Initiative ergreifen und Prioritäten setzen Die biblische Hoffnung der Nächstenliebe

Das Gebot der Nächstenliebe strahlt weit über die Bibel hinaus in die Welt hinein; es inspiriert und irritiert die ethischen, die sozialen, die politischen Debatten der Gegenwart, der Vergangenheit und der Zukunft. Worin liegt die Stärke, wo verlaufen die Grenzen des Liebesgebotes?

Das Gebot der Nächstenliebe verbindet Altes und Neues Testament, es verbindet Judentum und Christentum, es verbindet alle christlichen Kirchen. „Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst“ – so steht es im Gesetz geschrieben (Levitikus/3.Mose 19,18), so hat Jesus es zitiert (Markus 12,28-34; Matthäus 22,34-40; Lukas 10,25-28) und mit dem Beispiel vom barmherzigen Samariter erläutert (Lukas 10,29-35); so haben es Paulus und Jakobus ihren Gemeinden als Grundorientierung nahegebracht (Römer 13,8-9; Galater 5,13-14; Jakobus 2,8). Die Nächstenliebe wird immer wieder geübt, aber auch versagt, sie wird erhofft und genossen, vermisst und eingefordert. Sie wird auch angefragt: Kann Liebe etwa zur Pflicht werden? Ist das Gebot nicht zu privat? Reduziert es die Aufmerksamkeit nicht auf das engste Umfeld, ohne die weltweiten Probleme zu beachten?

Was Liebe ist – in der Ethik

Im Deutschen ist Liebe ein Allerweltswort, nicht so im Griechischen der Bibel. Für die Nächstenliebe steht ein ganz bestimmtes Wort: Agape. Dieses Wort bezeichnet präzise die Liebe, die Gott seinem Volk Israel erweist, indem er es ins Leben ruft und seine Wege begleitet; es bezeichnet dann auch ebenso präzise die Antwort, die von dieser Liebe Gottes erfüllt ist: die Liebe zu Gott und zum Nächsten. Die Nächstenliebe sagt: Ich will, dass du bist; denn ich weiß, dass Gott dich will – so wie auch ich von Gott gewollt und geliebt bin, damit ich lieben kann.

In der Nächstenliebe schwingen also durchaus Gefühle mit. Aber vom Verliebtsein ist sie zu unterscheiden: Die Emotion der Nächstenliebe ist die Empathie. Sie verbindet sich mit einer klaren Analyse: was ansteht und machbar ist. Sie verbindet sich auch mit Vorsorge und Nachsorge. Die Nächstenliebe kann spontan, aber auch organisiert sein – je nach den Umständen. Entscheidend ist, dass sie kein Postulat bleibt, sondern Praxis wird.

Diese Nächstenliebe soll trainiert werden; am besten ist es, wenn sie zur Lebenseinstellung wird – so dass sie nicht mehr als fremdes Gebot erscheint, sondern als innerer Antrieb wirkt. Entscheidend ist die Einheit mit der Liebe zu Gott. Sie ist in der Bibel nicht so zu verstehen, dass zur Nächstenliebe nur willig und fähig wäre, wer auch Gott liebt. Aber sie ist so zu verstehen, dass es keine Liebe zu Gott ohne die Liebe zum Nächsten gibt – und sie ist so zu verstehen, dass die Nächsten, die es zu lieben gilt, als Gottes Ebenbilder gesehen und bejaht werden. Der eine Gott ist der Gott für alle; deshalb gibt es keinen Menschen, der nicht der Nächstenliebe würdig wäre – und keinen, dessen Menschsein davon abhinge, dass andere Menschen es anerkennen.

Wer die Nächsten sind – im wirklichen Leben

Im Englischen wird das hebräische und griechische Wort mit neighbor übersetzt: Nachbar. Die Pointe ist die Nähe. Sie schafft Verbindung und Verbindlichkeit. Fernstenliebe ist leicht – sie bleibt im Ungefähren. Nächstenliebe ist ernst – sie fordert und kostet. Dadurch gibt sie Orientierung. First things first.

Das Gebot der Nächstenliebe hat eine Priorisierungsregel eingebaut, die ethisch wegweisend ist. Der Wille von Menschen, anderen Gutes zu tun, mag unbegrenzt sein; aber die Kräfte, die zur Verfügung stehen, wirklich Hilfe zu leisten, Interessen zu vertreten und Solidarität aufzubauen, sind begrenzt. In der philosophischen Ethik wird heute zwar häufiger von Altruismus als von Nächstenliebe geredet. Aber wenn nur vom Anderen gesprochen wird, droht die Konkretion verlorenzugehen: Der Nahbereich zählt, das Unmittelbare, das Drängende, das in den Blick kommt. Niemand braucht sich Schuldgefühle einzureden, weil es immer noch viele, viele andere Menschen gibt, denen es schlecht geht und die der Unterstützung bedürften – wenn sie denn möglich wäre. Niemand darf sich auch vermessen, durch das eigene Handeln die Welt retten zu können.

Das Gebot der Nächstenliebe hat eine Priorisierungsregel eingebaut, die ethisch wegweisend ist.

Die Bibel gibt Hinweise, wo die Nächsten zu finden sind, die es zu lieben gilt: bei denen, mit denen man zusammen lebt und arbeitet, bei den Angehörigen der eigenen Familie, des eigenen Dorfes, der eigenen Stadt, der eigenen Nation. Andere sind keineswegs ausgeblendet. Zum Gebot der Nächsten- gehört originär das Gebot der Fremdenliebe (Levitikus/3. Mose 19,34). Die „Fremden“ sind für Israel die Nicht-Juden, die mit im Lande leben und eigene Rechte haben. Für Jesus beantwortet der barmherzige Samariter die Frage: „Wer ist denn mein Nächster?“ (Lukas 10,29): Der Mensch, den ich in Not sehe – ohne dass ich frage, ob ich mir die Hände schmutzig mache oder meine Reisepläne ändern muss oder ob ich jemandem aus einer anderen Nation, einer anderen Religion, einer anderen sozialen Schicht die Hand reiche.

Nächstenliebe ist gerade dann angesagt, wenn sie Widerstände überwinden muss und nicht darauf rechnen darf, dass sich das ethische Investment unmittelbar durch Gegenleistungen auszahlt. Deshalb sind im alttestamentlichen Liebesgebot Konflikte benannt, die durch Nächstenliebe gelöst werden sollen: Hass soll abgebaut, Groll soll überwunden, Rache nicht geübt werden – gerade dann, wenn es Grund zur Empörung über das Verhalten des Nächsten gibt (Levitikus/3. Mose 19,17-18). Mit seinem Gebot der Feindesliebe zeigt Jesus, wie weit die Liebe gehen kann und soll: bis zu denen, die körperliche, ökonomische, politische Gewalt ausüben (Matthäus 5,38-48; Lukas 6,27-36). Mit Quietismus und Nachgiebigkeit hat die Feindesliebe nichts zu tun: mit der List der Schwachen, die Starken zu überwinden, aber sehr viel, auch mit der Kreativität des Friedenstiftens, wenn Unrecht verwandelt wird, und nicht zuletzt mit dem persönlichen Einsatz, lieber Unrecht zu ertragen, als Unrecht zu tun, und in den Mitteln der Notwehr das Menschsein der Feinde zu achten.

Wer „ich“ bin – im Liebesgebot

Drei Mal wird die 1. Person Singular im Gebot der Nächstenliebe angesprochen: „Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst.“ Auch diese Ich-Perspektive geht in ethischen Altruismus-Konzepten schnell verloren. Sie ist aber zentral. Erstens geht es darum, das Gebot der Nächstenliebe nicht auf andere abzuschieben, sondern nach der eigenen Verantwortung zu fragen. Sie kann eine ganz persönliche, aber auch eine institutionelle Verantwortung sein: Du, Caritas – Du, Diakonie – Du, Kirche – Du, Regierung – Du, Initiative. Das Gebot fordert dazu auf, die eigenen Ressourcen, die eigenen Kontakte, die eigenen Ideen zu nutzen.

Zweitens geht es darum, nicht irgendwelchen anderen Menschen die Verantwortung in die Schuhe zu schieben, sondern selbst die Initiative zu ergreifen. Es geht um „deine“ – also um „meine“ und „unsere“ – Nächsten. Die Frage lautet allerdings, wer als Nächster wahrgenommen wird. Es gibt viele Scheuklappen, Menschen nicht zu sehen, die aber zu Nächsten werden können, mögen sie auch eine andere Hautfarbe, einen anderen Hintergrund, ein anderes Geschlecht, einen anderen Beruf oder Status haben. Alle Einschränkungen des ethischen Blickfeldes werden in der Gottesperspektive obsolet, so wichtig es bleibt, Prioritäten zu setzen und zuerst im Nahbereich zu handeln. Es gibt psychologisch viele Gründe, Menschen nicht zu nah an sich heranzulassen, um von ihnen nicht ausgenutzt zu werden. Aber es gibt keinen Grund, die grenzüberschreitende Kraft, die dem Liebesgebot innewohnt, zu leugnen. Man würde Gott selbst Grenzen setzen.

Alle Einschränkungen des ethischen Blickfeldes werden in der Gottesperspektive obsolet.

Drittens heißt es: „wie dich selbst“. Das Liebesgebot baut keine falsche Konkurrenz auf – so als ob man zuerst sich selbst lieben zu lernen müsse, um dann auch andere lieben lernen zu können. Vielmehr bin „ich“ im Liebesgebot als ein Mensch angesprochen, dessen Selbst durch die Beziehung mit anderen Menschen und mit Gott geprägt ist. Nächstenliebe begründet weder Selbstausbeutung noch Helfersyndrom. Je stärker die eigene Persönlichkeit so entwickelt ist, dass die Gottesebenbildlichkeit gelebt wird, desto deutlicher wird, dass Nächstenliebe Selbstverwirklichung ist.

Sich selbst zu lieben, fällt besonders denen schwer, die den Verdacht haben, nicht geliebt zu sein – von anderen Menschen nicht und von Gott schon gar nicht. Das biblische Liebesgebot hält dagegen: Es setzt die Liebe Gottes in Ethik um; es inspiriert, konkret zu werden und Prioritäten zu setzen: die Priorität der Empathie, die anderen hilft, sich geliebt zu wissen.

Das Prinzip der Nächstenliebe braucht andere Prinzipien, wie das der Gerechtigkeit, um auch politisch Kapital schlagen zu können. Aber es erinnert die Politik daran, dass sie von Menschen und um der Menschen willen getrieben werden muss. Die religiöse Prägung mindert nicht die universale Geltung des Liebesgebotes, sondern begründet sie. Die Universalität der Nächstenliebe grenzt das religiöse Bekenntnis nicht ein, sondern schließt es auf.

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Thomas Söding: Nächstenliebe. Gottes Gebot als Verheißung und Anspruch. Freiburg i. Br. 2015. 424 S. (nur noch als E-Book erhältlich).

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2 Gedanken zu „<span class="entry-title-primary">Initiative ergreifen und Prioritäten setzen</span> <span class="entry-subtitle">Die biblische Hoffnung der Nächstenliebe</span>“

  1. Sie schreiben: “Mit Nachgiebigkeit hat die Feindesliebe nichts zu tun …//… aber sehr viel …//…in den Mitteln der Notwehr das Menschsein zu achten.”

    Mich würde interessieren, wo lesen Sie die Notwehr aus der Botschaft Jesu heraus? Wie lässt sich diese Aussage mit dem Gebot Jesu, dem Bösen nicht körperlich zu widerstehen, vereinbaren? Wie lässt sie sich mit der Passion Jesu begründen, die er bereitwillig, und uns zum Vorbild auf sich genommen hat?
    Und überhaupt, das Gebot der Nächstenliebe schlägt nirgendwo weniger Kapital, als in seiner politischen Vereinnahmung. Alles andere ist Wunschdenken.

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  2. Antwort des Autors Thomas Söding:

    Danke für den kritischen Einwand. Versuch einer Antwort: Den Nächsten zu lieben, heißt auch, ihn zu schützen. Jesus hat dies z.B. durch Heilungen und Verteidigungen von Verfemten getan. Dass Jesus zwar selbst den gewaltlosen Weg des Leidens zu gehen bereit ist, aber sogar seine Verfolger und auch seine Jünger schützt, zeigt die Gefangennahme. Nach Lk 22,51 heilt Jesus das Ohr eines Knechtes, der zum Verhaftungskommando gehört – Beispiel dafür, dass auch Notwehr ethisch verantwortungsvoll geübt werden muss; nach Joh 18,8 will Jesus seine Jünger schützen: “… lass diese gehen” – Beispiel dafür, andere nicht die Kosten der eigenen Überzeugung zahlen zu lassen.

    “Du” ist das Pronomen des Liebesgebotes. Der Preis, den es fordert, muss “ich” zu zahlen bereit sein. Die Übertragung aus der Individualethik in die politische Ethik ist eine eigene Aufgabe. Sie kann nicht gelingen, wenn man am Buchstaben klebt, aber wenn man dem Geist der Konfliktbewältigung und Versöhnung folgt, der aus dem Gebot spricht.

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