Mitreden statt abtauchen Warum die "aspekte"-Redaktion immer noch Social Media nutzt

Hatespeech, nicht abreißende Datenskandale, undemokratische Wahlbeeinflussung, unkontrollierte Machtkonzentration – die Vorwürfe gegenüber Social Media Plattformen wie Facebook sind massiv. Sollte man sie deshalb boykottieren?

Zehn Argumente, warum man seine Social Media Account sofort löschen sollte, hat der amerikanische Internet-Pionier Jaron Lanier im vergangenen Jahr in einem aufrüttelnden Essay zusammengestellt: Facebook & Co. machen abhängig und unfrei, sie manipulieren unser Verhalten, missbrauchen unsere Daten und verschaffen einigen wenigen Menschen und Konzernen eine unkontrollierte, undemokratisch Machtfülle, so lauten einige seiner Thesen (Zehn Gründe, warum du deine Social Media Accounts sofort löschen musst. Hamburg, 2018, 208 S.).

Bye, bye, Facebook

Wiederholte Datenskandale und die Instrumentalisierung Sozialer Netzwerke für politische Propaganda von rechts sowie aus dem Ausland haben das Misstrauen und die Kritik gegenüber Social Media seither verstärkt. Erst kürzlich hat sich der Apple-Mitbegründer Steve Wozniak dem Aufruf von Jaron Lanier zur Löschung von Facebook-Accounts angeschlossen. Und tatsächlich liest man in letzter Zeit immer wieder davon, dass nicht nur einzelne Personen, sondern auch Institutionen und Organisationen Social Media-Accounts bewusst aufgegeben haben – neben Angela Merkel und dem GRÜNEN-Vorsitzendem Robert Habeck z.B auch die Sächsische Staatskanzlei als bundesweit erste Regierungseinrichtung oder die Gesellschaft für Informatik, der größte Zusammenschluss von Informatikern im deutschsprachigen Raum.

Boykott oder Beteiligung?

Ob die Facebook-Account-Löschung – oder gar ein kompletter Social Media-Boykott – die richtige Reaktion auf Datenskandale und die skizzierten Risiken sind, wird seither viel diskutiert. Tobias Dienlin, Medienpsychologe an der Universität Hohenheim, findet den kompletten Rückzug gerade bei Politikerinnen und Politikern zu hart: „„Das ist schade, weil durch Social Media können wir viel einfacher mit Politikern und deren Team kommunizieren,“ kommentierte er Robert Habecks Entscheidung im Online-Magazin jetzt der Süddeutschen Zeitung (www.jetzt.de/digital/warum-politiker-sich-von-facebook-abmelden, 1.5.2019).

Gleichzeitig dienen Social Media längst nicht mehr nur der persönlichen Kommunikation, sondern haben sich als eine Instanz im öffentlichen Diskurs etabliert. Der Tübinger Medienwissenschaftler Bernhard Pörksen bringt diesen Wandel des einst passiven Konsumenten oder Rezipienten der Massenkommunikation zum aktiven Nutzer als Bürger einer demokratischen Gesellschaft auf den Punkt: „Die fünfte Gewalt besteht aus den vernetzten Vielen des digitalen Zeitalters, die längst zu einer publizistischen Macht geworden sind.“ Zwar hat der Medienwissenschaftler Thomas Friemel gezeigt, dass in allen Internet-Plattformen Kommentatoren politisch eher rechts stehen und dabei oft fremdenfeindliche und rassistische Einstellungen zeigen. Doch gerade deshalb erscheint es als problematisch, wenn nun ausgerechnet der demokratisch, rechtsstaatlich und weltoffen eingestellte Nutzerkreis den Social Media den Rücken kehrt und das Feld damit dem rechten Klientel überlässt.

Alte und neue Medien des öffentlichen Diskurses

Parallel zur wachsenden Bedeutung der neuen „fünften Gewalt“ haben herkömmliche Akteure des öffentlichen Diskurses an Einfluss verloren. Zur vielzitierten Politikverdrossenheit ist eine Medienverdrossenheit hinzugekommen, die nicht zuletzt den öffentlich-rechtlichen Rundfunk und andere Qualitätsmedien mit dem Vorwurf der „Lügenpresse“ und des „Mainstream“-Journalismus konfrontiert. Unverkennbar leidet der etablierte Journalismus unter einem Glaubwürdigkeitsverlust. Die Beziehungskrise zu seinem Publikum in den neuen Formen der Öffentlichkeit, in den Sozialen Medien, schlägt sich dabei, so Pörksen, in „Entlarvungsarbeit bis hin zur brutalen Attacke“ der fünften Gewalt nieder.

Gleichwohl dominiert in den Redaktionen die Meinung, die Aktivitäten des Publikums (Leser, Zuschauer, Hörer) in den sozialen Netzwerken nicht übergehen zu können. In ihnen wird „sichtbar“, dass die Menschen über das sprechen, was die Medien ihnen vorsetzen, urteilt der Medienforscher Jan-Hinrik Schmidt. Das läuft darauf hinaus, dass Journalisten zusätzlich zum eigenen Angebot angeschlossene Diskurse anbieten, ein Prozess, der positiv als „Dialogisierung“ beschrieben wird. „Die Einbahnstraße hat Gegenverkehr“, fasst der Medienwissenschaftler Christoph Neuberger das historisch Neue zusammen. (Zitate aus: Fritz Wolf: „Wir sind das Publikum!“ Autoritätsverlust der Medien und Zwang zum Dialog. Ffm., 2015, www.otto-brenner-stiftung.de/wissenschaftsportal/publikationen).

Weit darüber hinausgehend, fast einem Kulturpessimismus des Digitalen das Wort redend, sieht der Psychologe Stefan Grünewald die neue Herausforderung (und zugleich das Grenzwertige) in einem „digitalen AppSolutismus“. Darunter versteht er die quasi religiöse Verheißung einer unbeschränkten Verfügbarkeit über Dinge und Menschen. Apps aller Art und soziale Kontaktforen ermöglichten, ohne sich bewegen zu müssen, überall präsent zu sein – und sich selbst bereitwilligst transparent zu machen. Aber immer wieder schlage diese „alltägliche Zeigelust“ und Verbindungssehnsucht schnell in Enttäuschung um, wenn die erhoffte zustimmende Resonanz ausbliebe oder die Menschen feststellten, dass ihnen ihre analoge Alltagswelt in beruflichen und privaten Kontexten schnellen Erfolg versagte. Die Folge wäre eine „Affektmasturbation“:  Was nicht leicht oder gleich ins eigene eingefahrene Denken, Handeln und Empfinden passe, werde rüde zurückgewiesen, wie die „oft wütenden und und unflätigen Leserkommentare in den digitalen Foren von Wochenzeitschriften oder Tageszeitungen“ offenbarten (Stefan Grünewald: Wie tickt Deutschland? Psychologie einer aufgewühlten Gesellschaft. Köln 2019, S. 151).

Kritische und risikobewusste Nutzung statt Ausstieg

Auch die evangelischen aspekte unterhalten eine Präsenz auf Facebook, Twitter und Instagram, und wir haben die Aktivität auf diesen Kanälen in der jüngeren Vergangenheit sogar intensiviert. Beiträge, die in den aspekten erscheinen, werden dort verlinkt und in laufende Diskussionen auf den Plattformen eingebracht. Die Erfahrung hat gezeigt, dass es auf diesem Wege gelingt, eine Zielgruppe anzusprechen, die wir mit der gedruckten Ausgabe unserer Zeitschrift nicht erreichen, um mit dieser Zielgruppe über die in den aspekten behandelten Themen und Positionen ins Gespräch zu kommen. Das belegen die steigenden Follower- und Interaktionszahlen v.a. auf Twitter (ca. 1.100 Follower) und Instagram (186 Abonnenten), aber auch die Besuche unserer kostenlosen Online-Ausgabe www.evangelische-aspekte.de über Facebook.

Die Entwicklung dieses Angebots ging mit intensiven Diskussionen in der Redaktion einher, bei denen die Einschätzungen durchaus weit auseinander lagen. Bei aller sichtbar gewordenen Ambivalenz erschien es uns im Ergebnis aber keine Lösung, uns Social Media einfach zu verweigern. Denn mit der aktiven Teilhabe kritischer Bürgerinnen und Bürger an der medialen Öffentlichkeit steht und fällt der Prozess der öffentlichen Meinungsbildung und damit ein Kernbestandteil der Demokratie. Allerdings folgen wir bei der Nutzung von Social Media folgenden Regeln und Einschränkungen, um negative Effekte möglichst zu verringern:

  • Für Social Media werden keine originären Inhalte bereitgestellt, sondern nur Verweise auf anderweitig bereits online veröffentlichte Inhalte und Kommunikationsbeiträge in deren Kontext. Die Hoheit über die eigentlichen Inhalte verbleibt damit außerhalb der Social Media.
  • Persönliche Daten werden über Social Media nur soweit unbedingt nötig und nur mit Zustimmung der betroffenen Personen geteilt.
  • Die Redaktion stellt Inhalte auf Social Media nur in öffentlichen Bereichen ein. Sie nutzt keine geschlossenen Gruppen, sodass Interessenten nicht gezwungen werden, einen eigenen Account bei Sozialen Netzwerken anzulegen.

Wir sind gespannt, wie unsere Leserschaft dieses Thema einschätzt. Schreiben Sie uns gerne an .

Für die Redaktion: Hermann Preßler und Bertram Salzmann

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