Nächstenliebe ohne Gott Oder: Wie wird man ein guter Mensch?

In einem Interview im letzten Jahr hat der Philosoph Peter Sloterdijk einmal mehr den Untergang der Institution Kirche beschworen. Im Unterschied zur im Schwinden befindlichen Organisation könnten sich die von der Kirche vertretenen ethischen Motive hingegen auch in der modernen Welt gut behaupten.

„Vor allem das Hauptmotiv ›Nächstenliebe‹ ist in weltliche Institutionen übersetzt worden, in denen sie anonym äußerst erfolgreich sind.“ Und weiter: „Greenpeace und Amnesty International sind mindestens so kirchlich wie die Kirche selbst.“

Ist also zur Trauer über den angeblichen Bedeutungsverlust des Christentums gar kein Anlass, weil die christlichen Anliegen ja bei den säkularen Nachlassverwaltern bestens aufgehoben sind? Auch von Christinnen und Christen ist hin und wieder zu hören, mehr als auf Gläubigkeit komme es letztlich doch auf das richtige soziale Verhalten an. Gerade in der ökumenischen Bewegung wird tendenziell mehr Wert auf „Orthopraxie“ (also das gemeinsame Bemühen um rechtes Handeln angesichts der brennenden Herausforderungen der Zeit), als auf Orthodoxie (also theologische Rechtgläubigkeit) gelegt.

Ohne den Wert solchen sozialen Bemühens in irgendeiner Weise in Frage zu stellen, muss man gerade aus protestantischer Sicht daran erinnern, dass im Zentrum der christlichen Verkündigung nicht das Gebot der Nächstenliebe, sondern die Zusage der Rechtfertigung für den gottlosen Menschen steht. Nicht, was wir zu tun haben, macht den Kern der christlichen Botschaft aus, sondern was Gott für uns getan hat und tut! Martin Luther hat das dem Protestantismus mit allem Nachdruck und für alle Zeit ins Stammbuch geschrieben: „Wenn man fromm oder böse wird, fängt es nicht bei den Werken an, sondern beim Glauben“ heißt es in seiner Programmschrift Von der Freiheit eines Christenmenschen aus dem Jahr 1520. Die erste Frage, vor die sich ein Christ oder eine Christin gestellt sieht, ist also nicht die nach geübter Nächstenliebe, sondern die nach gelebtem Gottvertrauen. Ohne das Vertrauen auf die Gnade Gottes führt die Forderung der Nächstenliebe zwangsläufig zu  Resignation und Verzweiflung – ist es doch gar nicht möglich, ihr wirklich gerecht zu werden. Erst wenn das eigene Unvermögen vor Gott (an-)erkannt und das Versäumen und Versagen im Glauben an die von Gott gewährte Vergebung aufgehoben ist, kann das Gebot der Nächstenliebe seine segensreiche Wirkung entfalten. Es ist dann keine äußere Weisung mehr, sondern eine in aller Freiheit übernommene Selbstverpflichtung. Luther beschreibt es so, dass dann „alle Werke dem Nächsten zugute ausgerichtet sein sollen, weil jeder für sich selbst an seinem Glauben genug hat und alle Werke und das Leben ihm überlassen sind, seinem Nächsten damit aus freier Liebe zu dienen“. Wer durch das Handeln Gottes Befreiung erfahren hat, ist damit auch dazu be(f)reit, seinem Nächsten wie ein Diener zu helfen.

„Gute Werke machen nimmermehr einen guten, frommen Mann, sondern ein guter Mann macht gute, fromme Werke“, fasst Luther sein Credo in der Freiheitsschrift (völlig gender-unsensibel) zusammen. Soziales Engagement aus Nächstenliebe, ob bei Greenpeace und Amnesty oder bei Diakonie und Caritas sind gut und wichtig, könnte man heute sagen; dort und anderswo geübte Nächstenliebe macht sicher viele froh. Aber eines macht eben nicht sie, sondern nur der Glaube: frei!

 

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