen wir vertrauen Über Menschen- und Systemvertrauen

Zwei Dinge gibt es in unserem Leben nicht: Absolute Sicherheit und absolutes Vertrauen. Denn beides basiert auf absolutem Wissen, das niemand hat. Deshalb müssen wir stets mit Enttäuschungen rechnen. Das ist ein Problem – aber man muss damit leben.

Zunächst: Ohne ein Mindestmaß an Verlässlichkeit und Erwartungssicherheit wäre das Alltagsleben schrecklich. Wir vertrauen alltäglich darauf, dass wir nicht jederzeit und überall mit gewalttätigen Angriffen rechnen müssen, dass wir dem glauben können, was Freund/innen und Kolleg/innen uns versichern oder dass unsere Lebensgefährt/innen nicht spontan die gemeinsame Wohnung verlassen haben, wenn wir abends von der Arbeit zurückkehren, usw. Könnten wir darauf nicht vertrauen, dann würden wir uns in einem Zustand permanenter Unsicherheit befinden. Folglich lässt sich feststellen, dass „Chaos und lähmende Angst die einzige Alternative zum Vertrauen“ sind, wie Niklas Luhmann in seiner grundlegenden Studie zur Soziologie des Vertrauens feststellt. (N. L.: Vertrauen. Stuttgart, 42000).

Zwar kann das Vertrauen in Mitmenschen enttäuscht werden, was ersichtlich ja auch häufiger der Fall ist, als wünschenswert wäre. Wenn aus dem Vertrauensverlust in je konkrete Einzelne jedoch generelles Misstrauen in die Menschen wird, dann bleibt nur noch die Alternative des sozialen Rückzugs – oder der therapeutischen Wiederherstellung eines basalen Vertrauens.

Vertrauen in komplexe Systeme

Für das Zusammenleben in einer modernen Gesellschaft ist es nun jedoch keineswegs ausreichend, anderen Menschen zu vertrauen, die wir mehr oder weniger gut kennen und einschätzen können. Denn unser gesamter Alltag ist stark davon abhängig, dass wir uns auf die Leistungsfähigkeit hoch komplexer und unpersönlicher Sozialsysteme verlassen können. Schon vor dem Frühstück verlassen wir uns z.B. darauf, dass die kommunale Wasserversorgung mit ihrer technischen und organisatorischen Infrastruktur weiterhin Leitungswasser bereitstellt, wir vertrauen in eine staatliche Ordnung, die uns davor schützt, beim Brötchenholen von Heckenschützen erschossen zu werden, und auch darauf, dass die Verkehrsinfrastruktur es uns ermöglicht, den Arbeitsplatz zu erreichen. In aller Regel durchschauen wir bestenfalls oberflächlich, was dazu erforderlich ist und wie die jeweiligen sozialen und technischen Systeme ihre Leistungen zustande bringen. Folglich können wir keineswegs rational kontrollieren und berechnen, wie verlässlich diese sind, und deshalb müssen wir das entwickeln, was Niklas Luhmann hier in irritierender und provozierender Weise „Systemvertrauen“ genannt hat.

Dies gilt umso mehr, je komplexer und undurchschaubarer die Sozialsysteme sind. So sind die globalen Finanzmärkte nur noch für Experten einigermaßen durchschaubar; als gewöhnliche Bürger/innen können wir nicht einschätzen, wie groß die Gefahr einer erneuten globalen Finanzkrise ist, die mit einiger Wahrscheinlichkeit zu einer tiefgreifenden wirtschaftlichen Krise führen würde. Zunehmend ist unsere Lebensführung davon abhängig geworden, dass die internetbasierte Kommunikation funktioniert, also ein hoch komplexes und störanfälliges globales Kommunikationssystem. Dass aber schon vergleichsweise kleine Störungen der Sozialsysteme erhebliche Irritationen auslösen können, weiß jeder, der darauf angewiesen ist, ein Reiseziel termingerecht mit der Bundesbahn zu erreichen. Folglich vertrauen wir zwingend darauf, dass keine großen Systemkrisen eintreten werden, schon deshalb, da wir andernfalls keinerlei Möglichkeit mehr hätten, ein zukunftsorientiertes Leben zu führen, das nicht von Angst vor dem Chaos bestimmt ist.

Trau, schau, wem!?

Man könnte und müsste allein konkreten Menschen vertrauen: nicht nur diese Idee hält somit einer soziologischen Betrachtung nicht stand. Auch der verbreitete Satz „Vertrauen ist gut, Kontrolle ist besser“, der Lenin zugeschrieben wird, erweist sich – soziologisch betrachtet – als ein fundamentaler Irrtum. Denn jeder Versuch, möglichst doch besser alles zu überprüfen, statt naiv zu vertrauen, würde im Alltagsleben zu einer paranoiden Weltsicht führen, die das verunmöglicht, was erreicht werden soll.

Versucht man etwa in Liebes- und Freundschaftsbeziehungen Verlässlichkeit und Sicherheit durch misstrauische Kontrollen statt durch Vertrauen zu erlangen, dann zerstört man gerade die Grundlage der Freundschafts- und Liebesbeziehungen, die Sicherheit und Geborgenheit ermöglichen sollen.

Auch wirtschaftlich und politisch kann Vertrauen nur sehr begrenzt durch Kontrollen ersetzt werden. Denn der Versuch einer möglichst umfassenden Kontrolle führt dazu, dass sehr viel Zeit, Personal und Geld in Kontroll- und Überwachungsapparate investiert werden muss. Das erweist sich ökonomisch als ineffektiv und führt politisch zu einem autoritären Staat, der seinen Bürger/innen misstraut – und dem dann entsprechend auch von seinen Bürger/innen misstraut wird. Generelles Misstrauen ist, so betrachtet, weder im alltäglichen Zusammenleben noch in Wirtschaft und Politik eine gute Grundlage.

Wir leben und vertrauen stets auf schwankendem Boden

Ähnliches lässt sich in einer religionssoziologischen Perspektive auch für das Gottvertrauen feststellen. Dieses steht – soziologisch betrachtet – für die Absicherung einer Weltsicht, die darauf vertraut, dass nicht jederzeit und überall das Chaos droht, und zwar für eine solche Absicherung, die sich der empirischen Überprüfung entzieht. Wer dagegen (seinem jeweiligen) Gott prinzipiell misstraut und ständig versucht, durch empirische Überprüfungen zu kontrollieren, ob er sich auf religiöse Gewissheiten verlassen kann, wird vom Glauben abfallen müssen. Auch deshalb ist die Differenz zwischen religiösem Glauben und wissenschaftlicher Vernunft eben nicht vollständig überbrückbar.

Die Soziologie des Vertrauens mündet in die Beobachtung einer Paradoxie: Ein naives Vertrauen in die Stabilität und Funktionsfähigkeit der sozialen Systeme ist vor dem Hintergrund der historischen Erfahrungen mit Krisen und Katastrophen vernünftig einerseits nicht gut begründbar. Andererseits ist vernünftig gut begründbar, dass es genau dazu keine grundlegende Alternative gibt.

Ich weiß, dass ich – wenig weiß

Wie kann mit dieser Paradoxie des unverzichtbaren, aber nicht zureichend begründbaren Vertrauens umgegangen werden? Luhmanns Vorschlag lautet, dass es gehen muss, nicht generell und unspezifisch zu vertrauen oder zu misstrauen, sondern soweit als möglich zu spezifizieren, in welchen Hinsichten und wem vertraut werden soll. D. h. auf der Ebene des persönlichen Vertrauens: Wir können aus Erfahrungen lernen, zum Beispiel den wissenschaftlichen Fähigkeiten eines Kollegen zu vertrauen, ohne uns deshalb zugleich auch auf seine handwerkliche Geschicklichkeit oder seine moralische Integrität verlassen zu können. Auf der Ebene sozialer Systeme bedeutet dies, dass es durchaus berechtigt sein kann, bestimmten staatlichen Organisationen zu misstrauen – zum Beispiel dem Verfassungsschutz oder einer bestimmten Partei – ohne dass es sinnvoll wäre, daraus ein generelles Misstrauen in den Staat oder die Demokratie zu folgern. Allerdings hilft dies nur begrenzt weiter. Denn je komplexer und einflussreicher soziale Systeme sind, desto weniger sind Vertrauen oder Misstrauen rational begründbar. Wir können darauf bezogen nur wissen, dass wir nicht hinreichend genau wissen können, was die Bedingungen sind, unter denen in solchen Systemen – etwa im Welthandel, der globalen Finanzökonomie oder dem globalen Klima – kleinere Störungen zu großen Katastrophen führen.

Vertrauen: schwer begründbar unverzichtbar

Wie so oft liegt die Stärke der Soziologie auch in Fragen des Vertrauens eher darin, ein geschärftes Problembewusstsein als Lösungen anzubieten. Ohnehin aber kann man mit soziologisch informiertem Problembewusstsein wissen, dass jede Lösung immer auch neue, gewöhnlich unvorhersehbare Probleme erzeugt. Insofern gibt es keine Alternative dazu, lebenspraktisch und politisch klug mit der unauflösbaren Paradoxie des unverzichtbaren, aber nur schwer begründbaren Vertrauens in die Vertrauenswürdigkeit von Menschen und sozialen Systemen umzugehen. Denn Misstrauen wäre zweifellos die riskantere Grundlage des sozialen Zusammenlebens.

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