„Mein Umherirren hast du gezählt: sammle meine Tränen in deinen Krug; ohne Zweifel, du hast sie gezählt.“ (Psalm 56,9)
Rotz und Wasser heulen, sich die Augen aus dem Gesicht weinen, heulen wie ein Schlosshund, flennen, losplärren: Für die großen Emotionen, die sich im Weinen ausdrücken, finden sich in unserer Sprache selten schöne Worte. Weinen ist mit Scham verbunden, und oft genug auch mit Beschämung. Weinen wird in unserer westlichen Kultur nicht selten als „unmännlich“ gebrandmarkt und gilt als Zeichen emotionaler Instabilität und mangelnder Selbstbeherrschung.
Zwar wird zunehmend auch auf TikTok und Co öffentlich geweint – immerhin leben wir, so der Soziologe Andreas Reckwitz, in einer „radikal emotionalisierten“ Kultur –, doch Tränen werden eher im Privaten vergossen, wo niemand außer einem vertrauten Menschen sie zu sehen bekommt. Weinen ist ein intimer Moment, in dem innere emotionale Zustände plötzlich sehr körperlich nach außen auch für andere sichtbar werden. Ein Augenblick höchster Verletzlichkeit für alle Beteiligten.
Und an einen solchen Augenblick erinnert mich auch das Bild. Es zeigt den Ausschnitt eines Frauenantlitzes aus nächster Nähe; die Haut blass, die auffällig langen, geschwungenen Wimpern deutlich betont und in Kontrast zur blassen Haut, der Blick suchend und traurig in die Ferne gerichtet. Auf der Wange glänzt eine fließende Träne. Kunstvoll fängt sie das umgebende Licht ein und bannt den Schmerz, den das Bild ausdrückt, in einen Moment ewigen Stillhaltens. Das Weinen wird hier ästhetisiert und betont, die fließende Träne zum eigentlichen Motiv und Kunstwerk erhoben.
Auch die Bibel hat kein Problem mit Tränen, wie es scheint, und schon gar nicht mit weinenden Männern. In Psalm 56 soll es David selbst sein, der in einer Situation von Verfolgung, Gewalt und Todesangst Tränen der Verzweiflung vergießt. Tränen, die er vor G-tt nicht verbirgt, sondern die er von G-tt ganz ausdrücklich gesehen und anerkannt haben will: „Sammle meine Tränen in deinen Krug“ fordert David G-tt auf. Das hebräische Wort dafür ist נֹאד: ein Schlauch aus Tierhaut, in dem Trinkwasser sicher über weite Strecken transportiert werden kann. Keine Tränen aus (Blatt-)gold, aber doch unendlich wertvoll für den, der sie vergießt. Etwas, das in der gemeinsamen Beziehung zwischen David und G-tt unverzichtbar ist, und das David bei G-tt sicher aufgehoben und bewahrt weiß. „Ohne Zweifel, Du hast sie gezählt.“
David kann in seinem intensiven Gespräch mit G-tt seine Tränen hinhalten und mitgeben. Er weiß seine Erfahrung von Gewalt, von Verlassenheit und Perspektivlosigkeit bei G-tt in sicheren Händen. In seinen Tränen wird bei David etwas lebendig, gerät in Fluss und in Kommunikation mit G-tt. Seine Tränen werden gezählt, sein Schmerz erfährt Anerkennung – von G-tt bei der gemeinsamen Lebensreise sicher erinnert und gehütet.