Himmel auf Erden? Zugänge zum Jenseits in Spiritualität, Rausch und Ekstase

Vielen Menschen ist die traditionelle Vorstellung vom „Himmel“ fremd geworden. Manche suchen daher neue spirituelle Zugänge zum Jenseits, etwa in der Ekstase oder im Rausch. Andere begegnen solchen Erfahrungen skeptisch. Kann, wer high ist, auch dem Himmel näher sein?

„Oh mein Gott, dieser Himmel! Wie komm‘ ich da bloß rein? Oh mein Gott, dieser Himmel! Wo zur Hölle soll der sein?“ Der deutsche Rapper Marteria sucht in seinem 2013 veröffentlichten Song OMG! verzweifelt nach dem Himmel. Er sehnt sich nach dem Jenseits. Der „Himmel“ ist für ihn dabei eine Größe „da oben“, die er zunächst durch traditionelle religiöse Praktiken zu erreichen hofft: Doch weder gelingt es ihm zu beten, noch irgendwelche Zeichen zu erkennen. Er findet „keine Ruh“ und „jeder Beichtstuhl ist belegt“. Seine Suche nach dem Himmel endet schließlich in den Armen der Frau, die er liebt. So kann Marteria am Ende seine bohrende Frage nach dem Himmel beantworten: „Oh mein Gott, bin im Himmel! Sie macht mich einfach nur high.“

Das Jenseits im Hier und Jetzt erfahren

Dieses Beispiel aus der Gegenwartskultur wirft einige Schlaglichter auf das Thema „Jenseits“, von dem uns hier zwei grundverschiedene Vorstellungen begegnen. Zum einen ist der Himmel „da oben“, den der Mensch durch bestimmte religiöse Praktiken oder gutes Verhalten zu erreichen sucht: „Will da oben rein, mal sehn’ wie ich’s mach – Ich will ja gut sein, auch wenn’s nicht immer klappt.“ Nachdem diese Wege zum Himmel „da oben“ offenbar nicht weiterführen, erfährt Marteria den Himmel plötzlich überraschend nah: in einer menschlichen Beziehung, in der Liebe und der körperlichen Nähe zu einer Frau. Diese Erfahrung des „Himmels auf Erden“ hat sexuelle Konnotationen und offenbar auch rauschhafte Züge: In den Armen der Frau zu liegen, macht ihn „high“ – ein Begriff, der üblicherweise den Zustand eines Menschen beschreibt, der berauschende Substanzen zu sich genommen hat.

Auf der einen Seite ist das Jenseits Gegenstand von Hoffnungen, die auf die Zukunft, auf das Leben nach dem Tod gerichtet sind: Gläubige erhoffen sich, im ewigen Leben Gott nahe zu sein – symbolisch gesprochen „in den Himmel zu kommen“. Der einflussreiche Kirchenvater Augustinus beispielsweise verstand die Existenz der Gläubigen hier auf der Erde als eine Pilgerreise: Sie pilgern durch die Wirrungen und Drangsale der Welt hindurch auf das Ziel der ewigen Seligkeit hin.

Auf der anderen Seite gab und gibt es immer wieder Menschen, die Jenseitserfahrungen im Diesseits, also im Hier und Jetzt machen. Diese Erfahrungen sind höchst unterschiedlich und immer auch von der jeweiligen Kultur, religiösen Prägung und Sozialisation desjenigen bestimmt, der sie macht: Die eine erlebt eine religiöse Verzückung in einem charismatischen Gottesdienst, der andere ist von einer Bach-Kantate ergriffen, die Nächste erreicht einen tranceähnlichen Zustand durch bestimmte Meditationstechniken.

Ekstase und Rausch als Zugang zum Jenseits?

Obwohl sich solche individuellen Erfahrungen schwer verallgemeinern lassen, gibt es doch gewisse Übereinstimmungen: Es sind Momente eines besonderen psychischen Zustands, in denen Menschen „außer sich“ geraten. Sie fühlen sich den Grenzen ihres eigenen Ichs sowie den Grenzen von Raum und Zeit enthoben. Sie spüren, dass sie von einer größeren Wirklichkeit durchdrungen sind. Mit dem aus dem Altgriechischen stammenden Begriff Ekstase = Außer-sich-geraten hat man versucht, diese äußerst vielgestaltigen Erfahrungen zusammenzufassen. Die fortschreitende Distanzierung vieler Menschen von christlichen Glaubensinhalten und traditioneller kirchlicher Glaubenspraxis sowie der zunehmende Einfluss anderer Religionen und Kulturen tragen dazu bei, dass sich solche Erfahrungen in der Spätmoderne noch weiter ausdifferenzieren und individualisieren. Gerade im bunten Feld der Spiritualität tummeln sich die verschiedensten Kombinationen: vom christlichen Yoga bis zum „christlichen Waldbaden mit Gott“. Es findet sich kaum etwas, das es nicht gibt.

Den Grenzen des eigenen Ichs sowie den Grenzen von Raum und Zeit enthoben.

Zugleich führt nicht jede Form von Ekstase notwendigerweise zu einer Jenseitserfahrung. Denken wir etwa an den „Flow“, den Menschen in einer intensiven Arbeitsphase, beim Musizieren, Malen oder Sport erleben können. Sie verlieren dabei das Bewusstsein für die Zeit; alles andere tritt in den Hintergrund. Offenbar mühelos können sie sich so auf das konzentrieren, was sie gerade tun. Sicherlich können Menschen solche Momente der Ekstase dahingehend deuten, dass sie das Jenseits erfahren haben, und dies auch mit ihren jeweiligen religiösen Vorstellungen in Verbindung bringen.  Abgesehen davon lassen sich für den „Flow“ aber auch hinreichende physiologische und psychologische Erklärungen anführen, die es im Übrigen auch für weitere Formen der Ekstase sowie die sogenannten Nahtoderfahrungen gibt. Ähnliches gilt für Rauschzustände, die durch die Einnahme von psychotropen Substanzen hervorgerufen werden. In manchen Religionen werden solche Substanzen genutzt. Jedoch standen sowohl das Alte Israel als auch das Christentum solchen Zugängen zu Gott und dem Jenseits durch Rauschmittel ablehnend gegenüber. Auch heute muss kritisch hinterfragt werden, ob solche „Bewusstseinserweiterungen“ tatsächlich zu höheren Einsichten führen – oder ob es sich schlicht um Sinnestäuschungen handelt.

Abschied von traditionellen Himmel-Vorstellungen

Erfahrungen vom „Himmel auf Erden“ sind heute vielen Menschen näher als traditionelle Vorstellungen eines fernen, erst nach dem Tod und nur unter bestimmten Voraussetzungen erreichbaren „Himmels“. Das dreistufige mythische Weltbild von Himmel, Erde und Unterwelt gilt für die allermeisten als abgelöst durch das naturwissenschaftliche Weltbild. Allenfalls in symbolischer Weise ist noch vom „Himmel“ oder von der „Hölle“ die Rede. Das Eingangsbeispiel von Marteria, der den Himmel „da oben“ nicht erreichen kann und den Himmel stattdessen in einer existenziellen Lebenserfahrung findet, ist durchaus bezeichnend für spätmoderne Religiosität.

Bereits seit Jahrzehnten zeigen empirische Studien: Selbst unter denjenigen Menschen, die an einen Gott glauben, ist der Großteil davon überzeugt, dass Gott nicht „im Himmel“, sondern „auf der Erde“ bzw. „im Menschen“ und „zwischen den Menschen“ existiert (vgl. Klaus-Peter Jörns: Die neuen Gesichter Gottes. Was die Menschen heute wirklich glauben. München 1997, S. 80-87). Auch theologisch wäre es höchst fragwürdig, würde man den Wohnort eines allmächtigen und allgegenwärtigen Gottes auf die Himmelsatmosphäre des kleinen blauen Planeten Erde begrenzen. Wissen wir doch längst von der nahezu unendlichen Ausdehnung unseres Universums.

Mystik: Das Reich Gottes in uns Menschen

Im Christentum hat es immer wieder Menschen gegeben, die ihre ekstatischen Erlebnisse als einen Zugang zum Jenseits erfahren und gedeutet haben. Diese Christinnen und Christen hat man als Mystiker bezeichnet. Die scharfe Trennung zwischen einem himmlischen Reich und einer irdischen Welt existierte für sie nicht, sie erfuhren das „Reich Gottes“ und die Nähe Gottes unmittelbar in diesem Leben. Sowohl die Lehren und Äußerungen von Mystikern als auch die Formen ihrer Frömmigkeit standen dabei oft in einer Spannung zu Lehren der Kirche, sodass Mystiker noch bis in die Neuzeit hinein als Häretiker verfolgt wurden (vgl. Volker Leppin: Ruhen in Gott. Geschichte der christlichen Mystik. München 2021, S. 9-22).

„Worauf es ankommt, ist, dass es in uns Reich Gottes werde.“ (A. Schweitzer)

Heute ist es dagegen salonfähig geworden, das Jenseits im Diesseits zu suchen. In den Regalen für „Religion und Spiritualität“ gängiger Buchhandlungen findet man vermehrt Bücher von und über Mystiker: Hildegard von Bingen, Elisabeth von Thüringen, Meister Eckart. Weniger bekannt ist dagegen, dass auch der Urwaldarzt Albert Schweitzer sich als Mystiker verstanden hat, und zwar als einen ethischen Mystiker. Er war fest davon überzeugt, dass sich Jesus und die frühen Christen mit ihrer Hoffnung auf ein nahe herangekommenes Himmelreich geirrt hatten. Dennoch hielt er an der bleibenden Bedeutung der Botschaft Jesu fest und deutete das Reich Gottes so: „Das, worauf es ankommt, ist, dass der Geist Jesu von uns Besitz ergreift und unser Sinnen und Denken aus dieser Welt heraushebt, dass es in uns Reich Gottes werde. Und dass wir in der Menschheit neue Zustände schaffen, die dem Geist der Liebe, wie er durch Jesus in die Welt gekommen, entsprechen. Dann ist Jesus durch seinen Geist in dieser Welt und wirkt durch ihn in uns und in der Welt.“ (A. Schweitzer 1955 in einem Brief an Erica Walch; zitiert nach: Dorothea und Werner Zager: Albert Schweitzer. Impulse für ein wahrhaftiges Christentum. Neukirchen-Vluyn 1997, S. 51).

Seien die religiösen Äußerungen Marterias in OMG! noch so indifferent, auch er findet am Ende den Himmel in der Liebe zu einem anderen Menschen. Ob er Albert Schweitzer gelesen hat? Fraglich. Aus meiner Sicht hat Schweitzer jedoch einen möglichen Weg aufgezeigt, wie heute in einer überzeugenden Weise an ein „Reich Gottes“, einen „Himmel auf Erden“ geglaubt werden und wie dieses Reich für uns zugänglich sein kann – ganz ohne Rauschmittel.

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