Bleibt alles anders? Verkündigung im digitalen Raum

Spätestens als Ostern 2020 viele Kirchen für die Öffentlichkeit geschlossen bleiben mussten, sind digitale Formen von Kirche in das Bewusstsein vieler Menschen getreten. Was bedeutet das für den kirchlichen Auftrag? Verändert sich dadurch, was Kirche zu sagen hat oder wie sie es tut?

Vor dem Altar steht ein Pfarrer. Es sieht so aus, als wäre er ganz allein in der Kirche. Die vor ihm platzierte Kamera kann ihn nicht richtig einfangen, denn das Bild ist geprägt von dem gleißenden bunten Licht, das durch die Kirchenfenster hinter ihm fällt. Er ist schlecht zu verstehen, der Ton hallt und klingt blechern. Er selbst wirkt unsicher und ein wenig übermotiviert zugleich.

Diese oder ähnliche Bilder haben die Passionszeit 2020 für viele geprägt. Mit COVID-19 war ein neues Virus in Deutschland und der Welt angekommen, ansteckend und potenziell tödlich, und wir sind für eine Weile auf Abstand gegangen, auch in der Kirche. Und gleichzeitig wollte niemand auf Abstand gehen. Auch nicht die Kirche, deren Aufgabe es ist, zu den Menschen zu gehen und für die Menschen da zu sein. Auch schon früher waren es Medien, die zwischen körperlicher Distanz und emotionaler Nähe vermitteln konnten: Briefe, Telefonate und eben auch digitale Medien. Für viele, die den Schritt in die digitale Verkündigung gewagt haben, war das Neuland. Zu Liturgie und Predigt, Musik und Kirchdienst kamen nun lauter technische Dinge, die bedacht, geplant und bedient werden mussten: Ton und Bild, Licht und nicht zuletzt eine stabile Internetleitung. Die Inszenierung der Verkündigung für das Medium, das sie übermittelt, war an vielen Stellen eine Überforderung für die Gemeinden. Oder andersherum gesagt: vielleicht auch zu viel erwartet. Und so prägt das Bild des mit viel Herzblut aber wenig technischer Expertise produzierten Gottesdienstes die Erinnerung an diese Zeit und möglicherweise das Bild von digitaler Verkündigung.

Studien: digitale Verkündigung soll weitergehen

Im späten Frühjahr 2020 gaben 75% der Befragten an, weiterhin Online-Gottesdienste besuchen zu wollen, auch wenn es keine coronabedingten Einschränkungen mehr gibt. Dies war eines der Ergebnisse einer digitalen Befragung von Besucher*innen von Online-Gottesdiensten (Rezipiententypologie evangelischer Online-Gottesdienstbesucher*innen während und nach der Corona-Krise (ReTeOG)). Ein wichtiger Faktor bei der Auswahl des Online-Gottesdienstes war laut Studie der Ortsbezug, also das Sehen von bekannten Gesichtern und (Kirchen-)Räumen und das Aufgreifen von regionalen Traditionen und Themen. Die technische Professionalität oder die mediale Inszenierung spielte für die meisten Befragten eine untergeordnete Rolle. Auch bei der Befragung der anbietenden Kirchengemeinden lässt sich 2020 eine große Lust an der Weiterführung digitaler Angebote feststellen. In der midi-Studie „Digitale Verkündigungsformate während der Corona-Krise“ geben 72% der Kirchengemeinden an, ihre digitalen Angebote weiterführen zu wollen. In der 2021 durchgeführten Vergleichsstudie teilten immerhin 83,3% der befragten Gemeinden mit, dass sie auch nach dem ersten Lockdown digitale Verkündigungsformate angeboten haben. Auch die Motivation der in ReTeOG2 befragten Online-Gottesdienstteilnehmer*innen, weiterhin an Online-Gottesdiensten teilzunehmen, wuchs leicht auf 79% an.

Die kürzlich veröffentlichten Einblicke in die Studie „Churches in Times of Corona 2“ lassen jedoch befürchten, dass sich dieser Trend in digitalen Verkündigungsformaten nicht fortsetzt oder fortsetzen lässt. Führte während der ersten Befragung im Sommer 2020 noch ein großer Teil der befragten kirchlichen Mitarbeitenden einen Zugewinn an Kreativität in der eigenen Arbeit und keinen insgesamt höheren Arbeitsaufwand an, so wurde der Arbeitsaufwand im Sommer 2022 von über zwei Drittel der Befragten als etwas oder deutlich größer bezeichnet. Vor dem Hintergrund tendenziell sinkender Ressourcen kann dies als Warnsignal wahrgenommen werden.

Neue Zielgruppen oder alte Bekannte?

Schaut man aktuell auf die Formen digitaler Verkündigung, lässt sich eine große Bandbreite finden. Neben den gefilmten und gestreamten Gottesdiensten aus der eigenen Kirche gibt es spezielle Gottesdienste, die für eine Online-Gemeinde angeboten werden: als Livestream auf YouTube, Facebook oder Instagram oder als Videokonferenz. Auch kürzere Formen lassen sich inzwischen auf allen Social Media Plattformen oder als Podcast finden: Von kurzen geistlichen Impulsen bis zu liturgischen Andachtsformen. Vieles davon gab es schon vor dem Frühjahr 2020. Die Nutzung digitaler Medien für die Verkündigung hat jedoch durch die in der Pandemie gemachten Erfahrungen neue Zielgruppen erreicht. Allerdings sind diese neuen Zielgruppen andererseits „alte Bekannte“, also Gläubige, die nun neue Formen für sich entdeckt haben. Die geheime Hoffnung, dass Kirche mit digitalen Formaten Menschen erreicht, die bislang keinen oder kaum einen Bezug zu Kirche und christlichem Glauben hatten, lässt sich so nicht nachweisen.

Ist also die ganze Anstrengung umsonst und Kirche sollte Ressourcen sparen und so weitermachen wie vor 2020, auf etablierte Formen setzen und sich die Mühe der Entwicklung neuer digitaler Verkündigungsformen sparen?

Mehr Gottesdienst für unterschiedliche Zielgruppen

Schaut man sich die Vielzahl der inzwischen vorhandenen Verkündigungsformate an, dann stellt man vor allem fest, dass sie häufig einzelnen Zielgruppen gerechter werden als der Sonntagsgottesdienst „für alle“ in der Kirche vor Ort. Auch wenn diejenigen, die mit digitalen Verkündigungsformaten erreicht werden, in der Regel schon einen Bezug zur Kirche hatten, so werden durch neue Formen weitere Kontaktpunkte geschaffen. Dabei gibt es für unterschiedliche Zielgruppen unterschiedliche Formate:

Der gestreamte oder aufgezeichnete Sonntagsgottesdienst ist vor allem für Menschen attraktiv, die es nicht in die Kirche schaffen. Die Gründe dafür sind vielfältig: körperliche oder psychische Einschränkungen, Schichtarbeit oder Familienzeit am Sonntagvormittag zum Beispiel. Mit ihnen werden Menschen erreicht, für die die bekannten Verkündigungsformen attraktiv sind, der Weg in die Kirche am Sonntagmorgen aber nicht. Digitale Medien ermöglichen hier eine Teilhabe auf anderem Weg. Die ReTeOG-Studie stellt fest: durch die vereinfachten Zugänge hat sich bei den Befragten die individuelle Gottesdienstteilnahme leicht erhöht.

Kurze Verkündigungsimpulse auf Social Media erreichen hingegen andere Personenkreise. Eine aktuell von midi durchgeführte Studie versucht, mehr über diese Zielgruppen herauszufinden (midi ist die Evangelische Arbeitsstelle für missionarische Kirchenentwicklung und diakonische Profilbildung). Es deutet sich an, dass über die Verkündigung auf Social Media deutlich jüngere Menschen erreicht werden, als sie gewöhnlich in den Sonntagsgottesdiensten zu finden sind. Damit das gelingt, müssen hier die Angebote in die Sprach- und Bildwelt des jeweiligen Mediums passen. Häufig sind sie damit weit weg von bekannten liturgischen Formen. Es sind Impulse aus dem Leben: Dankgebete, christliche Deutungsangebote in schwierigen Situationen, Hoffnungsmomente aus dem eigenen Leben prägen dabei die Verkündigung stärker als das Kirchenjahr und die Perikopen-Ordnung.

Online-Gemeinde für im Netz beheimatete Menschen

Eine weitere Form der digitalen Verkündigung sind Online-Gemeinden. Bei ihnen finden Menschen Verkündigungsangebote, die nicht den lokalen Bezug suchen. Dafür kann es verschiede Gründe geben. Häufig jedoch handelt es sich dabei um Menschen, die bei ihrer Ortsgemeinde kein für sie passendes Angebot gefunden haben oder sich dort nicht wohl und willkommen fühlen.

Digitale Formen der Verkündigung sind damit in vielerlei Hinsicht zeitgemäß. Sie schaffen unterschiedliche Zugänge zur christlichen Botschaft und sind damit ein wichtiges Angebot in einer fluider werdenden Gesellschaft. Wie in anderen Bereichen des Lebens können Menschen das für sie und ihr Leben am besten passende Angebot auswählen. Mit unterschiedlichen Formen, Sprachen und Inszenierungen schafft digitale Verkündigung Zugänge für Menschen mit unterschiedlichen Bedürfnissen: traditionell oder modern, liturgisch oder alltäglich, liberal oder konservativ, beteiligend oder anonym.

Der Weg in den digitalen Raum hat dabei vor allem sichtbar gemacht, wie vielfältig Verkündigung schon immer war. Die digitalen Räume werden dabei in unterschiedlichster Weise genutzt: mal werden die Medien dienstbar gemacht, um etablierte Formen in andere Räume zu tragen, mal lassen sich die Angebote auf den speziellen Raum des Mediums ein und schaffen dafür passende Formate.

Die Aufgabe für die Zukunft ist es, die Vielfalt der sichtbar gewordenen Formen wahrzunehmen und wertzuschätzen. Der nicht speziell inszenierte lokale Gottesdienst mit 30 Zuschauer*innen hat dabei die gleiche Berechtigung, wie Social Media Posts mit tausenden Likes. Denn nur mit dieser Vielfalt werden wir den vielfältigen Bedürfnissen der Menschen gerecht. Der digitale Raum fordert uns heraus, über den eigenen Kirchturm hinaus zu denken, denn aus einer einzelnen Kirchengemeinde heraus können vielfältige Zugänge zur frohen Botschaft geschaffen werden. Gemeinsam aber kann es gelingen, diese Vielfalt beizubehalten und auszubauen und situations- und lebensgerechte Zugänge zur Verkündigung zu bieten. Es bleibt alles anders.

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