Nächstenliebe ohne Grenzen? Wie weit muss unsere Hilfsbereitschaft gehen?

Der Krieg in der Ukraine eskaliert Notlagen für unzählige Menschen weltweit. Die auch in Deutschland spürbare Inflation betrifft andere Teile der Welt noch stärker und vergrößert die Zahl der hungernden Menschen. Doch christliche Nächstenliebe kann an nationalen Grenzen nicht halt machen.

Organisierte Nächstenliebe

Nächstenliebe als konkrete und praktische Hilfe ist in der Evangelischen Kirche organisatorisch in großem Stil insbesondere bei Brot für die Welt und der Diakonie Katastrophenhilfe verortet. Die Aufgaben der Hilfskräfte im In- und Ausland waren von Anfang an vielfältig; jetzt, so scheint es, nehmen die Herausforderungen an Tempo und Intensität zu. Ob Hochwasser im Ahrtal, der Angriffskrieg Russlands gegen die Ukraine, die tägliche Aufnahme von Geflüchteten in diesem Land und in Europa, das Erdbeben in der Türkei und in Syrien – viele aktuelle Krisen erfordern groß angelegte Hilfsprogramme. Zugleich kämpfen vor allem die ärmeren Länder des Globalen Südens weiterhin mit den Folgen der Corona-Pandemie, die Ungleichheit und Armut auf allen Kontinenten vergrößert hat. Auch hier ist die Unterstützung durch die kirchlichen Hilfswerke weiterhin gefragt.

Die Nächstenliebe geht aber keineswegs zurück: Trotz der eigenen – teils großen – Betroffenheit der Menschen in Deutschland und trotz der existenziellen Unsicherheit, die viele Bürgerinnen und Bürger (gerade im Hinblick auf die Preissteigerungen bei Lebensmitteln und Energie) verspüren, konnten die beiden Hilfswerke der evangelischen Kirche allein sogar erhöhtes Spendenaufkommen verzeichnen. Bei den Unterstützerinnen und Unterstützern von Brot für die Welt und der Diakonie Katastrophenhilfe ließen sich im vergangenen Jahr keine Ermüdungen feststellen.

Mehr als Silber und Gold

Die biblisch als Gottesauftrag verstandene Nächstenliebe meint mehr als Geld, das nur in eine Richtung fließt. Der Pädagoge und Soziologe Tobias Künkler betrachtet Hilfe aus anerkennungstheoretischer Perspektive: Jede Hilfe vermittelt bewusst oder unbewusst ein Bild von denen, die diese Hilfe empfangen. „So kann Hilfe als eine fremde Bemächtigung erlebt werden, die den Hilfeempfänger in einen Objektstatus versetzt und so das Autonomiebedürfnis von Personen verletzt.“ (Tobias Künkler: „Wenn Hilfe verletzt…“- Anerkennungstheoretische Überlegungen zu ungewollten Effekten helfenden Handelns, in: T. Kröck / G. Schneider (Hg.): Partnerschaft. Gerechtigkeit. Transformation. Christliche Perspektiven der Entwicklungszusammenarbeit, Marburg 2015, 220-229, 223). Hilfe steht in der Gefahr, ihr Gegenüber zu entmündigen und zu gut zu wissen, was jetzt geboten ist. Wo Empfangende keine Chance haben, etwas zurück- oder weiterzugeben und damit eine Form von konstruktiver Selbstwirksamkeit zu entfalten, besteht die Gefahr, die Selbstachtung des Gegenübers zu beschädigen. Zugespitzt gesagt: Hilfe dieser Art beschämt und entwürdigt, und sie festigt ein Macht- und Abhängigkeitsgefälle. Unterstützung muss Eigenständigkeit fördern und die Würde, die Selbstachtung, die Teilhabe und die Handlungsfähigkeit derer, die sie erhalten, wirksam stärken.

Dieser Gedanke leuchtet schon durch biblische Texte hindurch. In der Apostelgeschichte (Apg 3, 1-11) sitzt ein gelähmter Mann am so genannten „Schönen Tor“. Er hat sich daran gewöhnt, um Almosen betteln zu müssen. Mehr als ein paar mitleidige Münzen erwartet er gar nicht. Petrus und Johannes kommen vorbei. Sie blicken ihn an und fordern auch ihn auf, sie anzuschauen. Sie nehmen ihn als Subjekt, als Gegenüber, als Mensch wahr – nicht nur seine auf die Behinderung reduzierte Identität, die zu permanenter Hilfsbedürftigkeit und demütigender Abhängigkeit geführt hat. Er erwartet ein paar Münzen – was denn sonst? – aber genau das, was seine Rolle als Bettler weiter zementieren würde, bekommt er nicht. Petrus sagt: „Silber und Gold habe ich nicht, aber was ich habe, das gebe ich dir…“ (Apg 3,6).

Die Verengung von Hilfe auf das Geben von Geld ist verhängnisvoll.

Die Verengung von Hilfe auf das Geben von Geld ist verhängnisvoll – die Geschichte dieser Verengung dauert bis heute an. Zum Teilen von Geld gehört unbedingt auch das Teilen anderer Ressourcen: Aufmerksamkeit, Zuwendung, Wahrnehmung. Wo es bei Hilfe nur noch ums Geld geht, gerät der einzelne Mensch aus dem Blick.

Wechselseitigkeit

Die christlichen Hilfswerke und die kirchliche Entwicklungszusammenarbeit verteilen durchaus Silber und Gold, also die Spenden und die Haushaltsmittel der Kirchen und des Staates. Unsere Hilfswerke verstehen sich als Teile eines Netzes der Solidarität, in dem die Rollen der Gebenden und der Nehmenden nicht festgelegt sind. So gehört Brot für die Welt zu den Gründungsmitgliedern der „ACT Alliance“ (actalliance.org/act-news/diaconia), einem weltweiten Netzwerk von Hilfsorganisationen. Diese ökumenische Diakonie bleibt dynamisch. Tatsächlich ist Brot für die Welt aus einer Organisation hervorgegangen, die zunächst Hilfe empfangen hat: Aus dem Deutschen Nationalkomitee des Lutherischen Weltbunds, durch das Deutschland in der frühen Nachkriegszeit Hilfe aus Ländern erhalten hat, die kurz zuvor noch Kriegsgegner gewesen waren – vor allem aus den USA und aus Skandinavien. Ende der fünfziger Jahre wechselte die Rolle: Die Kirchen in Deutschland hatten neue Strukturen entwickelt und die Not im Globalen Süden rückte stärker in den Blick. Aus Empfangenden wurden Gebende. Sehr bewusst kam dies bei der Eröffnung der 1. Aktion von Brot für die Welt in den Blick: Die Spendengelder wurden in Tonnen hineingelegt, in denen in den Jahren zuvor Milchpulver nach Deutschland gebracht worden war.

Eröffnung der 1. Aktion Brot für die Welt 1959
1959 im Advent: Eröffnung der 1. Aktion Brot für die Welt (Foto: Wilson/Brot für die Welt)

Dies ist das Prinzip der ökumenischen Diakonie in Wechselseitigkeit: Alle sind potenziell begabt zum Helfen und Teilen, aber alle sind zugleich unvollkommen und können jederzeit hilfsbedürftig werden. Die Rollen von Gebenden und Nehmenden können wechseln, und sie tun es auch. So verstandene Nächstenliebe beschämt nicht, sie erniedrigt und überfordert nicht – und sie hat insofern auch keine Grenzen.

Lobby und Advocacy

Zu Hilfe und Hilfe zur Selbsthilfe kommt ein wichtiges Drittes: Die Lobby- und Advocacyarbeit, um die Ursachen von Unrecht, Hunger und Not zu bekämpfen. Zum Beispiel werden von Brot für die Welt Partnerorganisationen unterstützt, um im nationalen Kontext von ihren Regierungen strukturelle Veränderungen einzufordern und um auf internationaler Ebene Lobbyarbeit zu leisten. Auch werden Vertretende aus dem globalen Süden direkt unterstützt, an UN-Konferenzen gegen Klimawandel teilzunehmen und ihre Stimme dort einzubringen. In Berlin und Brüssel setzten sich die Kirchen und ihre Hilfswerke dafür ein, dass auch im Norden die Ursachen für Klimawandel, für Flucht und Vertreibung bekämpft werden, ebenso wie ungerechte Strukturen im Welthandel, Ausbeutung in Textilfabriken in Bangladesch und vieles mehr.

Also: Grenzen der Hilfsbereitschaft?

Bei einer achtsamen und zugleich kraftvollen Nächstenliebe liegen die Grenzen in den Haushaltsmitteln oder in den politischen Verhältnissen vor Ort. Wie ist das bei Nationen, bei Ländern, Städten und Kommunen in Deutschland? Die aktuelle Koalition diskutiert heftig und kontrovers, wo Grenzen der Aufnahmekapazitäten sind und wie eine umsichtige Gesetzgebung (aktuell: Fachkräfteeinwanderungsgesetz, Chancenaufenthaltsgesetz) dazu beitragen können, Zuwanderung zu regulieren und zugleich Schutzsuchenden Hilfe zu geben.

Ein Auftrag, der letztlich keine Grenzen kennt.

Aber wie weit soll die Hilfsbereitschaft jeder und jedes Einzelnen gehen? Eine Weisheit aus dem babylonischen Talmud kann orientieren: „Wer auch immer ein einziges Leben rettet, der ist, als ob er die ganze Welt gerettet hätte” (Babylonischer Talmud Traktat Sanhedrin 37a). Das ist Auftrag und Einordnung zugleich. Was Menschen tun können, sollen sie tun, so konkret wie es geht. Zugleich ist es eine Entlastung von dem Anspruch, die gesamte Welt retten zu müssen. Einzelne müssen sich nicht mit diesem Anspruch überfordern – aber wozu die Kräfte jetzt ausreichen, das gilt es im Sinne christlicher Überzeugung und entpaternalisierter Hilfe auch zu tun.

Deine Nächste und Deinen Nächsten lieben – wie Dich selbst

Dies gilt auch für die Opfer von Gewalt und Vertreibung. Dem Angriffskrieg in der Ukraine muss mit rechtserhaltender Gewalt entgegengetreten werden. Ein Einzelner kann ihn nicht beenden. Aber die Ukrainerin Irishka und ihren Sohn Vladislav beim Deutschlernen zu unterstützen, das kann ein Einzelner schaffen oder eine Nachbarschaft gemeinsam. Wenn sie im Gegenzug das Abendessen kochen, dann sind auch Irishka und Vladislav würdige Gegenüber, die etwas beitragen zum Zusammenleben in herausfordernder Zeit. Ebenso bleibt für Kirchen und ihre Werke der Auftrag, die Ursachen von Not, Gewalt, Unrecht und Unterdrückung zu bekämpfen – ein Auftrag, der letztlich keine Grenzen kennt.

Also: Nächstenliebe ohne Grenzen? Aus christlicher Perspektive: Ja! Göttliche Liebe und Zuwendung macht an nationalen Grenzen nicht halt. Zugleich trägt das Gebot der Nächstenliebe schon durch das „wie dich selbst“ eine Begrenzung in sich. Diese Grenze gilt es neu auszuloten, immer wieder. Uneingeschränkt – und maßvoll zugleich.

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