Woran scheitern Ehen? Aus der Praxis eines Paartherapeuten

Fast 40 Prozent aller Ehen in Deutschland werden geschieden, die meisten nach einer längeren Phase des „allmählichen Zerfalls“. Zu den Gründen befragen wir den Paartherapeuten und katholischen Theologen Hans Jellouschek, den der SPIEGEL einmal „Deutschlands Beziehungspapst“ nannte.

Herr Dr. Jellouschek, Sie blicken zurück auf fast 40 Jahre Erfahrung als Paartherapeut. Was sind aus Ihrer Sicht die häufigsten Gründe, aus denen Ehen scheitern?

Es gibt viele, viele Gründe, an denen sich Konflikte unter Ehepartnern aufhängen. Meine Erfahrung ist aber, dass in diesen ganz unterschiedlichen Lebenssituationen trotzdem immer ähnliche Grundmuster zu finden sind. Denn wir Menschen haben zwei Grundbedürfnisse: Das eine ist das Bedürfnis nach Bindung – ohne Bindung kann kein Kind sich entwickeln, aber auch als Erwachsene suchen wir immer wieder nach Bindung. Das andere Grundbedürfnis, das im Laufe des Aufwachsens neu hinzu kommt, ist das Bedürfnis nach Autonomie.

Beide Grundbedürfnisse sind bei den Menschen unterschiedlich ausgeprägt: Der eine hat mehr Bedürfnis nach Autonomie, der andere mehr Bedürfnis nach Bindung. Grundsätzlich sucht man in einer Paarbeziehung aber immer beides: die sichere Bindung an den anderen und zugleich die Autonomie, in der man eigene Freiräume behält. Deshalb geht es in einer Ehe auch nicht ohne Kompromisse: Derjenige, der mehr Wert auf Autonomie legt, muss darauf achten, dass er sich immer wieder auch auf Bindung einlässt; und derjenige, der mehr auf der Seite der Bindung ist, muss immer wieder schauen, dass er Freiräume gibt und zugleich auch seine individuellen Interessen entwickelt. Wenn dieser Ausgleich nicht gelingt, geht die Beziehung über kurz oder lang in die Brüche.

Halten dann Ehen besser, in denen für beide Partner die Bindung im Vordergrund steht?

Wenn für beide Partner nur die Bindung wichtig ist, dann wird das keine glückliche Beziehung. Denn das Grundbedürfnis der Autonomie, das bei beiden auch irgendwo vorhanden ist, kommt dann zwangsläufig zu kurz. Daraus entstehen oft Ehen, in denen sich die Partner schon bald nur noch langweilen, weil die je eigene Welt fehlt, aus der die Partner auch wieder neue Impulse in die Beziehung einbringen können.

Nein, es braucht die Balance zwischen Autonomie und Bindung. Und diese Balance ist dynamisch, d.h. sie ändert sich immer wieder, z.B. nach Lebenssituationen oder nach Lebensphasen. Oft gibt es zwischen den Partnern eine gewisse Polarität. Und wenn einer die eine Seite überbetont, droht die Gefahr, dass der andere immer stärker auf die andere Seite „rutscht“. Dann kann aus der eigentlich positiven Polarität eine gefährliche Polarisierung werden. Entscheidend ist, dass beide Partner die Sache wieder in eine Balance bringen und sich auf einen Weg einigen, bei dem jeder seine aktuellen Bedürfnisse einbringen kann.

Haben sich die typischen Probleme in der Zeit Ihrer Tätigkeit als Paartherapeut verändert?

Ich habe mit der Arbeit als Paartherapeut in einer Phase begonnen, in der von den Paaren viel mehr Wert auf ihre persönliche Liebesbeziehung gelegt wurde. Früher ging es mehr um den Zusammenhalt der Familie, dass Kinder auf die Welt kamen, die man großzog und denen es gut gehen sollte. Das ist natürlich immer noch ein Thema, aber das Wichtigste ist heutzutage, dass die Beziehung auf der ganz persönlichen Ebene zwischen Mann und Frau stimmt. Das heißt, wenn es da zu kriseln anfängt, ist die Existenz der Familie gefährdet, ganz egal wie schwierig eine Trennung in finanzieller Hinsicht sein mag, und auch wenn Kinder da sind. Die Grundlage für eine Beziehung ist heutzutage nicht mehr gegeben, wenn sich die Liebe des Paares verabschiedet hat. Insofern hat die Liebesbeziehung der Partner massiv an Bedeutung gewonnen.

Dass die Liebe im Mittelpunkt steht, klingt ja zunächst einmal ganz positiv. Im Schlusskapitel Ihres Buches Die Kunst als Paar zu leben, kritisieren Sie aber, die Liebe sei inzwischen für viele zu einer „Ersatzreligion“ geworden.

Diese Formulierung meint, dass viele Menschen sich von der Paarbeziehung das absolute Glück versprechen, mit dem sie ihr Lebensziel erreichen. Das ist aber eine totale Überforderung der menschlichen Liebe. Ich werde nie eine vollkommene Erfüllung meines Glücksbedürfnisses in einer Ehe finden. Denn zur Ehe gehört ja immer auch, dass man Kompromisse schließen muss. Damit eine Ehe gelingen kann, braucht es immer auch viel Verzicht. Es setzt voraus, dass ich zufrieden sein kann mit meinem Leben, ohne den Anspruch zu haben, das Glück schlechthin in meiner Beziehung zu finden. Es wird immer wieder Phasen geben, in denen es  reichen muss, dass wir gut miteinander leben können und dass es hin und wieder schöne Momente gibt.

Die meisten jungen Ehen scheitern, weil die Liebesbeziehung überfordert wird.

Das heißt, wenn Ihnen jemand sagt, dass er oder sie 30 Jahre glücklich verheiratet ist, dann glauben Sie das nicht?

Doch, ich würde das schon glauben. Ich würde aber auch glauben, dass er oder sie eine realistische Auffassung von Liebe hat. Denn die Verliebtheit des Anfangs vergeht. Danach kommen Zeiten, in denen die emotionale Nähe kein Selbstläufer mehr ist, sondern immer wieder neu erarbeitet werden muss: Wenn die Ehe in die Jahre kommt, treibt es einen nicht mehr so zueinander. Man gewöhnt sich an den anderen, der andere ist nicht mehr so attraktiv, wie er es in der ersten Zeit der Verliebtheit war. Das heißt, man muss dann bewusst auf den anderen zugehen, auch wenn es einen nicht mehr zu ihm oder zu ihr hinzieht. Die bewusste Pflege der Körperlichkeit ist dann etwas sehr Wichtiges. Man muss sich Zeiten und Räume für die Zweisamkeit reservieren, angefangen vom persönlichen Gespräch über schöne gemeinsame Unternehmungen bis hin zu Zärtlichkeit, Körperlichkeit, Sexualität.

Woran lässt sich festmachen, ob eine Ehe stabil oder gefährdet ist?

In einem – nicht ganz ernst gemeinten –  „Ehe-Stabilitäts-Test“ (siehe Literaturangabe am Schluss des Interviews, S. 211f.) habe ich einmal die folgenden acht Faktoren zusammengestellt:

  1. Anfängliche Verliebtheit
  2. Übereinstimmungen/Gemeinsamkeiten
  3. Eigenständigkeit
  4. Balance von Geben und Nehmen
  5. Sich in den anderen hineinversetzen Können
  6. Partnerschaftliches Verhandeln
  7. Gutes Kooperieren
  8. Gemeinsame Projekte, Werte und Ziele.

Wenn die Partner auf diesen Gebieten überwiegend gute Werte haben, steht ihre Beziehung in der Regel auf einem stabilen Grund. Es kann aber zugegebenermaßen auch sein, dass die Partner auf vielen dieser Gebiete niedrige Werte haben und trotzdem glücklich sind.

Zum Punkt „Geben und Nehmen“ gehört auch das Verzeihen. Hat eine Ehe mit Partnern christlichen Glaubens, in dem die Bereitschaft zum Verzeihen ja zentral ist, deshalb vielleicht bessere Chancen? Statistisch gesehen, werden kirchlich geschlossene Ehen ja deutlich seltener geschieden.

Kennzeichen einer kirchlichen Eheschließung ist zunächst einmal die besondere Verbindlichkeit, die die Partner damit eingehen. Denn im Hintergrund steht hier immer noch das Gebot der Unauflöslichkeit. Auch in der evangelischen Kirche, wo die Ehe formal nicht unauflöslich ist, gehören Treue und Zum-Anderen-Stehen auf jeden Fall dazu. Das legt für Menschen, die aus dieser Tradition kommen, die Latte für eine Scheidung natürlich höher.

Gleichzeitig kann für zwei christlich geprägte Partner der Glaube eine wichtige Gemeinsamkeit sein, die ihre Bindung fördert. Wenn beide miteinander den Glauben vollziehen, z.B. im Gebet oder der Meditation oder im gemeinsamen Gottesdienstbesuch, dann ist das nicht nur irgendetwas Gemeinsames, sondern es hat eine transzendente Dimension und verbindet deshalb besonders.

Das Thema Schuld spielt in jeder Paarbeziehung eine wichtige Rolle.

Und schließlich spielt das Thema Schuld in jeder Paarbeziehung eine wichtige Rolle – entweder dass einer von beiden sich schuldig fühlt, oder dass einer Vorwürfe gegen den anderen hat, die er nicht los wird. Deshalb ist das wechselseitige Verzeihen in jeder Paarbeziehung essentiell und ein sehr häufiges Thema auch in der Paartherapie.

Und wie bringen Sie Paare in der Therapie dazu, einander zu verzeihen?

Zunächst ist es wichtig, dass beide das Handeln des jeweils anderen, das sie als Schuld erleben, verstehen. Sie müssen verstehen, was da los war, dass sie sich selber so verhalten haben, und was beim anderen los war, dass er sich so verhalten hat.

Verzeihen ist dann etwas, was nur derjenige tun kann, der verletzt worden ist. Der andere kann nur um Verzeihung bitten, indem er z.B. sagt: „Ich höre von dir, dass ich dich verletzt habe, und ich erkenne das an. Ich wollte das zwar nicht, und es hat Gründe gegeben, dass ich so gehandelt habe. Aber du sagst mir: Ich habe dich damit verletzt. Und das tut mir leid.“ Wenn die Bitte um Verzeihung aufrichtig geäußert wird, kann es dem, der verletzt worden ist, leichter fallen, zu verzeihen.

Verzeihen ist eigentlich nichts anderes als ein sehr nüchternes „auf Ansprüche verzichten“ – und zwar auf den Anspruch, dass der andere für seine Tat Genugtuung leisten muss. Das kann er nämlich nicht. Dabei ist dieses Verhältnis natürlich oft wechselseitig, und um es aufzulösen muss man es auseinander nehmen: Es muss dann einmal der eine dem anderen verzeihen und dann der andere dem einen. Der Weg dahin ist zugegebenermaßen oft ein langer und mühseliger Prozess. Für den Abschluss eines solchen Prozesses habe ich ein kleines Versöhnungsritual entwickelt, bei dem beide Partner voreinander sitzen. Nachdem der eine um Verzeihung gebeten hat, antwortet der andere: „Ich glaube dir, dass es dir Leid tut. Und ich möchte dir jetzt sagen: Ich verzeihe dir das. Und ich verspreche dir: Ich werde es in Zukunft in unserer Beziehung nicht mehr zum Thema machen.“

Das Interview führte Bertram Salzmann.

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Hans Jellouschek: Wie Partnerschaft gelingt – Spielregeln der Liebe. Beziehungskrisen sind Entwicklungschancen. Freiburg, 10. Aufl., 2014.

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