Zum kulturellen Zusammenspiel von Musik und Tod

Musik weist ein überraschend enges Verhältnis zum Tod auf. Kaum ein anderes Medium kann Trauer und Schmerz angesichts des Todes ähnlich intensiv Ausdruck verleihen. Aber nicht nur aus diesem Grund spielt Musik beim Abschied von Verstorbenen eine besonders wichtige Rolle.

Die Musik wird als künstlerische Ausdrucksform schon so lange verwendet, dass es kaum möglich ist, ihren Entstehungszeitpunkt näher einzukreisen. Und noch schwieriger ist es zu klären, warum Menschen sich irgendwann mit dem Umstand zu beschäftigen begannen, dass sie selbst – durch ihre Körper, später durch ›Prothesen‹, also Instrumente – Töne zu erzeugen vermögen, die über die unvermeidbaren Geräusche des Lebensalltags hinausgehen.

Längst ist Musik funktional geworden, d.h. sie dient bestimmten Zwecken. Man kann sich mit Musik entspannen oder im Gegenteil aufputschen, man kann sie als Hintergrundtapete verwenden (z.B. bei einer Autofahrt), man kann sich selbst musikalisch betätigen oder die Musik als Selbstzweck konsumieren – etwa als Publikum im Konzertsaal. Musik wird überdies für zeremonielle Anlässe verwendet, etwa im Gottesdienst, bei Sportfesten, bei institutionellen Veranstaltungen und an vielen weiteren Orten. Und die Musik weist darüber hinaus ein überraschend enges Verhältnis zum Tod auf.

Der Tod als Rahmen

Genau genommen, steht nicht der Tod dem Leben gegenüber, sondern das Nicht-Leben. Der Tod ist nur der kurze Augenblick, der das Leben beendet und die Phase des Nicht-mehr-Lebens einläutet. Entsprechende Rituale thematisieren auch nicht den Tod einer Person, sondern vor allem ihr soziales Nicht-mehr-Dasein. Es sind Rituale des Übergangs und Rituale des Verlusts, die inszeniert werden, wenn Menschen sterben. Im zentraleuropäischen Raum sind vor allem Bestattungsfeiern, Gedenkgottesdienste und dergleichen mehr bekannt. Dass das Zusammenkommen von Verwandten und anderen Hinterbliebenen im Todesfall einer geliebten Person von Musik begleitet wird, ist, wenn auch nicht verpflichtend, so doch sehr verbreitet. Im kirchlichen Setting bietet sich etwa eine Untermalung mit Orgelmusik an; alternativ ist auch die Solo-Violine beliebt, die jedenfalls leichter transportierbar ist, wenn es um abweichende Orte für die Trauerfeier geht. Die Musik, die in diesen Zusammenhängen ertönt, ist üblicherweise von einem elegischen Charakter geprägt. Sie kündet vom Abschied, mithin aber auch von metaphysischen Vorstellungen über ein postmortales Weiterleben. Dominant ist aber traditionell der düstere Grundton, der sich in Molltonarten und in langsamen Tempi (wie Adagio oder Lento) ausdrückt.

Dieses über Jahrhunderte hinweg etablierte kulturelle Muster weist mittlerweile allerdings Risse auf. Seit einigen Dekaden nimmt die Pluralisierung des gesellschaftlichen Lebens immer stärkeren Einfluss auf etablierte Ritualformen und verlangt auch ihnen eine Vervielfältigung der Ausdrucksgestalten und der Rahmenrichtlinien ab. Die damit verbundenen Transformationsprozesse erfassen, neben vielen weiteren Feldern, nämlich sämtliche Bereiche des ritualisierten Sterbe-, Todes- und Trauerkontextes; und eben auch die Musik. Mittlerweile ist es nicht mehr unüblich, dass beispielsweise anstelle von Bach-Chorälen zeitgenössische Popmusik oder die Filmmusik der „Star Wars“-Reihe gespielt wird, wenn Hinterbliebene in einem zeremoniellen Rahmen Abschied nehmen. Auch Schlager, Rap oder andere Genres werden hierfür genutzt. Die Musik kommt dabei häufig vom Band, d.h. sie wird nicht im Ritualkontext erzeugt, sondern in ihn eingearbeitet; es ist somit evident, dass sie für andere Gelegenheiten entstanden ist und nunmehr einem alternativen Sinnzusammenhang zugeordnet wird.

Auf diese Weise wird der Blick vom Ende des Lebens weg und hin zu den Vorlieben der verstorbenen Person zu Lebzeiten gerichtet – denn die Musik, die hier ertönt, ist üblicherweise jene Musik, die sie selbst schätzte und gerne anhörte. Somit sind auch die Stimmungsparameter andere. Auch wenn die ›Umwidmung‹ solcher Musik in den Trauerkontext häufig weiterhin Stücke mit einer traurigen Grundstimmung betrifft, sind auch überraschende (und für manchen: deplatzierte) Konstellationen möglich. Es gibt Menschen, die sich wünschen, dass für ihren Abschieds Heavy Metal gespielt wird; auch ein Lied wie der AC/DC-Song „Highway to Hell“ ist schon verlangt worden. Angesichts der Tradition der Trauermusik ist eine solche Wahl im Text und im Sound gewöhnungsbedürftig.

Dem/der Toten werden letzte klangvolle Töne mit auf den Weg gegeben.

Gemeinhin werden Sterben, Tod und Trauer eher mit Stille denn mit Tönen assoziiert. An den typischen Sterbeorten – nach wie vor liegt hier das Krankenhaus statistisch vorne, gefolgt von Alten- und Pflegeheimen sowie, mit aufholender Tendenz, von Hospizen – ist das Abspielen von Musik für bzw. durch die Sterbenden vermutlich eher unüblich. Erst recht gilt dies für die Momente nach dem Ableben. Die erwähnte Pluralisierung sorgt zwar auch für Innovationen: Auf Wunsch dürfte es wohl an vielen Orten möglich sein, einen bedeutungsvollen Song oder eine besonders geliebte Klavieretüde noch einmal abzuspielen. Das Nicht-mehr-Leben ist ohnehin die Zeit der ewigen Ruhe, der als Kontrast noch letzte klangvolle Töne mit auf den Weg gegeben werden dürfen.

Der Tod als Thema

Das Beziehungsgeflecht von Tod und Musik kennt aber noch weitere Schattierungen. Neben Musik, die das Lebensende begleitet, gibt es auch Musik, die es darstellt. Seit Jahrhunderten haben Komponistinnen und Komponisten sich mit dem Problem der Darstellung des Todes mit klangästhetischen Mitteln befasst. Dies wurzelt zum einen in der Funktion der Musik als Unterstreichung beispielsweise von Gottesdiensten und anderen liturgischen Veranstaltungen, zu denen in der katholischen Tradition auch die Totenmesse gehört – das Requiem. Der lateinische Text dieser Missa pro Defunctis ist seit der ersten Vertonung im 15. Jahrhundert bis heute hundertfach neu komponiert worden. Darin wird der Umstand des Versterbens und seiner religiösen Bewandtnis in verschiedenen Schattierungen ausgemalt, die üblicherweise von einem klagenden Tonfall geprägt sind, je nach Version aber auch schnellere und lautere Passagen beinhaltet (so etwa die Dies Irae-Sequenz, die den Tag des Jüngsten Gerichts umschreibt). Das berühmteste Requiem stammt von Wolfgang Amadeus Mozart, der es 1791 für einen vermögenden Auftraggeber schrieb, darüber aber selbst verstarb – es blieb Fragment und wurde von einem Kompositionsschüler vollendet. Auch die entsprechenden Werke von Giuseppe Verdi (1874) und von Johannes Brahms (der als Protestant 1869 eine eigene Textauswahl aus Bibelstellen der vorgegebenen Reihenfolge vorzog) sind weltberühmt.

Im Vergleich zum Übergang der Wiener Klassik in die Romantik, die sich in diesen Jahrzehnten vollzog, sind neuere Requiems aus deutlich anderem Holz geschnitzt. Dies entspricht einer veränderten künstlerischen Betrachtungsweise vom Tod insgesamt. Krieg, Umweltzerstörung und politische Facetten werden heutzutage stärker und offenkundiger in die Kunst und somit auch in die Musik inkorporiert. Requiems, die traditionell Gesang und Orchester zusammenbrachten, können nur mehr instrumental sein oder ungewöhnliche instrumentelle Kombinationen aufweisen. Sie sind überdies oftmals weniger ›monumental‹, d.h. in den Proportionen knapper. Für ungeübte Ohren hören sich solche avancierten Werke – wie etwa die von György Ligeti (1965), Alfred Schnittke (1975) oder Hans Werner Henze (1993) – recht avantgardistisch an. Der Verstörungseffekt wiederum ist ein gewolltes Element, um den Einfall des Todes in das Leben in einer betont anderen Musiksprache zu beschreiben.

Hunderte von musikalischen Werken sind dem Tod an sich gewidmet.

Während das Requiem der musikalischen Auseinandersetzung mit dem Tod ein etabliertes kulturelles Grundgerüst verleiht, muss bei Kompositionen, die den Tod ›frei‹ behandeln, eine passende Form gewählt werden. So schwierig dies auf den ersten Blick zu sein scheint: tatsächlich gibt es alleine im Bereich der klassischen Musik Todeskompositionen für alle denkbaren Genres – von anderen Stilrichtungen ganz zu schweigen. Hunderte von Werken, manche beliebt, andere so gut wie unbekannt, greifen den Tod an sich auf – sie sind also nicht dem Gedenken einer bestimmten Person gewidmet oder angesichts eines Katastrophenfalls entstanden, sondern als Werke zu verstehen, die das Lebensende in Musik zu fassen versuchen.

Diese Stücke divergieren auch stilistisch sehr stark; die herkömmliche Elegie ist gut vertreten, aber keineswegs die einzige gängige Form. Während der Trauermarsch noch ein recht verbreiteter musikalischer Typus ist, sind beispielsweise Symphonien, die ein dem Tod gewidmetes Programm aufweisen, selten – zumindest auf den ersten Blick. Ein Werk wie Josef Suks 1906 entstandene 2. Symphonie (c-Moll op.27, „Asrael“) stellt ein entsprechendes Beispiel dar, das hin und wieder im Konzertsaal anzutreffen ist. Es ist, wie viele andere der hier angesprochenen Kompositionen, das Resultat persönlicher Trauererfahrungen des Komponisten, die sich eben auch künstlerisch niederschlagen können.

Musik und Tod ist folglich, wie Musik und Malerei, Musik und Bildhauerei, Musik und Literatur usw., eine Zusammenstellung, die auf einer scheinbar paradoxen Kombination beruht: Der Schmerz des bald konkreten, bald abstrakten Verlustes kann kreative Energie freisetzen.

Zum Weiterlesen

Schreiben Sie einen Kommentar