Erleben und Erleiden Wie Lebensgeschick und Lebenspraxis unsere Gesundheit beeinflussen

Hormone sind mitverantwortlich für Verhalten und Emotionen. Z.B. stehen Testosteron und Aggression, Vasopressin und Bindung in Zusammenhang. Diese „Moleküle der Ethik“ können wir beeinflussen. Wie hängt das zusammen: Hormone, Gesundheit und Ethik?

„Der Schlaf ist doch die köstlichste Erfindung“, meinte Heinrich Heine. Ihm ging es um die Träume und die Poesie; bekannt ist aber auch, dass zu wenig Schlaf krank machen kann. Dem Wiener Medizinprofessor und Theologen Johannes Huber, Mitglied der österreichischen Ethikkommission, geht es um den Schlaf in Zusammenhang mit unserem ethischen Verhalten, das wiederum unserer Gesundheit dienen kann. Für den guten Rat, bevor man seinen Emotionen freien Lauf lasse, den dahinterstehenden Sachverhalt noch einmal zu überschlafen, hat er eine wissenschaftliche Erklärung: Es sei unser „glymphatisches System“, das uns von den biochemischen Spuren von Stress und Hass, unserem Gedankenmüll, an dem wir selbst und andere Schaden nehmen können, im Gehirn befreit. Gute Menschen sind gesünder, erklärt er uns.

Wer wäre nicht schon mal gefragt worden, ob er Stress habe. Stress kann psychisch belasten, das ist nichts Neues. Dass er sich ein Schlupfloch im Körper suchen und diesen attackieren kann, weiß der Arzt. „Wenn der Körper nein sagt“, diese Körpersprache untersucht der kanadische Hausarzt, Palliativmediziner und wissenschaftliche Kolumnist Gabor Maté und führt sie auf chronischen Stress zurück. Der schlägt aus dem Verborgenen zu – und unser Geist will oder kann ihn nicht einmal wahrhaben.

Dass im herrschenden Medizinsystem die „Droge Arzt“ und die vertrauensvolle Arzt-Patienten-Beziehung den Stellenwert verloren haben, der ihnen im Prozess des Heilens zukomme, gibt der österreichische ehemalige Hausarzt und Buchautor Günther Loewit kampfeslustig zu Protokoll. Nahezu übergriffig sei das Gesundheitssystem geworden, indem es eine bestimmte Art von Vorsorgemedizin zum „gesundheitspolitische(n) Dogma unserer Zeit“ erhoben habe (Loewit, S. 106).

In Konkurrenz: Biomedizinisches und biopsychosoziales Gesundheitsparadigma

Diese drei Autoren sind sicherlich nicht repräsentativ für die Auseinandersetzung mit dem facettenreichen Thema Gesundheit. Aber mit ihren Büchern aus dem letzten Jahr weisen sie uns auf vernachlässigte Aspekte hin und setzen neue Akzente auf der Grundlage modernster Forschungen. Hubers und Matés Überlegungen füllen den Begriff Vorsorge mit einem neuen Sinn. Sie machen uns mit dem „Gesetz des Ausgleichs“ (Huber) vertraut, wonach sich eine ethische, aber eben auch immer wieder zu trainierende Lebensführung therapeutisch auswirke; und mit der Tatsache, dass ein enges Wechselspiel zwischen unserem Hormon-, Nerven- Immunsystem und unseren (verdrängten) Emotionen besteht (Maté). Alle drei sind Vertreter der Schulmedizin, kritisieren aber das in deren Praxis vorherrschende biomedizinische Paradigma.

Eine ethische, immer wieder zu trainierende Lebensführung wirkt therapeutisch.

Der Vorwurf: Dem konkret erlittenen und gelebten Leben von Patienten komme zu wenig Aufmerksamkeit zu. Ein weit verzweigtes ärztliches Spezialistentum vernachlässige den Wunsch des Menschen, ganzheitlich wahrgenommen zu werden. Die auf Laborbefunde (MRTs, Röntgenbilder, Bluttests, Spiegelungen, Biopsien, elektrodiagnostische Tests) fokussierte Diagnostik habe „die Bedeutung der Psyche und des sozialen Umfeldes für die Gesundheit vollkommen“ (Loewit, S.107) ausgeblendet. Auch Huber ist daran gelegen, diese Fehlentwicklung durch ein biopsychosoziales Modell zu korrigieren. In ihm wird das Individuum als „Körpergeist“ und der Wirkungszusammenhang von Körper, Geist und ökosozialer Lebenswelt gesehen. „Das bedeutet, dass jedes seelische Ereignis, also jeder Gedanke, jedes Gefühl oder jeder Handlungsimpuls zugleich immer auch ein physiologisches Ereignis ist“ (Huber, S. 108). Im Rahmen dieses Menschenbildes wird die Bedeutung unserer Gene als Krankheitsverursacher relativiert.

Der Mensch – ein komplexes Körpergeist-Modell

Die Epigenetik und Psychoneuroimmunoendokrinologie (PNIE) rücken nun als Zweige der modernen Naturwissenschaft medizinisch-therapeutisch in den Mittelpunkt; dazu Erkenntnisse aus der Evolution über die Entwicklung des Menschen zu einem emotionalen und vernunftbegabten Wesen. Im „Körpergeist-Modell“ werden somit unser Erleben, unser Verhalten, unser Hormon- und Immunsystem, die Funktionsweise unseres Gehirns und unser Genom in einem ganzheitlichen Zusammenspiel erkannt. „Was dem einen widerfährt, wirkt sich auf alle anderen aus“ (Maté, S. 67).

Dieses PNIE-„Supersystem“ hat unsere Kulturgeschichte samt unserer Ethik hervorgebracht. Unsere Gesundheit ist daran ebenso gebunden wie unsere Fähigkeit zu einer moralischen Lebensführung. Wer als erwachsener Mensch einen besseren Entwurf seiner selbst einzuüben bereit sei, könne mit der Unterstützung seines Gehirns rechnen. Dessen „Neuroplastizität“ mache es nämlich modellierbar. Es übersetze unser aktuelles Erleben, ideelles Bestreben und konkretes Benehmen in physische Strukturen mittels Neurogenese. Das heißt, es bilden sich neue Nervenzellen und neue Verschaltungen in den Gehirnsynapsen, die sozusagen unseren Selbstentwurf neurologisch konservieren.

Durch einen neuen Selbstentwurf lässt sich auch das Gehirn neu modellieren.

Huber erläutert diesen Sachverhalt als „Gesetz des Ausgleichs“, wonach Menschen durch ein ethisch wertvolles Verhalten ihre physische und psychische Gesundheit fördern können. Dieses Gesetz hat seinen literarisch-kulturellen Niederschlag und Nachhall in religiösen Schriften wie der Bibel und ihren Gebotstafeln gefunden. Huber nennt sie Gebote der Menschlichkeit und charakterisiert sie als unsere „Geräte“, um unsere charakterliche Fitness zu üben. In diesem Sinne ist unser Planet ein Übungsplanet für ein besseres Sein: „Es gibt so etwas wie eine Verfassung der Natur, ein Hundertausende Jahre altes evolutionäre geprägtes Regelwerk“, ihm „zu entsprechen bedeutet Gesundheit, Zufriedenheit und Wohlbefinden“ (Huber, S. 90). Deshalb kann auch das Gebot „Du sollst nicht stehlen“ in diesen Zusammenhang gestellt werden. Zu diesen, für das Werden und Bestehen des Menschen bedeutsamen Geboten sei beispielhaft „Du sollst Vater und Mutter ehren“ vor dem Hintergrund moderner naturwissenschaftlicher Erkenntnisse erläutert:

Unser Denken und Verhalten steuern unsere Gene

Die durch die lange Dauer der Kindheit dem Homo sapiens zunächst eigene geistig-körperliche Unreife musste ausgeglichen werden durch das Erlernen von (über-)lebensdienlichen Verhaltensweisen in familiärer Obhut. Dieser Sozialisation verdankt sich auch das Werden unserer Kultur: „Der Mensch überschritt damit sozusagen die Schwelle zur anatomischen und kulturellen Modernität“ (Huber, S. 94). Er entwickelte eine Ethik, in der zum Beispiel Werte der Solidarität und der Empathie, der gefühlsbasierten Teilnahme am Dasein anderer, Erbgut seines Charakters wurden und ihn zum dominanten Lebewesen erhoben. Die Familienbande tragen so entscheidend dazu bei, Hilfsbereitschaft zu fördern, Geborgenheit über den Generationsvertrag zu sichern und einen Schutz vor Einsamkeit zu bieten.

Die Wirkweise der Epigenetik dabei besteht in der „veränderbare(n) elektrische(n) Ladung der Gene in unserer DNA“ (Huber, S. 182) durch unser Denken, Handeln und die Einflüsse unserer Umwelt. Unser Gen-Pool erweist sich insofern als ein Menschheitsarchiv (Huber) mit prinzipieller Unabgeschlossenheit. Die epigenetische Annahme lautet, dass wir, wenn wir nur den Willen dazu aufbringen, bessere und zugleich gesündere Menschen werden können, weil wir unsere Bio- und Neurochemie beeinflussen können. Danach hätte eine charakterliche Wandlung eine biologische zur Folge. Nach Huber sind es unsere zwischenmenschlichen Beziehungen, nicht zuletzt die Familie, in der wir aufwachsen bzw. leben, die epigenetische Prägekraft besitzen. „Familiäre Strukturen wirken nicht nur erziehend, sondern auch heilend“ (S. 107).

Daher ist es wenig verwunderlich, dass in westlichen Gesellschaften Einsamkeit einen signifikanten Krankheitsfaktor darstellt. Einer Erhebung des Fachmagazins Science zufolge leiden weltweit 300 Millionen Frauen ab 65 Jahren am Alleinsein, Tendenz rasant steigend. In großen Städten lebt nahezu die Hälfte der Einwohner*innen in einem Ein-Personen-Haushalt. Eine britische Langzeitstudie belegt ein früheres Herztodrisiko als Folge sozialer Einsamkeit – und in England trägt man sich mit dem Gedanken, ein „Ministerium für das Alleinsein“ zu errichten (Huber, S. 91).

Familie und soziale Bindungen: mal fürsorglich, mal verletzend

Damit schließt sich der Kreis zu einer notwendigen Erweiterung des Konzepts von Vorsorge. „Werte wie soziale Einbindung, familiäre Geborgenheit, emotionale Unterstützung und geteiltes Leid und natürlich auch geteilte Freude sind dabei mindestens ebenso wichtig, wenn nicht sogar wichtiger, als Produkte der Pharmaindustrie wie Blutdrucksenker oder Entzündungshemmer“ (Huber, S. 109).

Singt Huber das Hohelied auf die behütende Familienstruktur, analysiert Maté das Trauma misslingender familiärer Beziehungsmuster. Für ihn wäre eine Früherkennung von chronischem Stress der individuellen Gesundheit dienlich. Denn „unsere charakteristischen Bewältigungsstrategien für psychischen und physischen Stress werden in unseren ersten Lebensjahren festgelegt“ (Maté, S. 210/211). Maté interessieren neurodegenerative und Autoimmun-Krankheiten wie Krebs, MS, Sklerodermie, ALS, rheumatische Arthritis, Alzheimer, Asthma, Morbus Crohn, die im ver-rückten PNIE-Supersystem wurzeln. Aus vielen Studien und Anamnesen habe sich für ihn erwiesen, dass Patient*innen ein Leben lang ihre Wut unterdrücken. Sie suchen durch ihre „nette“ Art Anerkennung und zeigen sich außerstande, fremde Erwartungen nicht zu erfüllen.

Innerer Stress, der krank macht.

Eine krebskranke Patientin erinnert sich an ihre Kindheit; an das „große, gesunde Mädchen“, das sich damit zufriedengab, allein mit sich selbst klar zu kommen. Ihr Vater erschien ihr als latente Gefahr – „wir waren da, um gesehen, aber nicht um gehört zu werden“ – (Maté, S. 80), ihre Mutter als „liebevoll“, bevorzugte aber ihre beiden Geschwister. Sie heiratete früh, vier Ehen gingen schief. Was sie zermürbte, war „der innere Stress, sich an einen anderen Menschen anpassen zu müssen“, ein Lebensbewältigungsversuch, der „aus Reaktionen auf andere (besteht), ohne jemals zu spüren, wer sie selbst sind“ (Maté, S. 84). Ein an Prostatakrebs Leidender beschreibt seine Unfähigkeit, nein zu sagen. Er „helfe gern anderen Menschen“ und fühle sich „schlecht“ und „schuldig“, wenn er einmal anders verfährt. In seiner Ehe erlebt er seine Frau als tonangebend, was er aber (er-)dulde. In der Exploration kristallisiert sich heraus, wie dieses Bewältigungsmuster bereits die Beziehung zu seinen Eltern dominierte. Er hatte sich „von seinen Eltern kontrolliert gefühlt… und (war) voller Schuldgefühle“, wenn er sich nicht fügen wollte, und dafür, wie er empfand, „verdiente Prügel“ bezog (Maté, S. 113). Eine als Kind missbrauchte Patientin (rheumatisch erkrankt) verdrängte ihr Trauma, indem sie versuchte, ihre Mutter vor entwürdigenden Partnerbeziehungen zu bewahren. Diese Rollenumkehr von Eltern und Kindern „verzerrt die Beziehung des Kindes zur gesamten Welt“, macht anfällig für Stress und „spätere psychische und physische Erkrankungen“ (Maté, S. 177/178).

Unser Leben – ein zerbrechliches Geschenk

Wenn Eltern kindliche Gefühlsregungen des Aufbegehrens, des Zorns, der Wut streng zurückweisen, statt sie als notwendig und natürlich anzuerkennen und ihnen mit Empathie zu begegnen, bleibt Kindern keine andere Wahl, als diese scheinbar sträflichen Ausbrüche gegen sich selbst zu richten. Denn die Bindung zu den Eltern ist für sie existenziell. Lernt das psychische Selbst, unangemessen mit sich selbst zu Gericht zu gehen, kann sich auf der physiologischen Ebene parallel dazu eine „immunologische Verwirrung“ anbahnen: „Bei Autoimmunerkrankungen wendet sich das Abwehrsystem des Körpers gegen das Selbst“ (Maté, S. 179). Die Grenze zwischen dem Selbst und Nicht-Selbst löst sich auf, eine Unterscheidung, die dem Immunsystem obliegt.

Ein kurzer Blick noch auf die – mit vielen Erfahrungen aus der eigenen hausärztlichen Praxis untermauerte – Generalabrechnung von Loewit mit dem Gesundheitssystem als solchem: Er charakterisiert es spitz als ein von der Pharmaindustrie durchregiertes Geschäft, in dem nicht die Patient*innen, sondern die Gewinnerzielung im Mittelpunkt stehe – und die Ärzte aufgefordert seien, dabei mitzuwirken. „Es scheint, dass wir Ärzte unser neues Selbstbild und unser Selbstbewusstsein…in der Prävention sehen“ (S. 241). Als durchaus typisches Beispiel erwähnt er die Verordnung von Statinen für 88-Jährige, um deren Blutfettwerte zu senken, obwohl erst nach mehreren Jahren ihrer Einnahme die Gefäßverkalkung vermindert werden könne. Der – doch „heilkundige“ – Arzt werde zum „Verteiler der Tablettenindustrie“ (S. 262), der es „gelungen (ist), das ärztliche Wort aus der Liste der gebräuchlichen Medikamente streichen zu lassen“ (S. 188).

Statt mit Menschen und mit einer ganzheitlichen Medizin auf ihre Beschwerden und Ängste Antworten zu formulieren, würden sie diagnostisch auseinandergenommen, Bereiche ihrer Anatomie vor- und nachuntersucht und im Stil eines Körper-TÜV überwacht, meint Loewit. Aber „unser Leben ist … eine Art Geschenk. Eine Leihgabe. Darauf aufzupassen ist sinnvoll. Die Medizin aber zu tief eindringen zu lassen, kann auch gefährlich sein“ (S. 159).

Zum Weiterlesen

  • Johannes Huber: Das Gesetz des Ausgleichs. Warum wir besser gute Menschen sind. Edition a, Wien 2020, 330 Seiten.
  • Günther Loewit: Sehnsucht Unsterblichkeit. Wie die Medizin zur neuen Religion der Menschen wird. Goldegg Verlag, Wien 2020, 274 Seiten.
  • Gabor Maté: Wenn der Körper nein sagt. Wie verborgener Stress krank macht – und was Sie dagegen tun können. Narayana Verlag 2020, 314 Seiten.

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