Vor der Heimat kommt das Wohnen Eine investitionsgetriebene Stadtentwicklung entwürdigt immer mehr Menschen

Für Hochglanz-Zeitschriften mit 100.000er-Auflage ist Wohnen ein Kultur- und Sinnversprechen. Doch ausufernde Mieten haben längst einem Spaltkeil in unserer Gesellschaft getrieben. Wohnen, gar gut wohnen, ist für die einen ein Statussymbol, für die anderen ein Wunschtraum.

Vorab: Aus sicherer Warte heraus über die Empfindungen von Menschen zu schreiben, die sich in existenzieller Notlage befinden, ist spekulativ, im schlimmsten Fall voyeuristisch. Also sei vom anderen, dem eigenen, sicheren Ende her angefangen. Was bedeutet es zu wohnen?

Wohnen-Können bedeutet vor allem eines: Schutz im elementarsten Sinne – vor Kälte, Hitze, Nässe, Feinden. Im weiteren Sinne bedeutet Wohnen, sich vom öffentlichen Leben abgrenzen, die Tür hinter sich zumachen zu können, ein Zuhause haben. Wohnen können ist also existentiell und deshalb wird es kein Zufall sein, dass Art. 13 GG für den Schutz der Wohnung ein Wort verwendet, das unter die Haut geht: Die Wohnung ist „unverletzlich“. Im Umkehrschluss heißt das: Nicht wohnen zu können, bedeutet permanente Verletzbarkeit. So betrachtet ist Wohnen elementar, nicht Heimat.

„Ohne Wohnung kommt man um“

Niemand hat das so illusionslos zum Ausdruck gebracht wie Vilém Flusser, 1920 in Prag geborener und 1939 über mehrere Stationen vor den Nazis geflohener jüdischer Medienphilosoph: „Man hält die Heimat für den relativ permanenten, die Wohnung für den auswechselbaren, übersiedelbaren Standort. Das Gegenteil ist richtig: Man kann die Heimat auswechseln, oder keine haben, aber man muß immer, gleichgültig wo, wohnen. Die Pariser Clochards wohnen unter Brücken, die Zigeuner in Karawanen, die brasilianischen Landarbeiter in Hütten, und so entsetzlich es klingen mag, man wohnte in Auschwitz. Denn ohne Wohnung kommt man buchstäblich um… Ohne Wohnung, ohne Schutz von Gewöhnlichem und Gewohntem ist alles, was ankommt, Geräusch, nichts ist Information, und in einer informationslosen Welt, im Chaos, kann man weder fühlen noch denken noch handeln.“

Auch die Qualität der biblischen Schöpfung besteht zuallererst darin, Ordnung in das „Tohuwabohu“, das Chaos der Welt gebracht zu haben, eine Ordnung, die unabdingbare Voraussetzung für menschliches Leben ist. So wird deutlich, welche existenzielle Vorrangstellung das Wohnen-Können hat: Wohnen ist unmittelbar mit dem Menschsein verbunden, unabhängig von der lebensweltlichen Ausgestaltung dessen, wie Wohnen konkret aussieht. Alles Andere kommt danach.

Im Englischen steht „to live“ synonym für „leben“ und „wohnen“. Auch Heidegger und nach ihm vor allem Bollnow verweisen auf die etymologische Tiefenschärfe des Wortes „wohnen“: sich behagen, in Frieden kommen, geborgen sein. Wohnen-Können schafft nicht nur äußere Sicherheit, sondern vermittelt Lebensgewissheit. Wir wissen, wie sehr Menschen aus dem Gleichgewicht geraten können, wenn in ihre Wohnung eingebrochen worden ist. Ein neues Schloss tut es dann nicht. Wir wissen auch um die existentiale, generationsübergreifende Auswirkung von Fluchterfahrung. Diese Kategorien sind es deshalb, in denen die Situation wohnungslos lebender Menschen erfasst werden muss.

Obdachlosigkeit führt in die Vereinzelung

„Kein Dach über dem Leben“, so betitelt Richard Brox die Erzählung seines Lebens in Obdachlosigkeit, abweichend vom allgemeinen Sprachgebrauch. Für Wohnende machen das „Dach über dem Kopf“ und die eigenen vier Wände die Qualität aus, wenn sie die Tür hinter sich schließen können. Für obdachlos auf der Straße lebende Menschen ist es dagegen noch etwas Anderes, nämlich der fehlende Schutz des Lebens. Die Erfahrung dieses paradigmatischen Qualitätsunterschieds spiegelt sich in vielen Selbstzeugnissen obdachlos auf der Straße lebender Menschen. Es ist die Erfahrung, den elementaren Gewalten weitestgehend schutzlos ausgesetzt zu sein: Wetter, Diebstahl, Vertreibung und immer wieder Gewalt. Hinzu kommt Vereinzelung, obdachlos ist jede*r für sich allein. Die – meist journalistisch überarbeiteten – Berichte, wie die von Richard Brox oder Dominik Bloh (Unter Palmen aus Stahl), dokumentieren deshalb neben vielem Anderen vor allem dieses: Das Leben ohne Obdach ist nicht nur immer wieder gefährlich, sondern vor allem dauerhaft gefährdet.

Zu diesem Ergebnis kommt auch eine von der Alice Salomon Hochschule Berlin und dem „Ev. Bundesfachverband Existenzsicherung und Teilhabe“ durchgeführte systematische Lebenslagenuntersuchung wohnungsloser Menschen. Diese Untersuchung korreliert objektiv erfassbare Lebensumstände und subjektive Einschätzung. Die wichtigste Erkenntnis mag einerseits nicht überraschen: Der Verlust existenzieller Sicherheit hat im Vergleich zu allen anderen mit der Wohnungslosigkeit verbundenen, meist prekären Verhältnissen den größten Einfluss auf ihre gesamte Lebenslage. Aber andererseits wird darin genau das deutlich, was im politischen Umgang mit dem Thema und den betroffenen Menschen faktisch nicht priorisiert wird: Gegen Wohnungslosigkeit hilft zuallererst nur Wohnen. Alles Andere – gefragt wurde nach Gesundheit, materieller Situation, Erwerbsarbeit, sozialen Netzwerken und Partizipation – hat große Bedeutung, kann aber die vorrangige Not, wohnungslos zu leben, in keiner Weise kompensieren. „Menschen können sich erst dann Gedanken darüber machen, was sonst in ihrem Leben schiefläuft, wenn sie eine sichere Wohnung haben“, bilanziert deshalb die Leiterin der Studie Prof. Susanne Gerull. Wie sehr das zutrifft, wird auch hieran deutlich: Diejenigen unter den Befragten, die im Rahmen der angebotenen Hilfen nicht mehr obdachlos leben, schauen, auch wenn sie noch keine eigene Wohnung haben, deutlich zuversichtlicher auf ihre Zukunft als diejenigen, die auf der Straße oder mit Notübernachtungen leben.

„Wohnunfähigkeit“ – Diskriminierung statt Diagnose

Es gibt ein Wort, das geeignet ist, diese hier beschriebene Realität in ihr Gegenteil zu verkehren: „Wohnunfähigkeit“. Hinter diesem Begriff verbirgt sich die Einschätzung, dass Menschen in einer meist multikomplexen Problemlage erst ihr Leben auf die Reihe kriegen müssen, um wieder eine eigene Wohnung bekommen zu können. Dagegen verweist Juha Kaakinen, Leiter einer finnischen Hilfsorganisation, wie auch Gerull auf gegenteilige Erfahrungen: „Wir machen das andersherum. Wir geben Obdachlosen eine dauerhafte Wohnung, damit sie ihr übriges Leben wieder in den Griff kriegen können.“ Auf diesem Weg, zu dem notwendigerweise professionelle Unterstützungsangebote für die neuen Mieter gehören, ist es Finnland gelungen, die Straßenobdachlosigkeit weitestgehend zu überwinden. Stephan Nagel, Referent in der Wohnungslosenhilfe des Diakonischen Werkes, schlussfolgert daraus, dass der Begriff der „Wohnunfähigkeit“ nicht als Realitätsbeschreibung, sondern als Deutungsmuster funktioniert. Auf diese Weise wird den Wohnungslosen die Verantwortung für die Verbesserung ihrer Lage zugeschrieben, strukturelle Mängel in der Wohnraumversorgung geraten aus dem Blick.

Straßenmagazine – Berichte aus der gesellschaftlichen Randzone

Es ist ein unschätzbares Verdienst der Straßenmagazine wie Hinz+Kunzt (Hamburg), Motz (Berlin) und mittlerweile vielen anderen, dass sie es geschafft haben, dieser Tendenz entgegenzuwirken und wohnungslos gewordenen und vor allem auf der Straße lebenden Menschen Gesicht und Stimme zu verleihen, sie dadurch in der Gesellschaft zu halten. Denn gerade weil Wohnungslosigkeit so existenzielle Bedeutung hat, korreliert sie mit gesellschaftlichem Ausschluss. Wer keine eigene Adresse hat, ist in fast allem, was bürgerliches Leben ausmacht, schnell draußen vor. Das beginnt mit schwieriger Erreichbarkeit im behördlichen Kontakt und endet noch lange nicht bei all dem, was es heißt, keinen Ort für Körperpflege zu haben. Die Ausgrenzung folgt der Wohnungslosigkeit meist auf dem Fuße, und sie hat in Deutschland eine lange Tradition. Vor allem: In dieser Situation ist jede*r zunächst für sich allein. Straßenmagazine bieten dagegen so etwas an wie Beheimatung in einer gesellschaftlichen Außenposition. Beheimatung bedeutet hier, sich selbst erhobenen Hauptes als Teil dieser Gesellschaft wahrnehmen zu können und beim eigenen Namen genannt zu werden. Gleiches geschieht überall dort, wo wohnungslos gewordene Menschen die Möglichkeit erhalten, eine Wohnung zu beziehen und bei Bedarf die Unterstützung zu bekommen, die es bei diesem Schritt je und je noch braucht.

Wohnen-Können ist Menschenrecht.

In diesem Sinne ist Wohnen-Können Menschenrecht. Es findet sich in der „Charta der wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Menschenrechte“, in der „Europäische Sozialcharta“ und in einigen Verfassungen deutscher Bundesländer, im Grundgesetz – anders als noch in der Weimarer Verfassung oder der der DDR – selbst aber nicht. Gleichwohl gab es nach 1945 einen breiten gesellschaftlichen Konsens darüber, dass die Wohnraumversorgung in den Bereich der staatlich abzusichernden Daseinsvorsorge fällt. Und sie deshalb dem unübersehbaren Spiel der Kräfte und dem Belieben des Einzelnen nicht einfach überlassen werden darf.

Wohnungslosigkeit als Kollateralschaden neoliberaler Politik

Doch der in den 1970er Jahre einsetzende neoliberale Transformationsdruck richtete die Wohnungspolitik in nahezu allen Bereichen neu aus. Besonders das Auslaufen der steuerlichen Begünstigung gemeinnütziger Wohnungsunternehmen anlässlich der Korruptionsaffäre um die „Neue Heimat“ Ende der 1980er Jahre verstärkte diese Entwicklung. Die Konsequenzen stellten sich schnell ein: Private Wohnungsunternehmen verloren das wirtschaftliche Interesse am Erhalt eines preisgebundenen Wohnungsbestandes. Weil Grund und Boden objektiv begrenzte Güter sind, führte das insbesondere in den Metropolregionen zu einem preistreibenden Handel mit diesem Gut. Hinzu kam: Allein die Kommunen haben innerhalb weniger Jahre über 1 Mio. Wohnungen an private, oft börsenorientierte Investoren verkauft.

Und dann geht es abschließend in einem weiteren Sinne doch um Heimat: Die Politik darf Wohnungslosigkeit als Kollateralschaden investorengetriebener Stadtentwicklung nicht in Kauf nehmen. Wenn sich die soziale Gerechtigkeit einer Gesellschaft, so die Journalistin Laura Weissmüller, nirgendwo so sehr studieren lässt wie in ihrer gebauten Umwelt, dann muss sich die Gesellschaft die öffentliche Verfügung über Grund und Boden zurückerobern. Das wäre aktiver Grundrechtsschutz.

 

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