„Globale Gesundheit“ als Auftrag Plädoyer für ein Verständnis, das sich auf Solidarität stützt

Globale Gesundheit ist geprägt von gegenseitigen Abhängigkeiten, gemeinsamen Verwundbarkeiten und sich gleichzeitig verschärfenden Ungleichheiten. Wie kann Politik einen nachhaltigeren und gerechteren Umgang nicht zuletzt auch mit übertragbaren Krankheiten ermöglichen?

Im Zuge der aktuellen COVID-19-Pandemie ist globale Gesundheitspolitik in den Scheinwerfer internationaler Aufmerksamkeit geraten – damit werden ihre Schwächen beleuchtet, andererseits aber auch eine Bühne für die Anliegen und Herausforderungen von global health geschaffen. Im Folgenden widme ich mich unterschiedlichen Auffassungen von globaler Gesundheit und plädiere für eine Neuausrichtung hin zu einem Verständnis, das sich auf Gesundheit als Menschenrecht und internationale Gesundheitspolitik als Ausdruck von Solidarität stützt. Dem zugrunde liegt die Überzeugung, dass es für politische Handlungsräume entscheidend ist, wie wir Probleme und deren Ursachen verstehen und argumentieren.

Gesundheit ist eine intersektionelle Aufgabe

Die Covid-19-Pandemie ist weder eine Überraschung, noch sollte sie als Ausnahme behandelt werden. Vielmehr ist es sehr wahrscheinlich, dass die Menschheit künftig eine steigende Anzahl von Infektionskrankheiten bewältigen muss, die Grenzen überschreiten und sich weltweit ausbreiten. Dies ist nicht nur auf die zunehmende Mobilität von Gütern und Menschen zurückzuführen, sondern auch auf unsere Produktions- und Verbrauchsweise, die zu Umweltveränderungen wie Klimawandel, Bodendegradation oder Verlust der biologischen Vielfalt führt. Ebenso wie bisherige Epidemien, z.B. Ebola oder SARS, hebt die Covid-19-Pandemie hervor, dass Gesundheit ein intersektionelles Problem ist (und war) und untrennbar mit systemischen und langfristigen Herausforderungen verbunden ist. In der Vergangenheit waren die Lehren aus Infektionskrankheiten eher rar und führten hauptsächlich dazu, dass Gesundheit enggeführt wurde auf den „Schutz vor“ oder die „Eindämmung von“ übertragbaren Krankheiten.

Covid-19 sprengt traditionelle Betroffenheiten

Bei Covid-19 könnte es anders sein, hier besteht Hoffnung, dass es zu einem grundlegenderen und nachhaltigeren Umdenken kommen könnte. Diese Infektionskrankheit ist eine globale Pandemie – sie überwindet alle Grenzen und betrifft alle Länder. Plötzlich bestimmen nicht mehr die Kategorien „entwickelt“ vs. „sich entwickelnd“ oder „globaler Norden“ vs. „globaler Süden“, wie wahrscheinlich und schwerwiegend Menschen an einer Krankheit leiden. Stattdessen wirkt sich die Corona-Pandemie überall auf die Lebenssituationen der Menschen aus. Was die derzeitige Pandemie seit ihrem Auftreten also von denen der letzten Jahrzehnte unterscheidet, ist die Aufhebung traditioneller Betroffenheitsbeziehungen: Zum ersten Mal in der Nachkriegszeit sind die wohlhabendsten Länder so stark von einer Epidemie betroffen. Die Wahrnehmung, dass unser aller, und damit sind „wir reichen Industrieländer“ gemeint, Gesundheitssicherheit akut angegriffen und bedroht ist, hat neben den global hohen Infektionszahlen und dramatischen Krankheitsverläufen zu einer Aufwertung der Debatten um globale Gesundheit geführt. Historisch gesehen war es das Privileg des reichen globalen Nordens, die Sicherheit vor Infektionskrankheiten, mit denen die Menschen im globalen Süden noch zu kämpfen hatten, immer weiter zu erhöhen. Diese brüchige Sicherheit ist nun Vergangenheit.

Die Pandemie trifft einige mehr als andere

Gleichzeitig kann die geteilte Pandemieerfahrung nicht über dramatische Unterschiede hinwegtäuschen. Weiterhin stehen den Ländern des globalen Nordens größtenteils deutlich mehr Ressourcen zur Verfügung, um mit neu auftretenden Gesundheitsbedrohungen wie COVID-19 fertig zu werden, haben sie andere Reserven, um Folgen der Pandemie und die entsprechenden Maßnahmen abzufedern. Doch auch innerhalb der „hochentwickelten“ Länder nehmen die Ungleichheiten innerhalb der Gesellschaften zu: Überall treffen nicht nur die gesundheitlichen, sondern auch die sozialen und wirtschaftlichen Kosten einige deutlich mehr als andere. Diejenigen, die bereits zuvor kaum zurechtkamen, werden jetzt noch weiter zurückgelassen. Und überall zählen neben der politischen Führung die Stärke der Gesundheitssysteme und der breite Zugang zur Gesundheitsversorgung zu den entscheidenden Faktoren, wie mit der Pandemie umgegangen werden kann.

Politikwechsel für eine allgemeine Gesundheitsversorgung

Die WHO und zahlreiche andere Akteure haben schon vor Jahren begonnen, auf einen Politikwechsel weg von einem Fokus auf vertikale Programme zu Eindämmung einzelner Krankheiten hinzuarbeiten. Die in den nachhaltigen Entwicklungszielen (SDGs) von 2015 festgelegte Forderung nach allgemeiner Gesundheitsversorgung (UHC) zielt auf horizontale Maßnahmen zur Stärkung von Gesundheitssystemen und die Absicherung gegen finanzielle Risiken ab, die ansonsten mit Gesundheitsdienstleistungen verbunden sind. Dahinter verbirgt sich das massive Problem, dass ein Großteil der Weltbevölkerung keinen gesicherten Zugang zu Gesundheitsdienstleistungen hat und die Zahl der Menschen, die einen großen Teil ihres monatlichen Einkommens für „out of pocket“-Gesundheitszahlungen verwenden muss, weiterhin steigt. Mit ihrem aktuellen Arbeitsprogramm hat die WHO unter dem Titel „Triple Billion“ bis 2023 die Schaffung einer allgemeinen Gesundheitsversorgung und die Förderung eines gesunden Lebens neben dem Schutz vor Gesundheitsnotfällen zur Priorität gemacht. Mit „leave no one behind” wurde außerdem das Ziel, Ungleichheiten zu verringern, in den Mittelpunkt der Nachhaltigkeitsagenda gestellt.

Von der Eindämmung einzelner Krankheiten zur allgemeinen Gesundheitsversorgung.

Die Konzepte und Strategien für eine Neuausrichtung globaler Gesundheitspolitik sind also da. Formell tragen Staaten diesen internationalen Konsens mit. Allerdings zeugen nicht nur die nationalen Alleingänge zur Sicherung von medizinischer Ausstattung und Impfstoffen „im Krieg gegen das Coronavirus“ von einem anderen kurzfristigen und letztendlich egoistischen Vorgehen. Derzeit zeigt sich ein sehr gemischtes Bild staatlicher Handlungsweisen, die zwischen einem starken Fokus auf enge nationalstaatliche Interessen und Maßnahmen zur Stärkung multilateraler Vorgehensweisen rangieren.

Globale Gesundheitspolitik als Ausdruck von Solidarität

Ausgehend von den oben gezeichneten gegenseitigen Abhängigkeiten und gemeinsamen Verwundbarkeiten und sich gleichzeitig verschärfenden Ungleichheiten, sollte das beschriebene Umdenken über globale Gesundheit in den Mittelpunkt der Politik rücken und unterfüttert werden von einem anderen Verständnis von Kooperation. Globale Gesundheitspolitik als Ausdruck von Solidarität und zur Verwirklichung von Gesundheit als Menschenrecht zu verstehen, ist angesichts der bisherigen Ausführungen gleichermaßen naheliegend und weitreichend. Dies bietet die Chance zu einer neuen gesellschaftlichen und schlussendlich politischen Wertdefinition. Solidarität als ethisches Prinzip bezieht sich auf gegenseitige Abhängigkeiten, hebt die Unterscheidung zwischen „wir“ und „ihnen“ auf und setzt ihr ein durch die gemeinsame Erfahrung der Verwundbarkeit gekennzeichnetes symmetrisches Verhältnis gegenüber. Verwundbarkeit würdigt aber auch die Ungleichheiten, unter denen Menschen auf der ganzen Welt leiden. Solidarität zwischen Gesellschaften hebt auf die Verwirklichung von Gerechtigkeit ab und rückt damit Rechteträger in den Mittelpunkt. Das Recht auf Gesundheit ist damit eine Kernnorm für solidarisches Handeln.

Ziel: Gesundheit für die gesamte Weltbevölkerung

Aus der Sicht der Länder des globalen Nordens sollten Infektionskrankheiten daher nicht „abgetan“ werden als Krankheiten, die aus Ländern des globalen Südens stammen und lediglich eingedämmt werden müssen. Stattdessen sollten soziale und ökologische Gesundheitsdeterminanten in den Blick genommen werden und das Gebot der „gesundheitlichen Gerechtigkeit“, das sie implizieren. Je mehr beispielsweise die Folgen des Klimawandels auf der ganzen Welt zu spüren sind, desto mehr erkennen selbst Länder des globalen Nordens, wie schwierig es für sie sein wird, sich darauf einzustellen.

Die Menschheit wird gegenwärtige und zukünftige Pandemien nur überwinden, wenn Gesundheit nicht in erster Linie als Instrument zur Erreichung von Sicherheit oder wirtschaftlicher Entwicklung einzelner Staaten angesehen wird, sondern als Menschenrecht, als eigenständiger Wert und Ziel der Politik. Dies ändert die „Spielregeln“ und lässt Politik hinwirken auf langfristige Ziele und systemische Maßnahmen, die auf Prävention, Überwachung und Stärkung der Gesundheitssysteme basieren, um die Widerstandsfähigkeit der Gemeinschaften zu verbessern.

Im Kern wohnt global health der normative Anspruch inne, Gesundheit für die gesamte Weltbevölkerung umzusetzen, unabhängig vom Ort der Geburt, der sozialen oder nationalen Zugehörigkeit oder des politischen und wirtschaftlichen Status quo. Dementsprechend ist es als Auftrag zu verstehen, eine Politik anzuleiten, die umweltbedingte Krankheitsursachen verringert, Gesundheitsversorgung bereitstellt und Menschen ermächtigt, eine gesunde Lebensführung umzusetzen.

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