Es ist der Krieg Kriegskinder- und Kriegsenkel-Bücher stellen die Gottesfrage

Was haben die beiden Weltkriege, das Jahr 2014 und die Theologie miteinander zu tun? Viel. Drei Buchtitel legen eine Spur.

  • Gertrud Ennulat: Kriegskinder. Wie die Wunden der Vergangenheit heilen, Verlag Klett-Cotta, Stuttgart ²2008, 207 Seiten
  • Anne-Ev Ustorf: Wir Kinder der Kriegskinder. Die Generation im Schatten des Zweiten Weltkriegs, Verlag Herder, Freiburg 52010, 189 Seiten
  • Bettina Alberti: Seelische Trümmer. Geboren in den 50er- und 60er-Jahren. Die Nachkriegsgeneration im Schatten des Kriegstraumas. Verlag Kösel, 62010, 207 Seiten

„Als die Kellertür aufgeht und wir ins Freie treten, stolpern wir nach wenigen Metern über die durch Phosphor verschrumpelten Nachbarn. – Nichts Neues. Vorgestern lagen fast an derselben Stelle die beiden besten Klassenfreunde. Die Begegnung mit dem Tod, ja das war für uns damals Alltag.“

So oder so ähnlich klingen Kriegserzählungen. Ungeschönt und radikal: Mit dem Erinnerungsjahr 2014 an den Ersten und den Zweiten Weltkrieg gelangen grausame Details an die Öffentlichkeit. War es wirklich so? Ja, diese Geschichte gibt es wirklich. Mehr als hunderttausendfach. Es ist die Geschichte der Kriegskinder.

Weite Wege der Erinnerung – Trümmerarbeit

Kriegskinder. Was haben sie erlebt? Erst allmählich lüftet sich der Schleier. Denn über Jahre und Jahrzehnte war die Erinnerung verpönt. Weite Wege sind zurückzulegen. Trümmerwege. In den ersten Jahren nach dem Krieg ging es um das Wegräumen der Trümmer der zerstörten Häuser, wir heute „sind mit dem Aufräumen der seelischen Trümmer beschäftigt“, sagt eine Frau. Das Zitat findet sich bei Bettina Alberti, deren Buch es zugleich den Titel gab.

Beginnen wir also im Zweiten Weltkrieg. In den letzten Kriegsjahren bekommt die deutsche Bevölkerung die ganze Härte des totalen Kriegs zu spüren. Bomben auf die Städte. Flucht und Vertreibung aus den Ostgebieten. Auch die Kinder leiden. Ein Entrinnen gibt es nicht.

Das Kriegskind meldet sich

Als eine der ersten hat Sabine Bode auf diese Kriegsschicksale aufmerksam gemacht. Angestoßen wird die Debatte 2004 durch ihr Buch Die vergessene Generation – die Kriegskinder brechen ihr Schweigen. Im Jahr 2009 folgt ihr Buch über die Kriegsenkeldie Erben der vergessenen Generation.

Wie sehr die Kriegsgeschehnisse die gesamte Bundesrepublik, nicht zuletzt in ihren führenden Persönlichkeiten, geprägt haben, lässt zudem der Interviewband zur German Angst von 2006 erahnen. Hier stellen sich Personen des öffentlichen Lebens wie Hans Koschnick, Hilmar Kopper, Peer Steinbrück, Norbert Blüm oder Jürgen Schmude dem nachfragenden Gespräch.

Ein Ergebnis der Arbeiten Sabine Bodes: Von den obersten Repräsentanten (vgl. die von Helmut Kohl geteilte Leitparole „Nie wieder Krieg“) bis zu den einfachen Familien – bei allen zieht sich die Spur der Kriegsschrecken durch den gesamten Lebenslauf. Es ist unschwer zu erkennen, dass der erlebte Krieg enorme Auswirkungen auf die Einstellung zu politischen und gesellschaftlichen Fragen hat, bis heute. (Das gilt auch und erst recht für jede Pazifismus-Debatte.)

Eine Kollektiv-Fahndung beginnt

Was auf die Arbeiten Sabine Bodes folgt, ist eine erste Publikationsflut. Es werden Kongresse abgehalten, Dokumentationen und Filme gedreht. Das Medienecho ist nicht klein. In vielen Städten entstehen seitdem Kriegskinder- und Kriegsenkelgruppen, in denen sich Zeitgenossen austauschen. Auch die Frauentagung der Evang. Akademikerschaft hat sich 2013 dem Thema „Kindheit im 2. Weltkrieg und ihre Folgen“ zugewandt.

Aus der Fülle der Publikationen werden im Folgenden drei Bücher von Gertrud Ennulat, Anne-Ev Ustorf und Bettina Alberti vorgestellt. Dabei zeigt sich, wie weit die „Kollektiv-Fahndung“ der Deutschen gediehen ist – und inwieweit noch nicht. In einem Schlussabschnitt wird schließlich gefragt, was dies mit der Theologie im 20. Jahrhundert, dem Ersten Weltkrieg und ganz nebenbei mit unserer Situation im Jahr 2014 zu tun hat.

Die Last des Krieges kommt ans Licht

Schon auf den ersten Seiten bringt Gertrud Ennulat in ihrem Buch Kriegskinder eine klare Kurzbeschreibung dessen, was die besondere Situation der Kriegskindheit ausmacht. Ob Flucht, Vertreibung oder Bombardierung – Ausgangspunkt ist ein kaum in Worte fassbares Übermaß an Schrecken: „Todesängste, Verlassenheitsängste, die Angst, vernichtet zu werden, das grässliche Gefühl totaler Ohnmacht und vollständigen Kontrollverlustes“ (S. 15). Dies alles trifft die zwischen 1930 und 1945 Geborenen zu einem Zeitpunkt, in der die Entwicklung der eigenen Persönlichkeit erst beginnt.

Was schon Erwachsene in die Knie zwingt, was löst das erst bei Kindern aus? Für manche währt die dauernde Bedrohung vier Jahre, fünf Jahre oder länger. Selbst nach dem Krieg gibt es kaum Luft, dem angestauten Innern einen Raum zu geben. Nach dem Krieg stand vielmehr an: Die volle Konfrontation mit der Shoa, etwa über Dokumentarfilme. „Schulen mussten geschlossen daran teilnehmen, um zu sehen, was ein KZ ist und welche Gräuel dort Tag für Tag verübt worden waren“ (S. 23) .

Schrecken, verzehrte Wut und Scham

So hatten die Kriegskinder mit einer Schuld zu leben, für die sie Schuld nicht haben konnten. Dazu trat die Scham. Und gleichzeitig der Zusammenbruch all dessen, worauf sich die Heranwachsenden irgendwie hätten beziehen können: die großsprecherisch verkündete Vision eines tausendjährigen Reichs, die ein junges Gemüt sicher beeindruckt haben konnte, die elterliche Autorität, die leiblich-materielle Basis.

Soweit der Ton der nüchtern beschreibenden Analyse, die bei Ennulat jedoch nicht die Hauptrolle einnimmt. Ein Vorzug ihrer Darstellung liegt darin, dass sie die detaillierte Gliederung verbindet mit einer für Nuancen aufmerksamen Sprache. Ennulat gehört zur Generation der Kriegskinder. In ihrem Buch spürt sie dem nach, wie sich das Kriegskind in ihr meldet und wie sie es ins Heute integriert. Trotz des behutsamen Schreibstils geht auch dem Leser das Geschilderte gehörig unter die Haut.

Ein Trauma, das bis heute wirkt

Vielleicht etwas einfacher zum Einstieg ist eine Lektüre von Anne-Ev Ustorfs Wir Kinder der Kriegskinder. Das Buch besteht in seinem Hauptteil aus zusammengefassten Lebensberichten von Angehörigen der „dritten Generation“, die zwischen 1955 und 1975 geboren wurden. Einfacher zu lesen deshalb, weil hier die „sekundären“ Folgen in den Blick kommen. Einfacher, weil so die ganze Kriegsproblematik mehr aus der Distanz auftaucht. Die Kinder der Kriegskinder reflektieren darauf, wie die vererbten Kriegserfahrungen ihr eigenes Leben beeinflusst haben – und heute noch beeinflussen.

Mit reichlich Energie kehren dabei sämtliche Ursprungskonflikte aus dem Krieg aufs Neue wieder. Verlorene Heimat – sich nirgendwo zuhause fühlen, kein Platz für Gefühle, Schuld und Täterschaft lauten die Stichworte. Auch diese Generation kämpft noch mit den einst geschlagenen Wunden. „Transgenerationale Weitergabe von Traumata“ heißt das im Fachjargon.

Die Weitergabe von Gewalterfahrungen

Laut einer Schätzung des britischen Historikers Anthony Beevor unter Einsicht von Krankenhausakten und Archiven wurden 1,4 Millionen Mädchen und Frauen während Flucht und Vertreibung vergewaltigt. In Berlin waren es 1945 allein in den Monaten April bis Juni 100.000 – „über 40 Prozent der Betroffenen […] mehrfach“ (S. 107). Auch Jungen waren von den Übergriffen betroffen. „Historiker gehen heute von insgesamt zwei Millionen deutschen Vergewaltigungsopfern aus“ (S.108), Dunkelziffer unbekannt.

Auch dies musste sich auf die Folgejahre niederschlagen. Zumal die zurückkehrenden Soldaten ihre eigenen Geschichten mit sexueller Gewalt mitbrachten. „Die Forschung geht heute von ungefähr zehn Millionen Vergewaltigungen durch deutsche Männer allein auf russischem Boden aus“ (S. 109). Es ist damit zu rechnen, dass auch diese Tatsachen sich auf die gesellschaftliche Entwicklung in den 50er, 60er und 70er Jahren ausgewirkt haben.

Kriegskinder und Kriegsenkel treffen sich

Die schockierende Wahrheit über die Geschichte der Kriegskinder – bei Anne-Ev Ustorf kommt sie also in den Berichten der dritten Generation zu Wort. Auch Ustorf schreibt als 1974 Geborene aus eigener Betroffenheit. Wie bei Gertrud Ennulat tritt eindringlich vor Augen, wie intensiv die „unterschwellige Fortdauer des Krieges“ ist. An der deutschen Bevölkerung machen allein die alten Kriegskinder heute circa 15 Millionen aus.

Zur Gefühlskälte erzogen

Nur noch kurz angesprochen zu werden braucht nun Bettina Alberti (Seelische Trümmer), die beide vorgenannten Bücher insofern bündelt und vereint, als hier ausführlich sowohl die Perspektive der Generation der 50er/60er Jahre als auch die Situation der Kriegskinder zur Sprache kommt.

Gut die Hälfte widmet Alberti dem Thema der Erziehung. Die Kriegskinder waren dem rabiaten NS-Erziehungsideal ausgeliefert und trugen viel davon anschließend den eigenen Kindern auf: Angst als Kontrollmittel, emotionslos Funktionieren als Ziel. Auch das ein Weg, über den sich die bedrückende Enge des Krieges fortpflanzte.

Eingekapseltes Leiden und Verbitterung

Eine Auseinandersetzung mit dem Erlittenen blieb den Kriegskindern nachhaltig verwehrt. Der materielle Kampf ums Überleben, die politische Nachkriegssituation verboten das. So überdauerte das Erfahrene „eingekapselt“ unter der Oberfläche die Jahrzehnte.

Bislang noch gar nicht erwähnt ist die Problematik der zurückkehrenden Soldatenväter in zerrissene Familien, Mutter- oder Vaterlosigkeit, Evakuierung und Kinderlandverschickung, Mangelernährung während des Krieges… Zu jedem Unglück scheint immer noch ein weiteres hinzuzukommen.

Auch direkt nach Kriegsende kamen für die meisten harte Mangel-, Hungerjahre. „Aber es sollte nicht vergessen werden, dass es auch Gutes gab. Ab und zu war es ‚nur‘ ein Cousin und nicht das kleine Geschwisterchen, das den folgenden Diphterie-Wintern zum Opfer fiel“, mag sich manches Kriegskind gesagt haben. Wie sollte keine grundsätzliche Verbitterung eintreten bei dieser Generation?

Die Unmöglichkeit zu trauern

Über die Schrecknisse wurde auch zwischen den Generationen kaum gesprochen. Etwas wie Trauerverarbeitung fand nicht statt. Man gehörte zur Verliererseite und konnte, durfte, wollte auch nicht trauern. Alexander und Margarete Mitscherlich haben 1967 dieses Phänomen mit „Unfähigkeit zu trauern“ auf einen eingängigen Begriff gebracht. Wer weiß, wie 7- oder 12-Jährige heutzutage für einen Fußballverein schwärmen oder anderen Vorbildern anhängen, mag erahnen, was es bedeutet, wenn von einem Tag auf den anderen zu akzeptieren ist: Das sind Verbrecher.

„Noch heute tobt ein Krieg im Innern“ sagen Angehörige der Jahrgänge 1933–1945. „Ich trage einen Schmerz, der meiner ist und doch nicht meiner“, sagt eine 1959 Geborene (S. 22). Frieden mit der familiären Vergangenheit, Frieden mit sich selbst, formuliert eines der Schlusskapitel in Albertis Buch als Wunsch. Es liefert einige Hinweise, wie das gelingen kann.

Die Kriegskinder des Ersten Weltkriegs

Dass die schreckliche Dynamik des Zweiten Weltkriegs vieles an Wucht aus dem Ersten bezieht, wurde schon häufig untersucht. Ustorf weist beinahe beiläufig darauf hin, dass es auch im Ersten Weltkrieg Kriegskinder gab (S. 14). Vor allem gab es unzählige Kinder, deren Väter nicht zurückkamen. Oder falls sie kamen, oft abgründig verstört.

Wenn immer wieder die Frage gestellt wird, wie es zu den Abscheulichkeiten des Dritten Reichs kommen konnte, dürfte auch dieser Umstand in den Blick zu nehmen sein. Von der Kriegskinderforschung, die noch ganz am Anfang steht, sind noch viele Ergebnisse zu erwarten.

Und die Theologie?

Die Buchbesprechung könnte und sollte vielleicht an dieser Stelle abbrechen. Legten da nicht die Bücher so aufschlussreiche Spuren in die Theologie. Ob auch für die Theologen-Generationen der Satz gilt, dass der Erste und der Zweite Weltkrieg das Gottesbild bis heute nachwirkend vergiftet haben? Für viele Nicht-Theologen scheint es zu stimmen.

Die Theologie der Krise nach dem Ersten Weltkrieg

Nach 1918 lag auch in der Theologie kein Stein mehr auf dem anderen. Für die Anfänge der sog. „dialektischen Theologie“ ist die Auseinandersetzung mit dem Krieg eines der tragenden Momente: Können wir einfach so weiter wie bisher auf der Kanzel reden? Die Antwort lautete: „Nein“.

Zur theologischen Neuorientierung führte der Krieg von 1914–1918 etwa bei Karl Barth: „Der Ausbruch des 1. Weltkriegs bedeutete für mich konkret ein […] Irrewerden […] an der Lehre meiner sämtlichen theologischen Meister in Deutschland, die mir durch das, was ich als ihr Versagen gegenüber der Kriegsideologie empfand, rettungslos kompromittiert erschien“ (vgl. das aspekte Heft 3/2014 mit dem Themen-Schwerpunkt Barth).

Theologie nach der Katastrophe

Wenn der Erste Weltkrieg zu solchen Irritationen führte, ist es ein Wunder, dass nach dem Zweiten Weltkrieg das Verstummen der Theologie noch weiter fortschreitet? Die Theologie der Krise nach 1918 räsoniert noch darüber, dass man Gottes Wort kaum sagen könne. Die Theologie nach der Katastrophe von 1933–1945 wird in vielen Bereichen zu einer Gott-ist-tot-Theologie. Nicht mehr die angemessene Rede von Gott, sondern Gott selbst wird fraglich.

So behauptet auch das Schlussdokument einer internationalen Kirchenkonferenz in Helsinki 1963: „Der Mensch von heute fragt radikaler, elementarer, er fragt nach Gott schlechthin: […] unter dem Eindruck von Gottes Abwesenheit […], ob Gott wirklich ist.“ Auch Martin Bubers Schlagwort von der allgemeinen Gottesfinsternis weist in diese Richtung.

„Ist ein Gott? Wo bist du Gott?“

Wem die Schrecknisse der Kriegsgeneration vor Augen sind, den wird das weniger verwundern. Eine Generation, die kaum Gutes erfahren hat, wie sollte sie leichthin vom Geschenk des Lebens und von dessen Stifter sprechen? „Die Eltern haben saure Trauben gegessen, und den Kindern sind die Zähne davon stumpf geworden.“ Mehr als einmal begegnet dieses Bibelzitat in der Kriegskinder-Literatur.

Schon in der Reformationszeit wurden Mutmaßungen darüber angestellt, dass „Gut“ und „Gott“ dieselbe sprachliche Herkunft haben (wenngleich es etymologisch eher unwahrscheinlich ist). Es gilt der alte Kernsatz: Erst wenn das Gute – theologisch gesprochen: das Evangelium erkennbar ist, kann die Rede von Gott und Gottes Existenz in rechter Weise Wurzeln fassen.

Fazit

Die Bücher zur Kriegskinder-Thematik scheinen eine Spur zu legen: Was die Koordinaten auch für die Theologie zu Anfang des 21. Jahrhunderts bestimmt? Es ist der Krieg. Noch immer.

 

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