Familienleben mit zwei behinderten Kindern Kinderwunsch und struktureller Ableismus

Anna Mendel und ihr Mann haben zwei behinderte Kinder und wünschten sich ein drittes Kind. Für viele war und ist dieser Wunsch nicht nachvollziehbar. Eine gut eingeübte Rechtfertigungsrede, die sich auch als Anklageschrift gegen strukturellen Ableismus lesen lässt.

Während der Schwangerschaft mit unserer Tochter, unserem dritten Kind, habe ich vielen mir unbekannten Personen unsere Familiengeschichte erzählen müssen. Oft aus medizinischen Gründen, aber auch, um die Entstehung unserer individuellen Situation erklären zu können.

Mein Name ist Anna, ich bin 38 Jahre alt und lebe mit meinem Mann und unseren mittlerweile drei Kindern in der Nähe von Stuttgart. Unser Sohn Simon, 5 Jahre alt, wurde im Sommer 2019 mit ASS (Autistische Spektrum Störung)/ Asperger Syndrom diagnostiziert. Sein kleiner Bruder Lukas, 4 Jahre alt, kam im Winter 2016 mit Trisomie 21 zur Welt. Lukas’ Diagnose war bereits kurz nach dem ersten Trimester bekannt. Wir entschieden uns nach positivem Bluttest für ein Fortführen der Schwangerschaft. Seit Mitte November ist nun unsere Tochter Maya da und unser lange gehegter Traum vom dritten Kind ist somit erfüllt. Für viele ist dieser Wunsch nicht nachvollziehbar oder zumindest ungewöhnlich.

„Respekt, dass Sie noch ein drittes Kind bekommen!“

Dies sagte uns eine Therapeutin, zu der wir erst seit wenigen Wochen mit unserem Sohn Lukas gehen. Sicherlich sollte dies ein Kompliment sein, denn ich hatte ihr soeben von den beiden Behinderungen in unserer Familie erzählt. Nebenher räumte unser kleiner, hyperaktiver Sohn ihre Spielzeugecke um, verteilte Holzklötze und Puzzleteile auf dem Boden und zeigte sich auch ansonsten von seiner anstrengenden Seite. Therapeut*innen und auch medizinisches Personal interessieren sich oft für die Auswirkungen, die die verschiedenen Behinderungen auf unser Leben haben. Und so erzählte ich: „Oft ist Simon – Lukas, leg das Buch zurück – ganz oft überreizt, da singt er viel und – Lukas, nicht zur Tür raus gehen – kreischt auch oft. Manchmal zieht er sich auch ganz – Lukas, nicht die Puzzleteile in den Mund nehmen – in sich zurück und wir müssen ihn viel durch seine Ängste begleiten.“

Zu dem Zeitpunkt war ich bereits im neunten Monat schwanger und passte schon nicht mehr richtig an ihren Besprechungstisch. Meine Reaktion auf ihre Respektsäußerung war auch fast schon pathetisch und auf jeden Fall schwang Rechtfertigung mit: „Naja, wir wünschen uns schon lange ein drittes Kind. Das Herz will eben, was es will!“ Sie antwortete: „Ich habe selber zwei kleine Kinder, ich könnte das nicht.“

„Ich habe selber zwei kleine Kinder, ich könnte das nicht.“

Noch so ein Satz, den wir immer wieder hören. Als hätten wir uns dieses Leben so ausgesucht, als hätten wir eine Wahl gehabt. Klar haben wir uns für unseren Sohn mit Trisomie 21 entschieden, obwohl der Bluttest eindeutig war. Natürlich haben wir uns für ein Leben mit ihm und, ja, auch mit allen Begleitumständen entschieden. Und nein, so richtig war es uns nicht klar, wie anstrengend es werden würde. Aber ist das irgendjemandem so richtig klar, bevor man Eltern wird? Genau die Stelle bereitet mir in der Argumentation für unser Leben immer ein bisschen Schwierigkeiten. Denn naturgemäß brauchen wir mehr Unterstützung als andere Familien. Und wenn ich nach dieser Unterstützung frage und dann zugebe, dass ich von mindestens einer Behinderung vorher wusste, komme ich mir wie eine Betrügerin vor. Als würde ich mir etwas erschleichen, worauf ich keinen Anspruch habe.

Anna Mendel (Foto: Avec-Amis-Photography, Stuttgart)

„Haben Sie Unterstützung?“ fragte mich auch meine Psychiaterin, die ich im 8. Monat aufsuchte, weil sich Symptome einer depressiven Episode zeigten: Schlafmangel, Appetitlosigkeit, Motivationslosigkeit, Trauer, Gedanken rund um den Tod. Mein Gynäkologe hatte mir geraten, mich dringend medikamentös behandeln zu lassen, bevor es schlimmer werde oder zu spät sei. Wofür auch immer. Für meine Psychiaterin war ganz klar, dass meine Familiensituation an meiner Depression schuld sei. Die Mehrfachbelastung durch die Behinderungen, Arbeit und natürlich die medizinischen Vorgeschichten, zu denen auch zwei Fehlgeburten gehören. Trotzdem stellte auch sie die Frage, die den Ball in mein Spielfeld zurückwarf:

„Hat der Test denn die Trisomie 21 nicht angezeigt?“

Doch, hatte er. Und, zack, war ich wieder am rechtfertigen und mich entschuldigen. Die letzten Jahre hatten gezeigt, dass das deutsche Gesundheitssystem werdende Mütter darin unterstützen möchte, keine behinderten Kinder zur Welt zu bringen. Oder neutraler gesagt: Der Bluttest auf diverse Gendefekte oder, wie ich es nenne, „Genabweichungen“, wird im Laufe des Jahres 2021 zur Kassenleistung. Die 250 Euro für diesen Test werden also gezahlt, damit Eltern, bei deren Baby das Risiko auf Trisomie 21 oder andere Genabweichungen besteht, sich überlegen können, ob sie die Schwangerschaft fortführen oder abbrechen möchten. Der Gesetzgeber erlaubt den Abbruch zeitlich bis einschließlich des errechneten Geburtstermins. 9 von 10 Frauen oder Paaren entscheiden sich für einen Abbruch (www.bundestag.de/resource/blob/516748/bb117fe4968bb2e8a440de7782a924ea/wd-9-024-17-pdf-data.pdf). Diese Zahl kann (auf Basis ausländischer Studien) nur geschätzt werden, da in Deutschland nirgends registriert wird, aus welchem Grund eine Schwangerschaft abgebrochen wird.

Ich habe in allen Schwangerschaften die pränatalen Tests machen lassen und zwei Mal sogar den Bluttest. Wenn ich das erzähle, erwarten Menschen ganz offensichtlich, dass ein positiver Test mich selbstverständlich Richtung Abtreibung führen würde. Es ist dann oft schwer zu erklären, dass ich bzw. mein Mann und ich in erster Linie wissen wollten, was uns erwarten würde. Wobei wir ja jetzt wissen, dass niemand von uns das jemals wissen kann.

So ein Bluttest ist keine Kristallkugel, die die Zukunft voraussagen kann.

Denn viele Behinderungen entstehen erst während oder nach der Geburt oder können auch erst später entdeckt werden, so wie der Autismus bei unserem großen Sohn.

Während ich diesen Text in der Küche schreibe, sitzt mein Mann mit den drei Kindern im Wohnzimmer. Simon nimmt es furchtbar mit, dass ich hier etwas mache, das er nicht zuordnen kann. Er fühlt sich unwohl und will, dass ich schnell fertig werde.

Und so könnte man unser Leben ganz gut zusammenfassen. Fremdbestimmt, aber nicht durch unseren Sohn, sondern durch seine Behinderung. Sein Gemütszustand wird massiv von Struktur und Einheitlichkeit bestimmt. Abweichungen sind im höchsten Grade störend bis hin zu einem möglichen Zusammenbruch. Die abendliche Routine und Reihenfolge darf niemals abweichen, Veränderungen im Wohnraum müssen detailgenau mit ihm besprochen und von langer Hand vorbereitet werden. Dasselbe gilt für Ereignisse; spontane Änderungen sind nicht möglich oder, falls nötig (weil es zum Beispiel regnet und wir deshalb nicht auf den Spielplatz können), muss diese Störung aufgefangen werden.

Ein Leben zwischen Anträgen, Paragraphen und Gummistiefeln

All das kostet viel Kraft, und doch haben wir unseren Alltag so komplett darauf ausgerichtet, dass wir es nicht als Arbeit empfinden, was es aber trotzdem ist. Ein Leben mit Behinderung ist so viel mehr als das, was man sieht. Da wären die vielen Termine bei Ärzt*innen, Therapeut*innen und in anderen medizinischen Zentren. Nicht selten haben wir 15 Termine allein für unsere Kinder in einem Monat. Dazu kommt natürlich viel Papierarbeit. Anträge und Formulare sind unsere Begleiter seit Tag eins der Diagnose. Für alles braucht es Papiere: Für den neuen Reha-Buggy, für den Antrag auf einen Pflegegrad, für die begleitende Unterstützung im Kindergarten. Und sind diese Anträge detailgenau ausgefüllt, Arztberichte angehängt und fristgerecht versendet, kann es Monate dauern bis eine Reaktion kommt. Wird der Antrag abgelehnt, müssen Gesetzbücher gewälzt werden, um im Widerspruch genau anhand des Paragraphen belegen zu können, warum uns oder besser unserem Kind genau diese Sache zusteht. Und dann geht das Spiel mit Versenden und Warten aufs Neue los. All diese Papierarbeit müssen wir Eltern von behinderten Kindern neben der Arbeit, dem Alltag und den üblichen Dingen erledigen, die es in einer Familie so gibt: „Braucht Simon neue Gummistiefel? Wann müssen die Kinder zum Zahnarzt? Wo ist die Geburtstagseinladung? Haben wir noch Brot?“ Diesen sogenannten Mental Load haben auch wir. Und dann eben noch mal das Doppelte davon rund um die Behinderungen unserer Kinder.

Und weil dies alles nicht machbar ist mit zwei Vollzeitjobs, ist es nicht ungewöhnlich, dass meist die Mutter in Familien wie unserer beruflich zurücksteckt oder ganz aufhört zu arbeiten. Dies zieht oft Armut nach sich, auch wenn einem als Pflegeperson Rentenpunkte angerechnet werden, die aber noch lange nicht all die Jahre Pflegearbeit auffangen werden. Auch ich habe meine Stunden gekürzt und werde sie nach Rückkehr aus meiner aktuellen Elternzeit nicht erhöhen. Das ist nicht schön, aber anders ist unser Alltag nicht machbar.

„Sind Sie denn glücklich?“

Das ist eine Frage, die mir nie jemand stellt. Ganz offensichtlich meinen die meisten, die Antwort zu kennen, und stellen sie deswegen erst gar nicht. Dabei ist die Antwort genauso komplex und gleichzeitig einfach wie bei vielen anderen Müttern und Eltern. Ich liebe meine Kinder. Und wenn es nur um uns fünf geht, wenn wir zusammen sind und eine gute Zeit haben, dann bin ich so richtig glücklich. Und wenn alles drunter und drüber geht und ich herumschreie, dass sie doch endlich aufräumen sollen oder wenn ein Antrag wieder nicht durchgegangen ist, dann bin ich genervt und vielleicht auch mal unglücklich. Aber das ändert nichts daran, dass mein Leben mit den (und nicht trotz der) Behinderungen meiner Kinder ein richtig gutes ist.

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