„Herr, lehre doch mich, dass es ein Ende mit mir haben muss.“ Die heilsame Einsicht in meine Endlichkeit

„Lehre uns bedenken, dass wir sterben müssen, auf dass wir klug werden.“ (Ps 90,12). Mir die verstörende Unausweichlichkeit des Todes klarzumachen, lässt mich nach den Worten des Psalmisten klug werden – eine Klugheit, die mir offenbar nicht angeboren ist, sondern die ich mir erringen muss.

Dass alles vergeht und jedes Leben mit dem Tod endet, ist eine so alltägliche wie erschreckende Erkenntnis. Nicht nur meine Umwelt ist der Vergänglichkeit unterworfen, sondern auch mein eigenes Leben und das meiner Lieben wird enden. Angesichts meiner Sterblichkeit klug zu werden – das bedeutet auszuhalten, dass mein Leben mit allem, was es ausmacht, vorläufig ist. Dass alles, was ich leiste und bewege, Fragment bleibt, und dass mir im letzten die Kontrolle über das Leben (und über das Sterben) entzogen ist.

Das heilsame Gedenken an den Tod

Die Ahnung meiner eigenen Endlichkeit kann zu einem Erschrecken führen und einer Angst, aus der heraus die Sterblichkeit verdrängt wird, oder auch zu einer Sorglosigkeit, die die Bibel zitiert: „Lasst uns essen und trinken, denn morgen sind wir tot“ (Jes 5,11; 56,12; 1 Kor 15,32): Lasst uns so weitermachen wie bisher, es kommt nicht darauf an, weil unser Leben morgen (oder übermorgen) ohnehin vorbei ist.

Für die Beter*innen der Psalmen werden Menschen im Bedenken ihrer Sterblichkeit klug, wenn sie sich von Gott „lehren“ lassen (Ps 39,5; 90,12), dass ihr Leben endlich ist – wenn sie bei Gott in die Schule gehen und Gott als ihre*n Lehrer*in anerkennen. Was einfach klingt, ist es nicht, denn es zieht sich als wesentliche Erkenntnis durch Bibel und Theologiegeschichte, dass sich Menschen danach sehnen, zu „sein wie Gott und [zu] wissen, was gut und böse ist“ (Gen 3,5) – und Gott damit nicht als ihre*n Lehrer*in anerkennen. Im Willen, so zu sein wie Gott, zu richten, zu schaffen und Neues hervorzubringen, Leben und Sterben in der eigenen Hand und unter der eigenen Kontrolle zu haben – darin liegt eine menschliche Grundgefährdung.

Mir meine Menschlichkeit gefallen lassen, meine Endlichkeit aushalten, in der Vorläufigkeit leben – das alles lehrt mich eine demütige und dankbare Grundhaltung. Es lehrt mich, meine Grenzen anzuerkennen und zu achten und innerhalb dieser Grenzen zu leben – im Horizont von Gottes Barmherzigkeit und in einer Welt, die ich wieder verlassen werde. Ich bin ein Gast auf Erden (EG 529). Ich muss nicht an meiner Unsterblichkeit arbeiten – eine befreiende und entlastende Erkenntnis. Womöglich liegt hierin die Klugheit im Sinne der Psalmen und ein gelebtes Memento mori: ich reihe mich ein in das geschöpfliche Sein und will nicht mehr sein, als ich wirklich bin.

Biblisch-theologische Erzählstränge zum Tod

Der Tod in den biblischen Schriften ist nicht eindeutig bestimmt, er kommt vielmehr in unterschiedlichen Gestalten. Es gibt ihn als den willkommenen Gast: Menschen dürfen „alt und lebenssatt“ sterben (Gen 25,8; 35,29; 1 Chr 23,1; 2 Chr 24,15; Hi 42,17 u.ö.). Sie hatten ein nicht immer leichtes und nicht nur schönes, aber ein reiches Leben und dürfen nun am Ende das Leben in Gottes Hand zurückgeben, von dem sie es auch bekommen haben. Ein solcher Tod ist gnädiges Geschenk – bis heute.

Daneben gibt es den überraschenden, erschreckenden, „unzeitigen“ Tod, der einen Menschen in der vermeintlichen Mitte des Lebens ereilt und aus dem Leben reißt. So ein Tod hat eine brutale und zerstörerische, aufwühlende Seite. Ein berührendes Zeugnis dafür finde ich in der Totenklage Davids, als er vom Tod des Königs Saul und seines Sohnes Jonathan erfährt (2 Sam 1,17-27). Eine solche Erfahrung mit einem „unzeitigen“ Tod kann auch, wie bei Hiob, zu einer Todessehnsucht führen, weil der Tod vom Schmerz erlösen würde: „Warum gibt Gott das Licht dem Mühseligen und das Leben den betrübten Herzen – die auf den Tod warten, und er kommt nicht, und nach ihm suchen mehr als nach Schätzen…?“ (Hi 3,20f.).

Die Bibel kennt den Tod, der ins Leben einbricht, ohne dass der Leib stirbt.

Biblische Theologie kennt schließlich den Tod, der in ein Leben einbricht, ohne dass der Leib stirbt: gemeint ist der Tod in Form von Scheiter- und Verlusterfahrungen, Verzweiflung und Einsamkeit oder auch der „soziale Tod“: „Mein Leben ist nahe dem Tode. Ich bin denen gleich geachtet, die in die Grube fahren, ich bin wie ein Mann, der keine Kraft mehr hat. Ich liege unter den Toten verlassen, wie die Erschlagenen, die im Grabe liegen, derer du nicht mehr gedenkst und die von deiner Hand geschieden sind. Du hast mich hinunter in die Grube gelegt, in die Finsternis und in die Tiefe.“ (Ps 88,4-7). Verzweiflung wird nicht nur als Todesnähe, sondern als Erfahrung mit dem Tod gedeutet, als Aufenthalt in der „Grube“ oder der Unterwelt, die von Gott getrennt ist, in der Gott nicht erfahren und auch nicht gelobt wird. „Denn im Tode gedenkt man deiner nicht; wer wird dir bei den Toten danken?“ (Ps 6,6).

Der beschriebenen Mehrdeutigkeit des Todes entspricht ein Bedeutungsreichtum beim Begriff „Leben“, das in biblischer Theologie über eine bloße biologische Existenz hinausgeht und „Leben“ im Sinne eines erfüllten, beglückenden Lebens in der Beziehung zu Gott meint: So findet es sich schon in der Urgeschichte (Gen 2,7), als Gott dem Menschen den Lebensatem einhaucht (ähnlich auch Ps 104,29f.): Wo Gott seinen Lebensatem gibt, werden Menschen lebendig. Wo er den Atem wegnimmt, vergehen sie. Darauf geht die Beschreibung von Gottes heiliger Geistkraft als vivificans (lebendig machend) etwa im Glaubensbekenntnis Nicäno-Constantinopolitanum zurück.

Prominent wird der Begriff des Lebens (griech: ζωή) in den johanneischen Schriften gebraucht (vgl. Joh 1,4; 3,15f.; 5,24; 11,25; 14,6; 1 Joh 1,2; 3,14 u.ö.). Er verweist auf das Leben, das Christus in seiner Gemeinschaft den Menschen schenkt und bringt. Der Weg zum Leben, den Gott kundtut (Ps 16,11), führt nicht (nur) in ein Leben im Sinne der biologischen Existenz, sondern in ein Leben im erfahrenen Glück der Gottesnähe (Ps 73,3), also der Beziehung zu Gott. Tod in diesem Sinne ist Beziehungsende, Leben demgegenüber Beziehungserfahrung.

Trost angesichts des Todes

Welchen Trost kann der Glaube für mich bereithalten? Der Heidelberger Katechismus (1563) formuliert eingangs: „Was ist dein einziger Trost im Leben und im Sterben? Dass ich mit Leib und Seele im Leben und im Sterben nicht mir, sondern meinem getreuen Heiland Jesus Christus gehöre.“ Gehörte ich mir, so könnte über mich nur gesagt werden, dass es „ein Ende mit mir haben muss“ (Ps 39,5). Christliche Theologie aber stellt mich in die Beziehung zu Jesus Christus und verbindet mich mit seinem Geschick.

Diese Verbindung von mir und Christus vollzieht sich in der Taufe. Nach biblisch-reformatorischer Theologie geht jeder Mensch, auch wenn er seinen geschöpflichen Tod noch vor sich hat, auf das Leben zu, das mit dem Leben, Sterben und Auferstehen Jesu Christi auch für ihn*sie gilt. „Denn unser keiner lebt sich selber, und keiner stirbt sich selber. Leben wir, so leben wir dem Herrn; sterben wir, so sterben wir dem Herrn. Darum: wir leben oder sterben, so sind wir des Herrn“ (Röm 14,7f). Im Sakrament der Taufe liegt für den Christenmenschen die Bewegung durch den Tod ins Leben, weil sich in der Taufe die Wirklichkeiten von meinem Tod und Leben mit dem Tod und Leben Jesu Christi verschränken. In meinem Leben und meinem Sterben ist Gott gegenwärtig, weil Christus, in dem Gott war (2 Kor 5,19), Leben und Tod geteilt hat. Der Tod ist kein Ort mehr, an dem Gott nicht mehr gelobt und seiner nicht mehr gedacht wird, denn auch die Gottverlassenheit wird vom gekreuzigten Christus erlitten und geteilt (Ps 22,2). Auch wenn mir weder die Berührung mit dem Tod mitten im Leben noch mein leiblicher Tod am Ende meines Lebens erspart bleiben werden – seit dem Tod Jesu von Nazareth ist Gott im Tod gegenwärtig – und der Tod endlich/besiegbar, weil die Auferstehung Christi die Gewalt des Todes gebrochen hat.

Die Taufe nimmt mich in das Sterben und Leben Christi so mit hinein, dass ich mir nicht mehr selbst gehöre. So formuliert es der Heidelberger Katechismus, und Paulus schreibt in 2 Kor 5,14f.: „Denn die Liebe Christi drängt uns, zumal wir überzeugt sind, dass, wenn einer für alle gestorben ist, so sind sie alle gestorben. Und er ist darum für alle gestorben, damit, die da leben, hinfort nicht sich selbst leben, sondern dem, der für sie gestorben und auferstanden ist“. Mit der Verbindung „unseres“ Todes mit dem Tod Jesu Christi (EG 184,3) blickt der Glaube über das Vorfindliche hinaus in Gottes Wirklichkeit. „Leben“ verwirklicht sich unter der Bedrohung und im Angesicht des „Todes“ und wird mir in seinem Wesentlichen geschenkt, ohne dass ich es durch meine eigene Leistung verdiene.

Meine geschöpfliche Endlichkeit, die zu bedenken mich „klug“ macht, bedeutet im vertrauenden Glauben an „meinen Herrn Jesus Christus“, dass ich mich im Leben und Sterben ganz und gar darauf verlassen darf, dass ich mein Leben nicht selbst garantieren muss, sondern in einer Heilsgeschichte stehe, die für mich und die ganze Welt gilt. Der Tod ist groß, und wir sind die Seinen – Gottes Liebe aber und das Leben sind größer. In diesem Horizont verliert der Gedanke an meine Endlichkeit seinen Schrecken.

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