„Bleiben Sie gesund“ Über unsere Verletzlichkeit nicht nur in Zeiten von Corona

„An Einsamkeit stirbt man bloß länger als an Corona“, sagt Elke Schilling. Die 75-Jährige hat den Telefondienst „Silbernetz“ gegründet, der sich an einsame Ältere richtet –  inzwischen mit einem ganzen Team. In der Krise ist der Dienst nachgefragt wie nie zuvor. Und Elke Schilling hat sich auch vom Lockdown nicht abhalten lassen, ins Büro zu gehen. Auch wenn sie zu den Risikogruppen zählt – sie wird gebraucht.

Plötzlich ist viel von Vulnerabilität die Rede. Wer als Risikogruppe definiert wird, fühlt sich schnell so – gebrechlich, verletzlich. Die Krise hat das Bild vom Alter und das Selbstbild vieler Älterer verändert. Manche, die sich seit vielen Jahren und Jahrzehnten ehrenamtlich engagieren, überlegen jetzt, ob sie nach der Krise weitermachen. Dabei war bis vor kurzem noch von den „jungen Alten“ die Rede, die mit neuem Elan in die dritte Lebensphase gehen. 70-Jährige fühlten sich kaum weniger leistungsfähig als gesunde 55-Jährige, zeigte der Alterssurvey. Und die Hälfte der 70- bis 85-Jährigen fühlt sich trotz der einen oder anderen Krankheit funktional gesund. Nun aber, zum Rückzug in die eigene Wohnung verdammt, spürt man den eigenen Körper ganz anders. „Im Alter bekommen die Körper eine andere Bedeutung – sie werden anfälliger und schwächer“, schreibt Lisa Frohn. „Das heißt auch, dass der Ort, an dem sich der Körper befindet, und die Umstände an diesem Ort wichtiger werden“. Was das bedeutet, können in der Covid-Krise auch Jüngere nachvollziehen. Die Allgegenwart des Virus, die tödliche Bedrohung, lässt viele ihre Verletzlichkeit spüren. Fast alle sind auf den eigenen Ort, die eigene Wohnung zurückgeworfen.

Wer sich gesund fühlt, denkt nicht ans Kranksein

Der Philosoph Hans Georg Gadamer hat von Gesundheit als dem „selbstvergessenen Weggegebensein an das Leben“ gesprochen. Solange mein Körper funktioniert und mich arbeiten lässt, denke ich nicht viel darüber nach. Eine Krankheitsdiagnose, der Tod eines Angehörigen, die kleinen Anzeichen von Gebrechlichkeit beim Älterwerden ändern das. In unserer Gesellschaft, die auf Leistung und Fitness ausgerichtet ist, kann die Sorge für die eigene Gesundheit zur Arbeit am Körper werden – oder zu einer Dienstleistung, die wir von Ärzt*innen erwarten. Wenn es um Krankheit und Verletzlichkeit geht, haben wir geradezu kindliche Hoffnungen auf Hilfe und hohe Ansprüche an die professionellen Helfer. Die Hoffnung auf den Covid-Impfstoff und der Streit darum haben erkennbar religiösen Charakter – es geht um ein Heilsversprechen. Der Psychiater und katholische Theologe Manfred Lütz hat schon vor Jahren von einer neuen Gesundheitsreligion gesprochen – Gesundheit sei unhinterfragt zum höchsten Gut geworden. Das habe aber eine gefährliche Kehrseite: Krankheit werde zum Versagen, zum Systemfehler. Dahinter steht die Unfähigkeit, mit der eigenen Vergänglichkeit umzugehen. Krankheit erinnert uns daran, dass wir letztlich nicht über unser Leben verfügen.

Das Corona-Dilemma: Geben Sie sich aus der Hand – halten Sie Abstand

Mehr als drei Viertel der Deutschen fürchten an einer Krankheit am meisten den Verlust der Selbständigkeit – noch vor Schmerz und Tod. Während der Corona-Krise hat sich aber gezeigt, wie sehr wir auf andere, auf die Gemeinschaft angewiesen sind – auf Familien, Freunde, Nachbarschaft und Pflegedienste. Wir brauchen die Gewissheit, uns im Krisenfall „aus der Hand geben“ zu können, wie Hannah Arendt sagt (in: Vita activa oder Vom tätigen Leben, engl. 1958, dt. 1960) – das Vertrauen, von anderen angenommen zu sein. Die Corona-Pandemie hat nun aber zu einer einschneidenden Vertrauenskrise geführt. Mehr als die Hälfte aller Todesfälle mit und an Corona hat sich bei den Schwächsten ereignet, bei den Bewohner*innen von Pflegeeinrichtungen, obwohl nur knapp ein Prozent der Bevölkerung in dieser Wohnform lebt. „Freiheitsbeschränkende Entscheidungen wurden ohne die Einbeziehung von kontrollierenden Instanzen getroffen. Es war nicht mehr überall möglich, dass die Zuständigen für Heimaufsicht und gesetzliche Betreuer*innen/Erwachsenenvertreter*innen Besuche machen konnten“ (Thiessen u.a.) und auch die Angehörigen blieben oft „ausgesperrt“. Bei vielen, die über Wochen allein auf ihrem Zimmer bleiben mussten – ohne gemeinsame Mahlzeiten, ohne Begegnungen und Gespräche in der vertrauten Runde, ohne Besuch –, verschlechterte sich die gesundheitliche Verfassung erheblich. Demenzerkrankungen, Depressionen und Herz-Kreislauf-Erkrankungen nahmen zu. „Es geht (aber) nicht nur darum, dem Leben Jahre zu geben, sondern den Jahren Leben“, heißt es in der Altenarbeit. Es geht um Lebensqualität und Würde – auch im Sterben. Und dazu gehört mehr als ein technisch hochgerüstetes, „bepflegbares“ Intensivbett.

Rigorose Ordnungspolitik und gelähmte Kirchen

Wer krank ist, braucht Menschen. Wer sterbend ist, erst recht. Dieses Wissen ist tief verankert in der christlichen Kultur. „Ist jemand unter euch krank, der rufe zu sich die Ältesten der Gemeinde, dass sie über ihm beten und ihn salben mit Öl in dem Namen des Herrn“, heißt es im Brief des Jakobus 5,14. Während der Pandemie gerieten deshalb nicht nur Pflegeeinrichtungen in die Kritik, sondern auch die Kirchen. Christine Lieberknecht, Pastorin und ehemalige thüringische Ministerpräsidentin, der Journalist und Jurist Heribert Prantl und viele andere formulierten das Gefühl, dass die Kirche gerade die alleingelassen hätte, die sie am meisten gebraucht hätten: die Pflegebedürftigen, Kranken und Sterbenden und ihre Angehörigen. „Ordnungspolitik, die totalitär wird, darf keine Option sein für einen demokratischen Staat. Wir dürfen Sterbende nicht wieder allein lassen“, äußerten sich die Bischöfe in Niedersachsen Ende Oktober 2020 in einer ökumenischen Stellungnahme. Auch die Kirche habe sich in einer Schockstarre befunden.

Wir dürfen Sterbende nicht wieder allein lassen.

In einer viel diskutierten Rede hat Wolfgang Schäuble angesichts der Einschränkungen vieler Grundrechte davor gewarnt, dem Schutz von Leben in der Corona-Krise alles unterzuordnen. „Wenn ich höre, alles andere habe vor dem Schutz von Leben zurückzutreten, dann muss ich sagen: Das ist in dieser Absolutheit nicht richtig.“ Wenn es überhaupt einen absoluten Wert im Grundgesetz gebe, dann sei das die Würde des Menschen. Die ist unantastbar. Aber sie schließt nicht aus, dass wir sterben müssen. Wolfgang Schäuble gehört zu den Menschen, die andere ihre Behinderung einfach vergessen lassen. Wir können heil werden, auch wenn wir nicht unverletzt sind. Die Erfahrungen von Verletzlichkeit und Endlichkeit können uns sogar bewusster leben lassen. Für Friedrich Nietzsche waren Krankheiten „Angelhaken der Erkenntnis“; wir sollten uns nicht zwanghaft vor Risiken schützen, meinte er, sondern den Schmerz als Teil einer intensiveren Vitalität verstehen. Und der Dichter André Gide war überzeugt, „dass die Krankheiten Schlüssel sind, die uns gewisse Tore öffnen.“ Die intensive Zeit mit meiner demenzerkrankten Mutter in den Monaten von Hinfälligkeit und Sterben hat meine Perspektive auf das eigene Leben verändert, sie hat mir aber auch einen neuen Blick auf die Angehörigen geschenkt. (Sehr illustrativ hierzu: Stella Braam: Ich habe Alzheimer. Wie die Krankheit sich anfühlt. München 2008.)

Die Endlichkeit des Lebens, das Vertrauen in die Gemeinschaft und die Kraft des Glaubens

Ein Sterbebett lädt auch die Begleiter*innen zu intensivem Leben ein – vielleicht auch zur Suche nach dem Grund des Lebens. Im gekreuzigten Jesus können wir die Zerbrechlichkeit unserer Leiber wiedererkennen – am Auferstandenen sehen wir, dass dieser Leib gleichwohl Tempel des Heiligen Geistes ist, wie der Apostel Paulus schreibt.

„Bleiben Sie gesund“ – der Wunsch in der Corona-Krise greift deshalb zu kurz: Gesundheit geht über die Verantwortung der Einzelnen hinaus. Wenn jemand nicht mehr in der Lage ist, für sich selbst zu sorgen, müssen andere fürsorglich einspringen – sie müssen es aber so tun, dass die eigenen Kräfte der Kranken erhalten und gestärkt werden. Begegnungen, Gespräche – Lebensdeutung – sind notwendig, um die Lebenskräfte wieder zu stärken. Während unser Gesundheitssystem zunehmend ökonomisch-technisch bestimmt wird, geht es um ein gutes, fürsorgliches Miteinander, und das Vertrauen, dass wir geschützt und geborgen sind, auch wenn wir sterben.

Wir können heil werden, auch wenn wir nicht unverletzt sind.

Die Verantwortung für die eigene Gesundheit lässt sich aber auch nicht an die Gemeinschaft, an Staat und Institutionen „delegieren”. Wir müssen einander und uns selbst zumuten, unser Leben mit unseren begrenzten Ressourcen zu gestalten und so auch auf unsere Endlichkeit zu antworten. (Ausführlich darüber z.B. M. Foucault: Die Sorge um sich, 1986.) Wir müssen uns am Ende anvertrauen können – einander und vor allem Gott. Denn „wenn auch unser äußerer Mensch verfällt, so wird doch der innere von Tag zu Tag erneuert“, schreibt Paulus und schaut damit über Zeit und Raum hinaus. Im Hier und Jetzt gilt aber auch das Motto, das mir besser gefällt: „Schütze deinen Nächsten wie dich selbst“.

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Cornelia Coenen-Marx: Die Neuentdeckung der Gemeinschaft. Chancen und Herausforderungen für Kirche, Quartier und Pflege. Göttingen, Vandenhoeck & Ruprecht 4/2021.

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