Krankheit und Heilung Ein urbiblisches Thema und die therapeutische Kompetenz der Theologie

Zu jedem Geburtstag wünscht man sich gute Gesundheit. Ein möglichst langes Leben in Gesundheit – das ist der Traum vieler Menschen. Doch Krankheit und Gesundheit zählen auch zu den Grundthemen der christlichen Theologie. Was hat sie in Corona-Zeiten zu diesem Thema beizutragen?

Inspiriert wurde die kirchliche und theologische Auseinandersetzung mit Krankheit und Gesundheit durch die biblischen Texte mit ihren Krankheits- und Heilungserzählungen. Einzelmotive wie Krankheit als Folge von Sünde prägten viele Jahrhunderte die kirchliche und theologische Interpretation von Krankheit mit teilweise tragischen Folgen für die Betroffenen. Gleichzeitig inspirierte die biblische Botschaft die kirchliche Sorge für die Kranken und die damit verbundene Einrichtung von Hospitälern. Mit Entwicklung der modernen Medizin im 19. und 20. Jahrhundert übernahm die Medizin die therapeutische Kompetenz, die zuvor vorwiegend der Kirche zugeschrieben wurde. Die Theologie übernahm die Rolle einer kritischen Begleiterin der Medizin.

Das biblische Paradigma „Krankheit und Heilung“

In den Texten des Alten und Neuen Testamentes finden sich eine Vielzahl von Krankheits- und Heilungserzählungen. Diese sind als theologische Texte angelegt und verfolgen nicht das Interesse einer medizinischen Falldarstellung. Auch die Reduktion auf die Wunderfrage stellt eine Verkürzung dar.

Das Alte Testament berichtet über zahlreiche Krankheitsfälle und Heilungen. Es werden u.a. Heilungen von Blinden, Tauben, Aussätzigen und Bewegungsgestörten (z.B. Fußkranken) erzählt. Charakteristisch ist in den Krankheitsaussagen, dass die Krankheiten mit wenigen äußerlichen Merkmalen beschrieben und nicht näher differenziert werden. Über die inneren Organe bestehen nur sehr ungenaue Vorstellungen, da Sektionen aus kultischen Gründen nicht vorgenommen wurden. Über die Krankheits- und Heilungstypologien der Bewegungsstörung, der Blindheit, der Kommunikationsstörung sowie des Aussatzes wird der Mensch in seiner Gesamtheit beschrieben.

Der Krankheitszustand wird grundsätzlich als ein Zustand der Schwäche gedeutet. Die Krankheit wird also als eine todesnahe Existenz erfasst. Aus der Heilkunde Israels sind auf der Grundlage des alttestamentlichen Textbefundes nicht mehr als volksmedizinische Maßnahmen bekannt. Ein Beispiel ist die Angabe des Feigenpflasters (Jes 38, 21). Die Tätigkeit des Arztes war also auf das Äußere des Leibes beschränkt, blieb nach dem Zeugnis der alttestamentlichen Texte häufig erfolglos und wurde insgesamt sehr kritisch beurteilt (vgl. Ijob 13,4).

Nach alttestamentlicher Interpretation ist Jahwe allein für die Gesamtheit des menschlichen Lebens zuständig. Er ist der Urheber der Krankheit und zugleich der Retter aus der Existenz am Rande des Todes. Das Phänomen Krankheit war in Israel nicht nur Schicksal des Individuums, sondern hatte immer weit reichende Konsequenzen für die Stellung des Kranken in der Gemeinschaft. Die Krankheit wird zum Zeichen einer grundlegenden Krise des ganzen Volkes.

Das Alte Testament stellt in vielen Situationen die Krankheit und die Sünde des Menschen in einen Zusammenhang. Der Ps 38, 3 spricht von der Hand Gottes, die den Beter für seine Torheit und Sünde mit Krankheit schlägt. Die Sünde besteht aus dem Ungehorsam des einzelnen oder des ganzen Volkes gegenüber Gott. Allerdings ist Sünde nicht immer die Krankheitsursache. Oft wird die Ursache nicht benannt.

Krankheit und Heilung im Neuen Testament

Die neutestamentlichen Heilungserzählungen sind in zwei Gruppen zu unterteilen: Exorzismen und Therapien. Im Unterschied zu den Exorzismen treten in den Therapien dämonologische Motive fast vollständig zurück. Die Krankheit ist hier gekennzeichnet als ein Zustand der Schwäche, der durch eine heilende Kraftübertragung beseitigt wird. Die Existenz eines Kranken entspricht einer menschlich ausweglosen Situation, die von einer radikalen Lebensminderung geprägt ist. Jesus nimmt im Notfall auch am Sabbat Heilungen vor. Das Gebot der Lebensrettung steht über dem Sabbatgebot.

Die soziale Situation des Kranken wird auf dem Hintergrund des alttestamentlichen Horizontes betrachtet. Die blutflüssige Frau ist z.B. durch ihre jahrelange Krankheit kultisch unrein und lebt marginalisiert am Rande der Gesellschaft (Lk 8, 43-49). Im Neuen Testament sind keine Aussagen über Kollektivleiden des ganzen Volkes zu entdecken.

Der Verfasser des Lukasevangeliums verwendet für die Macht Jesu das Bild des „Finger Gottes“, durch den er auch die Dämonen austreibt (vgl. Lk 11,20). Damit werden die Heilungen als Taten Gottes identifiziert. Das Heilungsmonopol Gottes, das das Alte Testament konstatiert, wird also aus der Sicht der Evangelisten in keinster Weise angetastet. Jesus beauftragt die Jünger mit der Sorge für Kranke und ihre Heilung im seinen Namen.

Die Krankheit wird in den alttestamentlichen Texten teilweise als eine Folge der Sünde verstanden. Jesus wehrt sich grundsätzlich gegen die selbstverständliche religiöse Aussage, dass Menschen, die Opfer eines Unglücks sind, als Sünder zu verurteilen sind (Lk 13, 4). Er sieht in diesem Vorurteil die Gefahr der Selbstgerechtigkeit, weil sich der Verurteilende dadurch selbst von der Sünde freispricht, und mahnt zur radikalen Umkehr angesichts des nahenden Gerichts (Lk 13, 1-5). Auf der anderen Seite interpretieren die neutestamentlichen Heilungstexte in der Korrelation Krankheit–Sünde das Phänomen der Krankheit als ein Leiden des ganzen Menschen, das auf eine gestörte Beziehung zu Gott hindeutet. Die Krankheit ist der Ausdruck der umfassenden Erlösungsbedürftigkeit des Menschen.

Krankheit ist Ausdruck der umfassenden Erlösungsbedürftigkeit des Menschen.

Der Glaube wird in vielen Fällen als Voraussetzung der Heilung beschrieben (vgl. Lk 8, 48). Als menschlich nicht zu überwindende Situation verbleibt dem Kranken die einzige Hoffnung auf die Rettung durch Gott.

Im Zuge der Heilung erlebt der Kranke die Emanzipation als eigenständige Person. Initiationsmoment ist dabei oftmals die Kommunikation zwischen Jesus und dem Kranken. Die Emanzipation bedeutet eine Wiederherstellung der körperlichen Fähigkeiten und der Handlungsfähigkeit. Sie impliziert jedoch nicht nur eine Zurücksetzung in einen vormaligen „gesunden“ Zustand, sondern gleichzeitig eine neue Seinsweise des Menschen.

Gesundheit wird im Kontext von Krankheit und Heilung als Vitalität, Lebenskraft und Unversehrtheit des Körpers definiert. Die Entstehung von Gesundheit erfordert die Umkehr des Menschen, seine eigene Initiative und Haltung oder die entsprechende Mitwirkung seines sozialen Umfeldes. Vor dem Hintergrund der vier Heilungstypologien hat die Gesundheit des Menschen nach biblischem Verständnis folgende Dimensionen: die Wiederherstellung der Lebenskraft (Heilung von Gelähmten), die Fähigkeit zur Wahrnehmung der Wirklichkeit (Heilung von Blinden), die Fähigkeit zum Erwerb und Austausch von Wissen durch Kom­munikation (Heilung von Taubstummen) und das Erlangen einer sozialen Integrität und Identität (Heilung von Aussatz) sowie als grundlegende Kategorie die intakte Gottesbeziehung.

Die Bedeutung des biblischen Paradigmas für ein aktuelles theologisches Verständnis

In der historischen Rückschau zeigt sich, dass die biblischen Texte über Krankheit und Gesundheit eine breite Rezeption in der Theologie, kirchlichen Lehre und Praxis erfahren und vielfältigste Initiativen ausgelöst haben. Die Sorge für Kranke und Sterbende wurde zu einem unverwechselbaren Charakteristikum des Christentums. Auf der anderen Seite wurde das Sündenmotiv instrumentalisiert und als Machtinstrument jahrhundertelang missbraucht.

Die Krankheit entspricht nach biblischem Verständnis einer akuten bzw. chronischen Lebenskrise der menschlichen Person. Diese drastische Darstellung kann sicherlich nicht direkt auf Krankheitserfahrungen von heutigen Betroffenen übertragen werden. Nicht jede Krankheit stellt eine akute Lebenskrise dar oder endet mit sozialer Diskriminierung. Trotzdem zeigen die biblischen Texte zahlreiche Facetten, wie Menschen ihr individuelles Kranksein erleben können. Hieraus ergeben sich Anknüpfungspunkte für die Krankenhausseelsorge. Sie hat bei der subjektiven Perspektive und Situation der Person und seiner Krankheitswahrnehmung anzusetzen.

Die biblischen Texte spiegeln wider, dass Krankheit stets die ganze Person trifft und beeinflusst.

Die biblischen Texte spiegeln wider, dass die Krankheit kein Ereignis einzelner organischer Subsysteme ist, sondern stets die ganze Person trifft und beeinflusst. Das biblische Krankheitskonzept zeichnet damit ein Gegenbild zu Krankheitsbegriffen in der modernen Medizin, die Krankheiten auf ein rein somatisches lokales bzw. partielles Geschehen reduzieren.

Durch die Vielzahl der Krankheitserzählungen werden Erfahrungen von Krankheit in der Bibel als typische und zur menschlichen Existenz gehörende Situationen beschrieben. Ohne die Krankheit zu verherrlichen, wird damit Krankheit als eine nicht vermeidbare Facette des Menschseins dargestellt. Ein solches Verständnis widerspricht utopistischen Zielen bestimmter Gegenwartstrends, jede Form des Leidens zu vermeiden bzw. zu verhindern. Gleichzeitig haben die biblischen Texte stets die Intention, Heilung zu erreichen. Dazu werden vielfältige Wege aufgezeigt. Diese Perspektive widerspricht einer theologischen bzw. kirchlichen Mystifizierung bzw. Überhöhung von Leiden und Krankheit.

Grundzug zahlreicher biblischer Texte ist zunächst die Objektbeschreibung des Kranken. Dieser Aspekt entspricht wiederum der Wahrnehmung von vielen Patienten. Sie fühlen sich beispielsweise als Objekt einer Therapie und haben den Eindruck, nicht in ihrer eigenen Person berücksichtigt zu werden.

Die Krankheit und Heilung eines Menschen werden in der Bibel stets Gott zugeschrieben. Das biblische Erklärungsmodell für die Entstehung von Krankheit und Heilung ist für eine moderne medizinische und naturwissenschaftliche Rationalität nicht haltbar. Die Heilung geschieht nach biblischer Darstellung aber nicht ohne die Mitwirkung des Patienten oder seiner Umgebung. Sie wird durch die Haltung und Initiative des Kranken oder seiner Begleiter ermöglicht. Die Heilung ist demnach ein Prozess, der nicht ohne den Patienten geschieht, sondern seine Mitwirkung einfordert. Dieser Ansatz bietet wichtige Ansätze für die Therapie, aber auch für die „Selbstsorge“ des Patienten.

Die biblische Heilung endet mit einer neuen Identität des Geheilten.

Die biblische Heilung hat damit den Charakter einer körperlichen und subjektiven Emanzipation des Menschen. Sie endet mit einer neuen Identität des Geheilten. Dadurch werden Krankheit und Heilung als eine positive Erfahrung bewertet. Manche Patienten bewerten eigene Krankheits- und Heilungserfahrungen in diesem Sinn. Diese Interpretation darf jedoch nicht aus theologischer Sicht generalisiert werden. Insbesondere die Psalmen artikulieren auch die Sinnlosigkeit, die Menschen in der Situation von Leid und Krankheit erfahren.

Die therapeutische Kompetenz der Theologie bzw. eine therapeutische Theologie

Ein Grundaspekt der theologischen Reflexion über Krankheit und Gesundheit ist die Frage, ob der Glaube heilen kann. Nach biblischem Verständnis ist der Glaube Voraussetzung, Bestandteil und Folge der Heilung. Letztendlich bleibt die Heilung im biblischen Kontext jedoch Gott überlassen. Durch Erfahrungen im Glauben können Menschen Heilung bzw. Heil in einem umfassenden Sinn finden. Krankheit und Gesundheit können Momente der Gottesbegegnung sein, jedoch auch Erfahrungen der existenziellen Verlassenheit, Todesangst und -konfrontation. Die therapeutische Funktion des Glaubens kann die Begegnung mit dem Gott sein, der die Grenzen des Todes überwindet und selbst an die Grenzen und Gebrochenheit der menschlichen Existenz gegangen ist.

Die Theologie hat die Aufgabe, die verschiedenen Aspekte von Krankheit und Gesundheit, die unter anderem in den biblischen Texten entfaltet werden, zu reflektieren und weiterzuentwickeln. In der theologie- und kirchengeschichtlichen Reflexion hat sie auch die tragischen Folgen von eigenen Interpretationen herauszuarbeiten. Sie ist herausgefordert, nach den Krankheitssituationen der Menschen heutzutage zu fragen, soziale und strukturelle Ursachen für Krankheit und Gesundheit zu analysieren und für gerechte soziale Bedingungen einzutreten. Die kirchlichen Dienste und Einrichtungen in der Gesundheitsversorgung sind aus theologischer Sicht zu reflektieren. Diese Aufgaben kann die Theologie nur im innertheologischen und interdisziplinären Gespräch bewältigen.

Gerade in der Corona-Pandemie sowie in ihrer Aufarbeitung sollte die Theologie ihre therapeutische Kompetenz nutzen und einbringen. Denn die Pandemie berührt viele existenzielle Fragen, die in den biblischen Krankheits- und Heilungstexten benannt sind. Die Bibel kannte Viruserkrankungen nicht, aber die Texte setzen sich mit der Frage nach Sinn, der Gottesbeziehung und der Suche nach Heilung auseinander. Sie sind kein medizinischer oder sozialer Therapieansatz, bieten aber viele Impulse für eine religiöse und theologische Auseinandersetzung mit der Pandemie und zentralen Lebensfragen und gesellschaftlichen Herausforderungen.

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