Mit Herz und Mund und Händen Zum Verhältnis von Diakonie und Verkündigung

Der christliche Glaube kommt nicht nur in Worten zum Ausdruck, sondern auch im Dienst am Mitmenschen. Doch wie kann das Zusammenspiel von tätiger Nächstenliebe und Verkündigung in den diakonischen Institutionen unserer Zeit gelingen?

Die Diakonie ist grundlegende „Wesens- und Lebensäußerung“ der Kirche – so heißt es in der Grundordnung der Evangelischen Kirche in Deutschland. Neben dem Gottesdienst (leiturgía), dem Zeugnis (martyría) und der Gemeinschaft (koinonía) gehört der Dienst am Menschen (diakonía) zu den so genannten Grundvollzügen der Kirche. Der Dienst am Nächsten gilt also als zentral im Selbstverständnis von Christinnen und Christen – und ist eine Form der Kommunikation des Evangeliums.

Solidarität und Barmherzigkeit als biblische Werte

Die Wurzeln dazu finden sich in der biblischen Verkündigung. Für die jüdische Tradition gehören das Eintreten für Recht und Gerechtigkeit und das soziale Handeln zum Kern des Glaubens. Die Unterstützung von Armen und Hungernden, von Fremden, von Gefangenen und Entrechteten wird begründet durch Israels eigenem Erleben von Gefangenschaft und Flucht, Unterdrückung und Exodus. Dies findet Niederschlag in der religiös-sozialen Gesetzgebung des Tanach, in den Psalmen und in der starken Sozialkritik der Propheten, die Ungerechtigkeiten als Ausdruck einer zutiefst gestörten Gottesbeziehung verstanden haben und anprangerten.

Aus dem Neuen Testament haben sich das Gleichnis des barmherzigen Samariters und das Doppelgebot der Liebe als zentrale Texte für die gelebte Nächstenliebe erwiesen. Es ist aber auch Jesu eigene Zuwendung zu den Ausgestoßenen und sein heilendes Handeln, an dem sich Christinnen und Christen in seiner Nachfolge orientieren. Er selbst nennt, was zu den „Werken der Barmherzigkeit“ zählt: den Hungrigen zu essen zu geben, den Durstigen zu trinken, Fremde und Obdachlose aufzunehmen, Nackte zu kleiden, Kranke und Gefangene zu besuchen.

Die diakonische Kontrastgesellschaft

Für die urchristlichen Gemeinden ist der Zusammenhang von Gottesdienst und einem Leben in fürsorgender Gemeinschaft konstitutiv und findet Ausdruck im Sammeln einer Kollekte für Bedürftige, dem Teilen von Besitz und der Sorge für Arme, Kranke und Gefangene. Das gemeinsame Gebet und Brotbrechen mündet ins regelmäßige soziale Engagement. Umgekehrt gilt: Ohne das soziale Engagement verliert das Zeugnis des gemeinsamen Gebets und Brotbrechens an Glaubwürdigkeit und Stimmigkeit. Verkündigung und Diakonie sind also von Beginn an untrennbar verbunden; Diakonie ist, wie es heute heißt, „Gottesdienst mit den Händen“.

In der Antike werden die Unterstützung notleidender Menschen und der respektvolle Umgang mit ihren Toten geradezu als Identitätsmerkmal für christliche Gemeinschaften wahrgenommen, die sich damit von der umgebenden Gesellschaft abheben. Der Begriff der diakonía, des Dienstes, verweist auf das sich entwickelnde und stets herausgeforderte Selbstverständnis einer Kirche, deren „Option für die Armen“ immer auch mit der Kritik an geltenden Herrschaftsverhältnissen einhergeht. Die Idee einer solchen „diakonischen Kontrastgesellschaft“ findet ihren Widerhall bis heute auch im Verständnis von Diakonie als Ort und Akteurin öffentlicher Theologie – und in der Debatte darum, welches Menschen- und Gesellschaftsbild, welche Ethik sie aus ihrer christlichen Botschaft in den Diskurs einer pluralen und säkularen Gesellschaft einbringt.

Wandel des Diakonie-Verständnisses

In der Reformation erfährt der enge Zusammenhang von Diakonie und Verkündigung dann eine Veränderung: Durch die Betonung der „Rechtfertigung allein aus Gnade“ und die Ablehnung von Werkgerechtigkeit erscheint diakonisches Handeln zunehmend sekundär zum (kognitiv verstandenen) Glauben. Diakonie gilt als Antwort auf das befreiende Handeln Gottes; Hilfe für die Notleidenden wird aber zunehmend (auch) Aufgabe der Obrigkeit, und die Trennung zwischen Kirche und ihrer Diakonie vertieft sich.

Im 19. Jahrhundert, unter dem Eindruck der Verarmung großer Teile der Bevölkerung durch die Industrialisierung einerseits und der Entkirchlichung und Säkularisierung andererseits, kommt es zu einer bis heute prägenden Erneuerung der diakonischen Landschaft. Eine Stimme dafür ist die von Johann Hinrich Wichern (1808–1881), der maßgeblich zur Gründung des „Centralausschusses für die Innere Mission“ beiträgt, dem Vorläufer der heutigen Diakonie. Von der Inneren Mission erhoffen er und viele andere sich lebendige Impulse für eine Wiederbelebung der Kirche und der Evangelisation der ganzen Gesellschaft.

Wichern sieht in der erschütternden wirtschaftlichen Not von Menschen auch eine innere, geistliche Dimension, die auf die helfende Tat genauso angewiesen ist wie auf das „versöhnende und erlösende Wort für die Welt“. Innere Mission, Verkündigung und Diakonie sind für Wichern aufeinander bezogen: das „Bekenntnis des Glaubens“ findet für ihn in der „Tat der rettenden Liebe“ statt: „Wie der ganze Christus im lebendigen Gottesworte sich offenbart, so muss er auch in den Gottestaten sich bezeugen.“ Wichern kritisiert eine Kirche, die zu sehr auf den Selbsterhalt fokussiert, und die stattdessen ihren Auftrag in der Evangelisation und im Dienst auch außerhalb von Kirche zu begreifen hat.

Missionarische Diakonie heute

Diesen Zusammenhang von Verkündigung und Diakonie greifen Konzepte einer „missionarischen Diakonie“ auch heute auf. Angesichts von Mitgliederschwund und des Bedeutungsverlusts von Kirche in Kultur, Politik und Gesellschaft rückt das Potenzial der Diakonie wieder verstärkt in den Blick – sowohl in ihrer sozialen Gestaltungs- und Prägekraft als auch als mögliche Kontaktfläche mit dem christlichen Glauben. Auch dort, wo nur noch wenige Kirchenmitglieder sind, gibt es häufig eine große Anzahl diakonischer Einrichtungen und Dienste, die in unmittelbarer Nähe zum Alltag auch für kirchenferne Menschen eine wichtige Rolle spielen – und die von ihnen eben als „Kirche“ wahrgenommen werden.

Die zunehmende Positionierung als „Kirche und Diakonie mit und für andere“ – also Distanzierte und Menschen außerhalb der Kirche – bringt, so die Hoffnung, christliche Überzeugungen in einer zunehmend säkularen Gesellschaft (weiterhin) ins Gespräch und zur Geltung. Kooperationen mit anderen Akteuren aus Staat, Kommune und Zivilgesellschaft werden dabei verstanden als Zeugnis für Jesus Christus und als Teilhabe an der missio dei, der rettenden Absicht Gottes für die Welt – beispielhaft und stellvertretend, „mit Herz und Mund und Händen“.

Zwischen wirtschaftlichen Zwängen und spiritueller Orientierung

Dieses zeugnishafte, „verkündigungshaltige“ Verständnis von diakonischem Handeln steht allerdings in Reibung mit wirtschaftlichen und sozialpolitischen Realitäten des Wohlfahrtsstaats und seinen Strukturen. Wettbewerbs- und Finanzdruck, Fachkräftemangel, managementorientierte Logiken, Spezialisierung und Professionalisierung, weitreichende Reformen vor allem im Pflegebereich: Das alles scheint wegzuführen von dem, was Diakonie „eigentlich“ ausmacht. Hinzu kommt die Entkoppelung diakonischer Tätigkeit vom Alltag vieler Kirchengemeinden. Die Öffnung der Diakonie auch für Mitarbeitende, die konfessionslos sind oder einer anderen Religion angehören, wirkt auf manche Beobachter als Aufgabe der eigenen christlichen Erkennbarkeit. Das Wort von der „Selbstsäkularisierung der Diakonie“ macht die Runde; die Frage nach dem „evangelischen Profil“, dem „Proprium“ der Diakonie, das sie von anderen Unternehmen unterscheidet, wird gestellt.

Das Wort von der „Selbstsäkularisierung der Diakonie“ macht die Runde.

In diese – vermeintliche oder tatsächliche – „Lücke“ tritt die Wiederentdeckung evangelisch-ökumenischer Spiritualität in ihrer Bedeutung für Kultur und Identität der Diakonie. Darunter fallen Andachten und Gottesdienste im diakonischen Alltag, der Sitzungsbeginn mit der Tageslosung, Kontemplation, Oasentage oder der Werks-Chor. Dazu gehört aber auch die Ausbildung spiritueller Kompetenz in religiös pluralen und diversifizierten Kontexten, wie sie sich beispielsweise im Bereich der Spiritual Care geschieht, oder die Reflexion geistlichen Leitens.

Spiritualität im Raum der Diakonie kann eingesetzt werden wie ein zusätzliches „Add-on“, das den laufenden Betrieb nicht stört, aber immerhin Verweismöglichkeit bietet und auch „klassische“ Verkündigungsangebote bereithält. Sie kann aber auch begriffen werden als Ankerpunkt und „Herzschlag“ täglichen sozialen Engagements in herausfordernden Situationen an den Schmerzzonen des Lebens. So verstanden, kann diakonische Spiritualität die Aufmerksamkeit für die persönliche oder gemeinschaftliche Erfahrung schärfen, die aus solchen Momenten erwachsen kann, und bietet darin – behutsame – Hermeneutik der Gegenwart Gottes.

Ort religiöser Erfahrung

Denn zu Recht ist die Diakonie beschrieben worden als ein „prägnanter Ort religiöser Erfahrung“ mit einem ihr eigenen Geltungsbereich und der ihr eigenen Lebendigkeit, die wiederum andere Bereiche von Christentum innerhalb und außerhalb von Kirche bereichern oder sogar transformieren kann. Dieser Zugang setzt den Fokus weniger auf die Ableitung des diakonischen Auftrags und Handelns aus einem Verkündigungsauftrag – sondern erlaubt den Weg der Auslegung von Lebenserfahrung, wie sie sich im diakonischen Raum auch momenthaft ereignet: Als Deutung von Angenommensein, von Hoffnung und so etwas wie Heilung an den Grenzen der eigenen Fragilität.

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