Die Rationalität der Nächstenliebe

Helfendes Handeln soll unbedingt und universal sein, kann aber stets nur begrenzt und konkret sein. Die Perspektive der Nächstenliebe macht diese Diskrepanz sichtbar und hilft, sich produktiv zu ihr zu verhalten. Darin liegt ihre Rationalität.

Nächstenliebe – ein rationales Geschäft? Das scheint fern zu liegen. „Liebe“ hat eine affektive Qualität und auch die biblische Zentralgeschichte der Nächstenliebe, die vom barmherzigen Samariter, hat einen emotionalen Kern. Dass der Samariter dem Verletzten zum Nächsten wird, gründet nicht in seinem überlegenen Wissen, in seiner Intelligenz oder Klugheit, sondern darin, dass es ihn „jammerte“ (Lk 10,33): Er lässt sich unmittelbar berühren vom Wohl und Wehe des anderen. Das ist etwas anderes als die distanzierte und kalkulierende Vernunft, die wir gewöhnlich unter Rationalität verstehen.

Dennoch will ich hier die These vertreten, dass Nächstenliebe eine eigene, innere Rationalität aufweist. Unter Nächstenliebe sei im Folgenden nichts anderes verstanden als Helfen – also: ein Tun zum Wohl anderer –, das in einem christlich-religiösen Kontext gedeutet wird. Nächstenliebe bezeichnet in diesem Sinne weder eine spezifische Institutionalisierungsform des Helfens (etwa: in einer diakonischen Einrichtung) noch ein besonderes Teilgebiet (etwa: soziale Dienstleistungen) oder eine spezifische Qualität von Hilfehandlungen (etwa: besonders gut, persönlich zugewandt etc.). Vielmehr geht es darum, dass Hilfehandlungen von an ihnen Beteiligten – also: Helfenden, Hilfeempfangenden oder Beobachtenden – in einem religiösen Horizont wahrgenommen bzw. interpretiert werden. In diesem religiösen Horizont werden nun, und darin besteht die religiöse Rationalität der Nächstenliebe, Aspekte des Helfens ausdrücklich, die bei Lichte besehen allem ›echten‹ Helfen eigen sind.

Ambivalenzen der Universalität der Nächstenliebe

Die Auffassung, dass Menschen in Not geholfen werden solle, ist weithin Konsens. Bestimmte Notlagen verpflichten die Allgemeinheit wie auch Einzelne, Abhilfe zu leisten. „Unterlassene Hilfeleistung“ ist unter bestimmten Voraussetzungen sogar justiziabel. Es besteht also eine wechselseitige soziale Erwartung, dass geholfen wird. Kulturgeschichtlich hat das Christentum, anschließend an seine jüdischen Wurzeln, eine erhebliche Rolle gespielt in der Entwicklung einer solchen sozialen Erwartung wie auch der Bereitschaft, sie zu erfüllen. Der Begriff der (Nächsten-)Liebe steht im Neuen Testament für eine Universalisierungsbewegung des Helfens vom Ethos einer Gruppe hin zum alle Gruppengrenzen übersteigenden Ethos – eine Bewegung, die in der Idee der Feindesliebe ihren Gipfelpunkt findet. In dieser Universalisierung wurden die frühen Christinnen und Christen sozial auffällig: Im 4. Jh. notierte der römische Kaiser Julian irritiert, die Christen ernährten nicht nur eigene, sondern auch fremde Arme.

In dieser Universalisierung liegt das erste Moment der Rationalität der Nächstenliebe: Wenn Nächstenliebe bedeutet, sich einem Menschen in Not, motiviert durch eben diese Not, helfend zuzuwenden, so leuchtet es nicht ein, dass diese Zuwendung sich nur auf eine spezifische Gruppe beschränkt. Die Universalität der Nächstenliebe macht Ernst mit dem, was im Gedanken des Helfens bereits angelegt ist.

Hinter jedem Nächsten wartet schon die Übernächste.

Damit allerdings entsteht zugleich ein Problem. Wenn Helfen, als Nächstenliebe gedeutet, potentiell alle Gruppengrenzen überschreitet, ist damit eine potentiell überfordernde Erwartung verbunden. Die Not ist immer größer als die eigenen Möglichkeiten. Hinter jedem Nächsten wartet schon die Übernächste. Helfen als Zuwendung zur Not anderer, das wird an der religiösen Deutung sichtbar, ist mit überschießenden Erwartungen belegt. Die Not ist unbegrenzt. Ebenso lässt sich die Erwartung zu helfen nicht gut gegen andere Verpflichtungen aufrechnen; sie nimmt unbedingt in Anspruch. Schließlich ist die Haltung der Hilfsbereitschaft immer noch steigerungsfähig. Die Erwartung zu helfen ist also in mehrfacher Weise unbegrenzt; sie überschreitet nicht nur das jeweils Geleistete, sondern auch das Leistbare.

Für den Bereich sozialer Dienstleistungen lässt sich das etwa an deren Grundprinzipien zeigen. Unbestritten ist die Leitvorstellung der Inklusion, das heißt die Forderung nach Abbau von Teilhabebarrieren für einzelne und Gruppen. Zugleich ist klar, dass jede konkrete Bemühung um Inklusion wiederum Zugangsvoraussetzungen hat und in diesem Sinne exklusiv wirkt. Das spricht nicht gegen die Zielvorstellung der Inklusion, zeigt aber, dass sie nie vollständig zu verwirklichen ist. Ähnliches gilt für die Leitvorstellung der Menschenwürde, also der unbedingten Achtung des Subjektcharakters jedes menschlichen Individuums unabhängig von dessen Lebenssituation und seinen Fähigkeiten. Solche Achtung kann in konkreten Hilfevollzügen wiederum niemals so umfänglich und vollständig erbracht werden, wie es eigentlich nötig wäre. Inklusion und Würde sind – im Lichte der dargestellten Universalisierungsbewegung – notwendige innere Leitprinzipien des Helfens, die zugleich alle tatsächliche Hilfe überschreiten.

Die notwendige Begrenzung des Helfens

Nun tritt das konkrete, begrenzte, bedingte Helfen unter derlei überschießende Erwartungen. Dabei ist es von zwei Seiten gefährdet: von der Seite der beständigen Defiziterfahrung – genügt nicht! –, die in Überlastung und Frustration führt; oder von der Seite des Zynismus – egal! –, der sich gegen jegliche Erwartung immunisiert. An dieser Stelle entfaltet die religiöse Deutung von Helfen als Nächstenliebe ihre religiöse Rationalität in einem zweiten Sinne. Denn sie ermöglicht es, sich zu den überschießenden Erwartungen selbst noch einmal zu verhalten und diese symbolisch auf Distanz zu halten, damit sie das konkrete Helfen nicht zerstören. Denn im christlich-religiösen Kosmos ist das Symbol der Nächstenliebe verbunden mit anderen Symbolen wie etwa dem des Reiches Gottes. Das Reich Gottes steht in der christlichen Tradition, bei aller Verschiedenheit, für eine Idee menschlicher Sozialität, an der alle Individuen vollumfänglich teilhaben und in der sie dabei in unbedingter Weise anerkannt sind – modern gesprochen: in der Inklusion und Würde vollständig realisiert sind. Nun steht das Reich Gottes zur gegenwärtigen Wirklichkeit und zum menschlichen Handeln in einer spannungsvollen Relation. Es ist bereits angebrochen, ohne eindeutig identifizierbar zu sein; es dient als Leitvorstellung des Handelns, ist letztlich aber etwas, das Menschen nicht machen, sondern nur erhoffen können. Nächstenliebe weiß sich damit ausgerichtet auf etwas, das ihrer handelnden Verwirklichung entzogen ist, und auf das hin es doch zu handeln gilt.

Nächstenliebe weiß sich ausgerichtet auf etwas, das ihrer handelnden Verwirklichung entzogen ist, und auf das hin es doch zu handeln gilt.

Insgesamt macht die Deutung der Nächstenliebe erstens ernst mit dem universalen Charakter des Hilfeethos und reflektiert zweitens, dass damit ein Ideal in die Welt gesetzt ist, das im endlichen, konkreten Handeln nicht zu realisieren ist; ja, das, wenn es unter Verkennung menschlicher Endlichkeit zum direkten Handlungsziel wird, totalitäre und inhumane Züge annimmt, wie es die religiösen wie säkularen Verwirklichungsversuche vom Täuferreich zu Münster bis zum real existierenden Sozialismus zeigen. In diesem Doppelten liegt die Rationalität der Nächstenliebe, die demzufolge auch in gegenwärtigen Auseinandersetzungen um eine Kultivierung des Hilfeethos, etwa im Umfeld sozialpolitischer Debatten, das Ihre beizutragen hat.

Das Verhältnis von Rationalität und Emotionalität

Abschließend möchte ich noch einmal auf das eingangs angesprochene emotionale Moment der Nächstenliebe eingehen. Denn die Rationalität der Nächstenliebe, wie ich sie entfaltet habe, soll gerade nicht gegen die Emotion ausgespielt werden. Das gilt für die spontane, affektiv motivierte Zuwendung im sozialen Nahbereich, aber auch für das organisierte und professionalisierte Helfen in der Diakonie. Auch Profis arbeiten nicht unberührt. Bei aller professionellen Distanz brauchen sie affektive Berührbarkeit, um gute Arbeit leisten zu können. Wie also verhält sich die Rationalität zur Emotionalität der Nächstenliebe?

Hierauf gibt es meines Erachtens eine doppelte Antwort. Auf der einen Seite haben Gefühle ihre eigene, innere Rationalität: In ihnen kann sich eine Welthaltung manifestieren, die in langer Erfahrung, Einübung und eben auch reiflicher Überlegung ihre Form angenommen hat. Auf der anderen Seite ermöglicht es die Rationalität der Nächstenliebe, also die Fähigkeit, mit fremden und eigenen Erwartungsüberschüssen umzugehen, auch emotional berührbar zu bleiben. Wenn in einer krisenüberreizten Welt die blasierte Unberührtheit, die Georg Simmel als Überlebenstechnik des Großstadtbewohners ausgemacht hat, zum Normalzustand geworden ist, wird es riskant, sich durch die Not anderer berühren zu lassen. Um dieses Risiko eingehen zu können, bedarf es des Vertrauens, die aus einer solchen Berührung entstehende Bindung mit ihren Erwartungen und Erwartungsüberschüssen auch bewältigen zu können. In diesem Sinne ermöglicht die der Nächstenliebe eigene Rationalität schließlich auch die innere Haltung der Nächstenliebe, die höher ist als alle Vernunft.

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