„Und ich werde bleiben im Hause Gottes immerdar“ (Ps 23,6) Theologische Anmerkungen zu einem Wort mit utopischem Potential: Heimat

Eine theologische Erkundung von „Heimat“ darf nicht naiv sein. Sie muss mit einer Dekonstruktion beginnen – gerade in diesen Zeiten.

Ein rechtsextremer Täter, der mordet und zeitgleich seinen Rassismus, seinen Hass auf Juden und Muslime, auf Feministinnen und sogenannte Anti-Deutsche über eine Webcam im Netz ›zum Besten gibt‹: Halle im Herbst 2019. Heimat: Verdächtig war mir das Wort schon lange. Menschen brauchen ein Zuhause, ja. Sie brauchen einen Ort, nein, mehrere Orte, an denen ihnen vertraut wird, wo sie gebraucht und gewürdigt werden, wo sie über sich hinauswachsen können im Miteinander, wo sie sich verkriechen können – mit ihrer Musik, ihrem Hund, ihrem Smartphone, Chips oder einer Falafel, einem Buch oder Gebet. Ja, das alles brauchen wir.

Aber dafür taugt das Wort „Heimat“ nicht. Dieses Wort hat eine Geschichte, und an dieser Geschichte klebt Blut. Wir können es nicht wie einen neu geborenen Säugling in die Zukunft tragen. Wir können es nicht einfach – liberal, weltoffen, postmodern oder auch postkolonial – besetzen. Schon gar nicht, so lange stärker werdende Strömungen in unserer Gesellschaft genau dieses Wort für die Bemäntelung ihrer menschenverachtenden völkischen, nationalistischen und ausgrenzenden Konzepte und Strategien nutzen.

Heimat – Kultobjekt und Alptraum

Erinnern wir uns: Die Nazis betrieben einen regelrechten Heimatkult, der bereits damals mit den Prinzipien aufgeladen war, die heute noch Bestandteil allen rechtsextremen Denkens sind: Sie beschworen eine heile Welt, die hergestellt wird durch die Reinheit einer homogenen Volksgruppe. Sie sprachen von Heimat, um diese gleichzeitig den „Anderen“ zu verweigern, sie auszugrenzen, zu erniedrigen und zu entmenschlichen. Die Terroristen des NSU und ihr rechtsextremes Umfeld, die zwischen 2000 und 2007 zehn Menschen in Deutschland ermordeten, sind aus dem Thüringer Heimatschutzbund entsprungen. Die NPD nennt sich auf ihrer Website die soziale Heimatpartei und wirbt mit dem Slogan „Deutsche helfen Deutschen“. Und Dr. Jörg Meuthen, Bundessprecher der AFD Deutschland, baut das Wort „Heimat“ in das Statement ein, das er unmittelbar nach dem Terroranschlag von Halle an die Presse leitet – die rechtsextremen Motive des Attentäters komplett ignorierend: „Deutschland ist nicht mehr das sichere Land, das es einmal war, sondern unsere Heimat befindet sich mittlerweile im Würgegriff von Terror und extremistischer Gewalt.“

Das Wort „Heimat“ romantisch zu verklären oder unreflektiert zu gebrauchen, verbietet sich.
Eure Heimat ist unser Alptraum heißt ein Buch, das deutsche Wissenschaftler*innen Künstler*innen, Literat*innen (mit Migrationshintergrund) kürzlich veröffentlichten, um der Mehrheitsgesellschaft zu beschreiben, wie sich dieses Wort „Heimat“ anfühlt – auf der anderen Seite. Im August 2019 hatte jeder vierte Mensch in Deutschland einen sogenannten Migrationshintergrund. Die Mehrheit ist hier bereits geboren, viele haben einen deutschen Pass, zahlen Steuern, engagieren sich für unser Land und werden den Stempel des Anderen, des Eindringlings in „unsere Heimat“ doch nie los.

Der Heimat-Raum muss Türen haben

Heimat, dieses Wort führt uns, auch im Blick auf eine mögliche theologische Spurensuche, schnell in die Irre. Wir brauchen neue Bilder und Begriffe, um uns ihm zu nähern. Lassen wir Karl Barth den Anfang machen. In seiner Kirchlichen Dogmatik III/4, erschienen 1951, schreibt er: „Es gibt in jedem Land einheimische Gepflogenheiten genug, für die eine gründliche Beeinflussung und Überholung durch fremde Menschen und ihre Art höchster Gewinn wären. Das eigene Volk in seinem Raum kann und darf keine Wand sein, sondern nur eine Türe. Sie darf jedenfalls nie verriegelt, geschweige denn zugemauert werden“ (S. 330f).

Hier wird nicht die Superiorität, der Vorrang der „Immer-schon-Dagewesenen“ beschworen, sondern die Präsenz von Fremden wird als Gewinn für die Einheimischen gesehen. Der Blick auf das eigene Volk wird mit dem Bild einer „geöffneten oder zu öffnenden Tür“ deutlich anders besetzt, als in rechten Ideologien. Natürlich konnte Karl Barth in den 50er Jahren die heutige globalisierte Weltgesellschaft nicht vorausahnen. Wie sehr Raum und Zeit durch neue Technologien schrumpfen würden, wie deutlich sich klare ethnische Zuordnungen und Gepflogenheiten in den großen „superdiversen“ Städten, wo wir es mit Dynamiken der gegenseitigen Anpassung zu tun haben, auflösen würden – all das können seine Sätze von 1951 nicht reflektieren. Er bleibt deshalb dem binären Denken „Einheimische – Fremde“ verhaftet. Allerdings macht Barth in demselben Kapitel eine Andeutung, die noch einen Schritt weiter geht: „Wo Gottes Gebot laut und vernommen wird, da erweisen sich die Begriffe Heimat, Vaterland, Volk als erweiterungsfähig. Wer im Gehorsam lebt, der kann, ohne untreu zu werden, auch in der Fremde zuhause sein. Nicht überall, wo es ihm gut geht, wohl aber überall da, wo er zum Tun des Guten aufgerufen ist, wird er auch sein Vaterland wieder finden“ (S. 330f).

Hier verlässt Barth das Bild von Heimat/Vaterland als räumlichen Ort und qualifiziert es durch eine Aufgabe, die Gott dem Menschen schenkt: Das Tun des Guten. Diese Möglichkeit, so Barth, verwandelt einen Raum in ein Zuhause, an dem Menschen wohnen und wachsen können – auch in der Fremde. (Ein Aspekt, der in der Integrationspolitik unseres Landes viele Jahrzehnte lang nicht denkbar war.) Barths Verständnis von Heimat widerspricht nicht nur einem nationalistisch-abgrenzenden Gebrauch dieses Begriffes, sondern auch einem hedonistisch-regressiven Verständnis. Letzteres ist heute weit verbreitet und wird medial und politisch instrumentalisiert: Heimat als der Ort, wo es mir gut geht, wo ich nicht gestört werde durch Andere und meine Ruhe habe. Heimat also, aber nicht als Ort gedacht, sondern als Qualität von Leben, die sich vielerorts ereignen kann.

Heimat – keineswegs selbstverständlich

Und „Heimat“ in der Bibel? In den deutschen Übersetzungen kommt das Wort „Heimat“ ungefähr eine Handvoll Mal vor, was schon erkennen lässt, dass dieser Begriff in der Bibel marginal ist. Es gibt gerade im Alten Testament kein eindeutiges Wort für Heimat, sondern mehrere, die in dessen Nähe kommen und die je nach Kontext ihre Bedeutung verschieben. So zum Beispiel das hebräische Wort ›menucha‹, das sowohl mit „Heimat“, als auch mit „Freiheit“ oder „Ruhe“ übersetzt werden kann.
Oder nehmen wir Abraham: Er wird gerufen, sein ›Vaterhaus‹, seine ›Verwandtschaft‹ und sein ›Land‹ zu verlassen. „Israels Heimatbegriff ist nicht der der Autochthonen, die angeblich ›immer schon‹ da wohnten, wo sie wohnen. Israel weiß, dass es ins Land kam, kommt, kommen wird“, weiß der Alttestamentler Jürgen Ebach und verweist auf zahlreiche Bibelstellen: „Ihr sollt die Fremden lieben, auch ihr seid ja Fremde gewesen in Ägypten“ (Dtn 10,19). Die Fremden sind in dieser Perspektive nicht nur die Anderen, sondern auch die eigenen Mütter und Väter. Heimat wird zu einem Geschenk, das man erhält oder findet, das aber keinerlei Selbstverständlichkeit besitzt, wohl aber über Generationen hinweg ethisch verpflichtet.

Könnte es sein, dass das, was wir in unserem derzeit vorherrschenden Heimatdiskurs als „normal“ betrachten – nämlich dass Menschen in einem Land fest beheimatet sind –, der Bibel in großen Teilen fremd ist? Heimatlosigkeit, Abbruch und Aufbruch, Flucht, Suche nach einem Raum mit Überlebenschancen, mit Lebensqualität, Heimat als Nicht-Ort, Heimat im Hause Gottes – das scheinen mir viel eher die Themen der Bibel und ihrer Protagonisten zu sein.

Heimat als Nicht-Ort, Heimat im Hause Gottes scheinen die Themen der Bibel zu sein.

Wenige Andeutungen müssen an dieser Stelle genügen: Abraham, der Stammvater Israels, kommt aus dem babylonische Ur, dem heutigen Irak. Sara und er folgen dem Ruf Gottes und ziehen nach Kanaan, westlich des Jordans, in das heutige Israel und Palästina. Sie leben im verheißenen Land, das aber das fremde(!) Land ist: Als sie eine Frau für ihren Sohn suchen, muss ein Knecht zurück in die alte Heimat. Generation später wird ihre Nachkommenschaft in Ägypten versklavt. Die Befreiung aus Ägypten, der lange Weg durch die Wüste unter der Führung von Mose, ist eine der prägendsten Erfahrungen in der Geschichte des jüdischen Glaubens. Die Zehn Gebote beginnen mit der Erinnerung genau daran: „Ich bin der Herr, dein Gott, der dich herausgeführt hat aus dem Land Ägypten, aus dem Sklavenhaus.“ Darin gründet der Glaube des jüdischen Volkes – und der Christen.

Mose war im Übrigen eine durch und durch hybride Gestalt (und vielleicht gerade deshalb geeignet als Führungsfigur?): Geboren als Hebräer, adoptiert von einer ägyptischen Mutter, dann als politisch Verfolgter zeitweilig heimisch geworden in Midian (Ex 2,11ff). Dort, als ›Midianiter mit Migrationshintergrund‹, heiratet er eine Einheimische. Der erste Sohn erhält den Namen Gershom (Vertreibung – zeitweilig Fremder), denn Abraham „sprach: Als Fremder wurde ich aufgenommen in einem fremden Land“ (Ex 2,22). Später erhält er von Gott die Aufgabe, das Volk aus Ägypten zu befreien. Er kehrt dorthin zurück, um gleich wieder aufzubrechen in das verheißene Land, das Mose selbst aber nur sehen und nie betreten wird.

Wer Heimat hat, sollte das „Gastrecht“ hochhalten

Aber auch jenseits der Erzelterngeschichten: Die Zeit, als das Volk Israel im Exil in Babylon lebte, hat im Alten Testament einen großen Niederschlag gefunden. Viele Psalmen erzählen davon – „an den Strömen Babels saßen wir und weinten, als wir an Zion gedachten“ (Psalm 137,1). Was für Dramen, was für Identitäten, was für Lebenswege, die sich alle darin treffen, dass das stabile Wohnen in einer klar umrissenen Heimat gerade nicht normal ist, sondern eher die Ausnahme. Könnte es sein, dass das biblische Volk Israel viele seiner ethischen Prinzipien im Unterwegssein zwischen einem alten Zuhause und einem möglichen Neuen, an Grenzen und in der Fremde gefunden hat? „Kaum ein Gebot ist in der ›Schrift‹ so nachdrücklich betont wie das, die Fremden nicht zu bedrücken“ schreibt Jürgen Ebach. „Wer unterwegs ist, soll nicht schutzlos sein. Darum hat in der Bibel das Gastrecht einen überaus hohen Stellenwert.“

Für die Alttestamentlerin Dr. Ulrike Bail ist der biblische Heimatbegriff immer auch ein utopischer Begriff. „Heimat ist ein Ort, zu dem man unterwegs ist, sie hat noch keinen Ort in der Wirklichkeit (…)“. Sie nimmt Bezug auf die große Zukunftsvision im Buch des Propheten Micha (Micha 4,1-7). Dort wird ein Ort beschrieben, an dem Gott zwischen vielen Völkern wohnen wird. Kein Volk wird mehr gegen das andere sein Schwert erheben, die Menschen werden unter ihren Feigenbäumen wohnen und niemand schreckt sie auf. Die Vision schließt damit, dass Gott an diesen Tagen „die Hinkenden und die Umherirrenden“ sammeln und sie zu einem neuen Anfang führen wird. „Diesen heimatlosen Menschen wird nicht nur wieder ein Ort zum Leben gegeben, sondern sie werden gewissermaßen zum Maßstab dieses Ortes“ (S. 13) schreibt Bail. Die Lebensqualität eines Ortes erweist sich also für all(!) seine Bürger in dessen Umgang mit den „Übriggebliebenen“ (im Englischen displaced people – entortete Menschen).

Ein Gedanke zieht sich darüber hinaus durch beide Testamente: Heimat hier auf Erden ist immer etwas Fragiles, vorübergehend Gewährtes und Geschenktes. Nur im Hause Gottes können wir dauerhaft wohnen und bleiben, denn „wir haben hier keine bleibende Stadt, sondern die Zukünftige suchen wir“ (Hebr 13,14). Heimat bleibt uneingelöst, zukunftsoffen. Christen dürfen deshalb „danke“ sagen, jeden Tag neu für ein Zuhause mit Lebensqualität, um dann – im Sinne Karl Barths – Mauern einzureißen und Türen zu öffnen.

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  1. Weil die Nazis den schon lange existierenden Heimatbegriff ideologisch aufgeladen und mit der aggressiven Vorstellung einer homogenen Volksgruppe verbunden haben, lehnt die Autorin einen an Raum und Zeit gebundenen Heimatbegriff ab. Stattdessen bietet sie heutigen Menschen, wo „Raum und Zeit durch neue Technologien schrumpfen“ und „sich klare ethnische Zuordnungen und Gepflogenheiten … auflösen“, wie sie zu Recht schreibt, das Gegenbild einer wandernden Nomadenfamilie im dritten Jahrtausend v. Chr. an. Die auf der Suche nach Weideland und Wasser wandernde (und sich unterwegs blutige Gefechte mit dort Ansässigen liefernde) Sippe Abrahams etwa als Vorbild für heutige „Wirtschaftsnomaden“ der kapitalistischen Weltwirtschaft? „Das sei ferne“, würde der Apostel Paulus schreiben. Und auch der Verweis der Autorin auf die Geschichte der nach Babylon deportierten Oberschicht der Israeliten gerät daneben: Dort, „in der Fremde“, wo es ihnen ökonomisch gut ging und sie auch kulturell-religiöse Eigenheiten leben konnten, ersehnten sie die Rückkehr in die „Heimat“ – um allerdings nach glücklicher Rückkehr erst einmal nach heutigem Begriff ethnisch-religiöse Säuberungen durchzuführen. Auch das ist ein Teil der Geschichte, der nicht vergessen werden darf. Auf dem Kirchentag 2007 in Köln hat kein Geringerer als Erhard Eppler in seinem Vortrag „Kulturelle Heimat“ die enge und für ihn beglückende Verbindung von kultureller und sozialer „Beheimatung“ und räumlicher Herkunft dargestellt; in hohem Alter in das Haus seiner Kindheit zurückgekehrt, erinnerte er sich dankbar an die Kraft, die ihm diese Bindung für sein Leben gegeben hat. Eppler steht damit für eine reflexive Aneignung des Heimatbegriffs, die „das Fremde“ keineswegs ausschließt, sich selbst aber nicht von den auch räumlich bestimmten Wurzeln lösen muss.

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