Ein Friedhof, der nicht für Tote gedacht ist Der neue „Campus Vivorum“ in Süßen

Im baden-württembergischen Süßen hat die Initiative „Raum für Trauer“ nach eigenen Angaben „ein Reallabor zur Friedhofsentwicklung“ errichtet. Auf dem 6000 Quadratmeter großen Gelände werden Vorschläge gezeigt, wie auf einem Friedhof der Zukunft Trauerarbeit am Grab gelingen kann.

Warum nicht am Grab des Verstorbenen tanzen? Manchem würde das pietätlos erscheinen. Nicht jedoch dem Trendforscher Matthias Horx. Der Gründer des Zukunftsinstituts mit Sitz in Frankfurt am Main und Wien ist einer der Vordenker für eine neue Friedhofskultur. Er engagiert sich in der Initiative „Raum für Trauer“, die sich seit Jahren theoretisch mit einer neuen Friedhofskultur beschäftigt. Jetzt ist sie jedoch einen Schritt weiter gegangen und hat im baden-württembergischen Süßen das Experimentierfeld „Campus Vivorum“ geschaffen mit konkreten Beispielen, wie eine Friedhofslandschaft aussehen könnte, die den Trauernden gerecht wird.

Weltweit erstes Experimentierfeld zur Friedhofsentwicklung

Damit gibt es nun in Deutschland zwei besondere Orte für alle, die sich mit den Ritualen um Trauer und Tod anhand von konkreten Beispielen intensiver auseinandersetzen. Da ist zum einen das Museum für Sepulkralkultur in Kassel. Es gilt europaweit als „die einzige unabhängige, ausschließlich kulturellen und wissenschaftlichen Maßstäben verpflichtete Institution“. Ergänzt wird die Sammlung aus mehreren Jahrhunderten nun durch das nach Angaben der Initiatoren „weltweit erste Experimentierfeld zur Friedhofsentwicklung“ in Süßen auf dem Gelände der Kunstgießerei Strassacker, für die Friedhofs- und Grabgestaltung eines der wesentlichen Geschäftsfelder ist.

Die Verbindung zwischen beiden Einrichtungen stellt die Arbeitsgemeinschaft Friedhof und Denkmal in Kassel her. Sie ist der ideelle Träger der Initiative „Raum für Trauer“. Diese will einen Friedhof, der nicht für Tote gedacht ist. Das scheint auf den ersten Blick ein Widerspruch in sich zu sein. Doch bei näherem Hinsehen macht dies durchaus Sinn. Denn die Begräbnisstätte soll ein belebter Ort werden, den man nicht möglichst meidet, sondern an dem die Hinterbliebenen Platz für ihre Trauer finden. Dafür soll der neu gedachte Friedhof Resonanzboden werden.

Trauer braucht einen Ort

Zentraler Gedanke dabei ist, dass die Trauer einen Ort braucht. Dies steht im Gegensatz zum aktuellen Trend bei Bestattungen. Horx weist darauf hin, dass mit dem Einzug der Gräberreihen in normierten Formen ab den 70er Jahren des vergangenen Jahrhunderts das langsame Sterben des Friedhofs als sozialer Ort der Trauer begann. „Heute wählen nur noch 25 Prozent der Deutschen die klassische Körperbestattung, fast 20 Prozent der Hinterbliebenen entscheiden sich zurzeit, ihre Angehörigen außerhalb der klassischen Friedhöfe begraben zu lassen“, erklärt der Trendforscher.

Kritisch sieht Horx auch neue Formen der Bestattungen, etwa im Wald oder auf hoher See. Ebenso Erlebnisbestattungen, bei denen die Asche auf einer Wiese, in einem Bach oder in den Bergen verstreut werde. „Die riesige Idee der Entsorgung, die unsere Gesellschaft in so vielen Dimensionen durchzieht, ist hier auf traurige Weise Wirklichkeit geworden“, sagt der Forscher.

Auch der Psychologe Thomas Schnelzer ist gegen „die namen- und zeichenlose Beisetzung im Rahmen einer anonymen Bestattung, aber auch halbanonyme Grabstätten gefährden eine gelingende Trauerarbeit; sowohl die Kennzeichnung des Beisetzungsortes als auch die Personifizierung des Verstorbenen sind elementar wichtig“, betont er.

Alternative zu normierten Gräberfeldern

Andererseits bieten für die Gründer der Initiative „Raum für Trauer“ die durch zahlreiche Vorschriften und normierte Gräberfelder gekennzeichneten Friedhöfe ebenso wenig Raum für die individuelle Trauer. Günter Czasny, Sprecher der Initiative, betont, dass es jenseits obsoleter Friedhofsgestaltung darum gehe, den Menschen ein breites Angebot an Grabformen zur Verfügung zu stellen, die als Trauerorte funktionieren.

Stelenweg auf dem Campus Vivorum in Süssen
Stelen zum Durchschreiten als Teil der Trauerarbeit (Foto: Rainer Lang)

Auch Baden-Württembergs Bauministerin Nicole Razavi steht diesem Ansatz positiv gegenüber. Für die CDU-Politikerin gilt es, „das Bedürfnis nach individueller Trauer nicht zu vernachlässigen“. Und Edith Strassacker, Geschäftsführerin der Kunstgießerei, betont, „dass „besonders mein Vater Werner Strassacker uns stets sehr dafür sensibilisiert hat, nicht den Friedhof, sondern vor allem die Menschen, die ihn besuchen, in den Mittelpunkt zu stellen“. Dies sei ein zentraler Impuls für die Entstehung der Initiative „Raum für Trauer“ gewesen. In dem Weg aus der Anonymität sehen auch die beteiligten Kirchen die Chance, den Menschen in ihrer Trauer nahe zu sein. So bringen auch die Vertreterinnen und Vertreter der katholischen Diözese Rottenburg-Stuttgart und der württembergischen evangelischen Landeskirche ihre Vorstellungen in die Initiative mit ein, die den Friedhof „als kommunales Erfolgsprojekt der Zukunft“ sieht.

Der Friedhof als Begegnungsstätte

Auch nach Ansicht von Süßens Bürgermeister Marc Kesting soll der Friedhof wieder in die Mitte der Stadt kommen. „Die Menschen sollen sich dort begegnen“, sagt er. Das sei bisher anders. Jeder ist für sich allein auf dem Friedhof. Dieser soll zur Begegnungsstätte werden. Es solle Rückzugsorte geben, wo auch Kinder trauern können, fügt Kesting hinzu. Laut Edith Strassacker sind in einem sehr langen Engagement von Architekten, Psychologen, Trauerbegleitern, Kirchenvertretern, Wissenschaftlern, Friedhofsplanern, Künstlern, Steinmetzen und Friedhofsgärtnern Vorschläge entstanden, wie diese Räume des Abschiednehmens, Begegnens und Erinnerns aussehen könnten.

Dies können Besucherinnen und Besucher des „Campus Vivorum“ auf dem 6000 Quadratmeter großen Gelände selbst in Augenschein nehmen. Angaben der Initiative zeigen „das mit Unterstützung des Büros für Landschaftsarchitektur „Karres en Brands“ aus dem niederländischen Hilversum geplante und realisierte Experimentierfeld, wie es gelingt, Flächen auf bestehenden oder neu gestalteten Friedhöfen für attraktive Abschieds- und Lebensräume zu generieren“. Sie weisen darauf hin, dass „nur Beisetzungsorte, welche die Ansprüche der und die Unterschiedlichkeit von Trauernden ernst nehmen“ für ein gelingendes Abschiednehmen sorgen können.

Dafür wurden besondere Formen geschaffen: Sitzgelegenheiten erhöhen die Aufenthaltsqualität. Eine Wippe, ein kleiner Tisch und andere Elemente dienen als Spielgeräte für Kinder und Erwachsene. Ein großer Tisch aus Stein mit einem bewegten Wasserspiel lädt zu Gesprächen ein. Installationen von schlichten Stelen aus Holz sollen Sehnsucht spürbar und Zuversicht erfahrbar machen. Bäume bieten Schutz. Ein Garten der Sinne soll den natürlichen Zyklus von Wachstum und Vergehen darstellen. Ruhe und Geborgenheit vermittelt die Bepflanzung. Und es gilt, die unterschiedlichen Religionen auf Friedhöfen zu integrieren.

Weitere Informationen auch zu den Publikationen über das Konzept und eine gelingende Trauerarbeit unter www.raum-fuer-trauer.de.

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