Die Welt als Heimat er-fahren

Heimat ist Beziehung, die einen geformt hat. Aber man kann sie auch in der Ferne und in sich selbst finden. Wir sprechen mit einem Weltreisenden auf dem Fahrrad über seine Erfahrungen.

Dein Motiv los zu radeln – war das die Suche nach dir selbst?

Stöckl: Als ich 2017 mit dem Fahrrad in Barcelona startete, stand mir das Ziel Tibet als metaphysisches Symbol vor Augen. Die Fahrradreise ging nicht nur durch Länder, sondern spielte sich in erster Linie in meinem Kopf ab. Tibet als spiritueller Ort, die Geschichten, die sich darum ranken, sollte den Abschluss meiner Suche bilden.

Was hast du vermisst oder was wolltest du sozusagen entdecken?

Stöckl: Irgendwann bevor ich abreiste, bin ich auf die Sieben Taten der Barmherzigkeit gestoßen. Es ging mir darum, Barmherzigkeit zu verstehen. Ob es in der Welt wahre Barmherzigkeit gibt. Ob ich sie passiv erlebe und aktiv zu schenken bereit bin. Daher nahm ich mir für meine Reise eine Haltung der Demut vor. Es dauerte einige Zeit, bis ich merkte, dass ich meine touristische Haltung aufgeben musste – also all das, was Touristen vornehmlich wollen: Sehenswürdigkeiten besuchen und fotografieren, ein Stück Freiheit und Zwanglosigkeit genießen. Ich erkannte, dass die fremden Menschen die Ziele meiner Reise sein würden, die, die mich auf einen Kaffee einluden und ihre Erfahrungen mit mir teilten, die Frau auf den Stufen des Kolosseums in Rom, die mich um Brot bat. Ich war oft allein, aber nie einsam.

Und wie muss ich mir deine Suche konkret vorstellen?

Stöckl: In Rom habe ich die Sonntagsmesse im Vatikan besucht, in Bari am 6. Dezember die St. Nikolaus Kirche, später bin ich zur Wirkungsstätte von St. Nikolaus gefahren. In Indien bin ich zur St. Thomas Kathedrale gefahren. In der Türkei habe ich mich mit Muslimen über den Islam ausgetauscht. In einer kleinen Moschee hat mich der Imam freundlich empfangen und mir von seiner Arbeit erzählt. Zum Abschied schenkte er mir eine Gebetskette, seitdem ist sie ein „Talisman“ auf meiner Reise.

Gibt es ein Fazit?

Stöckl: Ich lernte, dass wahrer Glaube von innen kommt, unserem Herzen entspringt, und dass die Religionen uns helfen, diesen Glauben zu formen. Im Iran hat sich dieser Eindruck verfestigt, weil dort das Regime den Glauben zu einem Instrument der sozialen Kontrolle gemacht hat. Ich fuhr durch atemberaubende Landschaften, lernte die großartige Kultur der Perser kennen und wurde in jeder Stadt willkommen geheißen. Diese Art von Gastfreundschaft hatte ich bisher noch nicht erlebt. Im Gespräch mit den Menschen ging es meistens um die Politik. Viele bekundeten ihre Abscheu gegen die Religion und gläubige Muslime ihre Distanz zur Regierung.

Du hast mir von Safoura erzählt, eine sehr schöne und zugleich sehr traurige Geschichte…

Foto: © Sascha Stöckl

Stöckl: Safoura lernte ich in Esfahan kennen, nachdem ich die Wüste durchquert hatte. Sie ist Tänzerin, und tanzen ist verboten im Iran. Da es keine Tanzschulen gibt, hat sie sich das Tanzen selber beigebracht und von einem Leben außerhalb des Iran geträumt. Wir verbrachten viel Zeit miteinander und verliebten uns. Vor mir lagen allerdings noch einige Ziele: Dubai, Oman und Indien. So verließ ich sie, mit dem Versprechen wieder zu kommen.

Hast du das eingelöst?

Stöckl: Schneller als erwartet: Als sie mir mitteilte, dass sie ein Flugticket in die Türkei besitze, ließ ich mein Fahrrad in Shiraz, fuhr mit der Eisenbahn nach Esfahan und flog mit ihr in die Türkei. Wir ließen uns in Fethiye nieder. Ich fing an, mein Buch zu schreiben, und Safoura entdeckte die Welt – und Freiheiten, von denen sie bislang nur träumen konnte. Aber etwa einen Monat später wurden im Iran mehrere Tänzer verhaftet, und Safouras Ruf wurde ihr zum Verhängnis. Am Telefon berichtete ihre Mutter, dass die Polizei nach ihr gefragt hat und dass eine Rückkehr nun ausgeschlossen sei. Sie musste sich am Telefon von ihrer Familie verabschieden, sie konnte nicht mehr in ihre Heimat zurück. Ein Gefühl, das ich oder viele andere Menschen in Europa nicht nachvollziehen können.

Und deine iranische Freundin?

Stöckl: Die Heimat ist für mich meine Wurzel, und die bleibt, egal wo es uns hin verschlägt, unersetzlich. Auch ich begriff dies. Auch wenn die Welt mein Zuhause ist, so bleibt Moers am Niederrhein meine Heimat, meine Wurzel eben. Die Menschen hatten lange kein bestimmtes Wort für „Blau“, es war im 12. Jahrhundert die Kirche mit ihren Malern, die sozusagen auf blau machten (lacht). Erst im Kontrast zur grünen Wiese bemerkst du, dass der Himmel blau ist. So ging es mir mit der Heimat. Der Wert der Heimat wurde mir erst bewusst, je weiter ich mich von ihr entfernte. Ich kann jederzeit in meine Heimat zurückkehren, Safoura nicht.

Du konntest Safoura nicht die Heimat ersetzen?

Foto: © Sascha Stöckl

Stöckl: Für Safoura ist die erste Zeit ein unglaublich schwerer Lebensabschnitt gewesen. Weitab von allem Vertrauten stand sie vor einer ungewissen Zukunft und war schlicht überfordert. Ich versprach ihr, sie nicht alleine zu lassen, und nun machten wir uns zusammen auf die Suche nach dem Glück und der Freiheit. Aber wir tragen Teile unserer Heimat in unseren Herzen, als hätten wir beide einen Magneten in uns, der uns immer wieder dahin zurückzieht. Auch wenn das jetzt nur in der Erinnerung geschieht. Die Freunde gehören doch auch zur Heimat, sie wird mein ewiger Ankerpunkt bleiben, und ich bin froh, mit ihnen in Verbindung zu bleiben. Heimat ist die Beziehung zu den Menschen, mit denen man viel unternommen hat, die erlebten Geschichten mit ihnen, die in uns lebendig sind.

Dann ist für dich Heimat zwar auch, aber doch mehr als ein bestimmter Fleck auf der Landkarte?

Stöckl: Ja, weil sie Beziehung ist, die einen geformt hat, sei es die Beziehung zu den Eltern und die zu den Freundinnen und Freunden. Wir wurzeln doch in Beziehungen, in alten und neuen, und schmerzlich ist es, wenn du Beziehungen – Beispiel Safoura – auf unabsehbare Zeit nicht mehr pflegen kannst. Und Heimat muss man auch in sich selbst finden, zum Beispiel in einem Glauben, der einem Orientierung gibt, egal wo man unterwegs ist. Die Menschen, mit denen ich auf meiner Reise sprach, wollten im Wesentlichen dasselbe: in Frieden leben.

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